Empfindungspfade
Gisela Trahms
Sein Beiname ist "der Dunkle", die Überlieferungslage kann man auch "finster" nennen, was angesichts des Alters seiner Textfragmente (2500 Jahre) nicht erstaunt. Heraklit war Philosoph zu einer Zeit, da die Philosophie erst geboren wurde. Dass man ihn kennt, verdankt er jenen, die seine Kurztexte und Sprüche zitierten. Manche erhielten sich unvergessen durch die Jahrhunderte: "Alles fließt" scheint wie gemünzt auf heutige Zustände, einer ähnlichen These schenkte Goethe Metrum und Wohlklang: "Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum Zweitenmal." Die Verse stammen aus dem Gedicht "Dauer im Wechsel", einer Herrlichkeit in fünf Strophen über Vergänglichkeit und Bleibendes.
Wem Goethe zu ausführlich ist und wer die Gedanken- und Empfindungspfade, die sich aus Heraklits kargen Äußerungen ableiten lassen, lieber selbst durchs Dickicht schlägt, dem sei ein handliches, schön und sorgfältig gemachtes Taschenbuch ans Herz gelegt, das Mein Heraklit heißt. Es präsentiert seine Texte zweisprachig, griechisch und deutsch, angeordnet wie moderne Gedichte.
Die griechische Schrift ist dekorativ, einzelne Buchstaben, ob Alpha oder Pi, kennt jeder, und so schweift der Blick gern von der deutschen Fassung zur griechischen, um das ursprüngliche Wort zu erraten, ein Vergnügen nebenbei. Die deutsche Übertragung, und das macht ihren Reiz aus, besteht wie das Original nur aus wenigen Worten in Kleinschreibung, die wie Verse gesetzt sind. Beim ersten Anblick wirken sie wie Gedichte von Jan Wagner oder Doris Runge.
Ein Beispiel: "unverständige / hörende / sind wie taube // der spruch / bezeugt ihnen // anwesende abwesend". Hier wird nicht geklagt aus dem Blickwinkel dessen, der sich klug dünkt, sondern festgestellt, dass der (vielleicht) klug Sprechende für den, der das Gesagte nicht versteht, aus dem gemeinsamen Raum verschwindet. Wer trägt die Schuld? Gilt auch das Umgekehrte? Sollte der Redner seine Redeweise ändern? Hängt mein "anwesend" sein etwa nicht von mir ab, sondern von denen, die ebenfalls da sind und mir zuhören?
Ein weiteres Beispiel: "meerwasser / reinstes und abscheulichstes // fischen nämlich / trinkbar und lebenserhaltend // menschen aber / untrinkbar und tödlich". Heraklit lebte in Ephesos, damals noch an der Ägäis gelegen. Ein Küstenbewohner also, der über dem verführerischen, blau schillernden Wasser den Hohn nicht vergisst, mit dem es schiffbrüchige Seefahrer zu verspotten scheint, indem es ihren Durst nicht löscht, sondern verdoppelt.
Heraklit denkt in Gegensätzen, die immer in Bewegung sind, darin ist er uns verwandt. Das eine "Reine" kann auch das andere sein, "abscheulich", man muss es nur erkennen und erfahren. Und so anschaulich viele Exempel sind, es gibt auch Texte, die "dunkel" und rätselhaft bleiben. Gerade sie besitzen poetische Kraft, weil sie sich der rationalen Ableitung verweigern: "gegen das herz / kämpfen / ist schwer // denn was / es auch will // von der seele / erkauft es sich". Solchen Worten kann man lange nachsinnen, sie wecken Herz und Phantasie, wenn man ihre Vieldeutigkeit erträgt.
Der Schweizer Philosoph Paul Good, der lange an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrte, bekennt sich schon im Titel zum subjektiven Charakter seiner Lektüre. Er hat die Fragmente neu übersetzt und ihre poetische Einrichtung gewagt, obwohl er zu Beginn seines ausführlichen Nachworts feststellt: "Heraklitworte in Spruchform sind keine Gedichte." Aber in Analogie zu Gedichten präsentiert, zünden sie lebhafter als in fachsprachlichen Sätzen, deren Bemühen, die Deutung gleich mitzuliefern, den Reiz abschleift. Wer nicht auf Gelehrsamkeit aus ist, sondern auf lebendige Begegnung, auf Anstöße zum Nachdenken und poetische Überraschungen, wird diese Ausgabe mit Freude annehmen. |