Die Mühen der Ebene
Andreas Heckmann
Bei vielem, was als Roman firmiert, darf man guten Gewissens feststellen: Prosa ist das, aber ein Roman sicher nicht. Auch Slata Roschals 153 Formen des Nichtseins gehört in diese Reihe, ist eher Protokoll- und (Selbst)Verständigungsliteratur, die für Lesende indes bewegende Räume eröffnet. Löst man sich von der Erwartung eines Handlungs- und Spannungsbogens und nimmt den Titel ernst, kann man sich unter Schmerzen befreunden mit diesem Buch, das auch als Stationendrama der Depression und Verlorenheit firmieren könnte und damit eine weitere Erwartung mutig, ja tollkühn unterläuft: dass Bücher von nach Deutschland migrierten Menschen Ankunftsliteratur sein müssten. Denn das wäre nur ein Rückgriff auf ein allzu gängiges Narrativ.
Nein, die Ich-Erzählerin der 1992 in St. Petersburg geborenen Slata Roschal war in Russland so wenig daheim wie als Kind, als Jugendliche, als Studentin in Greifswald, ist es jetzt auch nicht in München, sie war in der Familie nicht daheim, erst recht nicht in deren Glauben (zwischen den Zeugen Jehovas und dem Judentum seltsam aufgestellt), sie war und ist es nur begrenzt in ihren Studienfächern Germanistik und Slawistik, sie ist es mühsam genug in der Dyade mit Sohn Emil, in der Triade mit Partner Artur, sie ist es nur partiell in der Sprache, denn Zweisprachigkeit ist für sie kein Tauchbecken wechselseitiger Befruchtungen, sondern fortwährendes Moment der Irritation.
Slata Roschals Erzählerin, die mit der Autorin viel gemeinsam haben dürfte, ist mit einer Unfähigkeit zum Glücklichsein geschlagen und stellt ihre permanente Unbehaustheit, ihr dauerndes Unwohlsein, die Mangelhaftigkeit der eigenen Person, der anderen, der Umgebung immer wieder dar. Aufbauend ist das nicht, auch nicht (wie vom Klappentext behauptet) "voll bissigem Humor", sondern illusionslos und niederdrückend, paradoxerweise aber darin auch befreiend. Indem Roschal scheiternde Kommunikation in der Familie beschreibt, kleine Katastrophen im Kindergarten- und Grundschulalltag des Sohns, das Leben in zu kleinen Wohnungen mit zu wenig Geld, mühsame Selbstbehauptungen in einem fremd bleibenden Land, die absurden Zumutungen unter Sektierern (schon der Einblicke in Organisation und Denkwelt der Zeugen Jehovas wegen ist das Buch lesenswert) – indem sie all das aufschreibt und nicht im Hinblick auf eine geglückte Integration harmonisierend perspektiviert, verfasst sie nicht zuletzt politische Literatur, weil sie den Mühen des Alltags eine Stimme gibt. Und Herkunft und Lebensumstände derer zu beschreiben, die nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurden, gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer auf Emanzipation zielenden Literatur.
Fragwürdig ist höchstens, dass die 153 nummerierten Bruchstücke manchmal arg nah am Tagebuch angesiedelt und darum naturgemäß redundant sind und bisweilen schlicht überflüssig (Nr. 145!). Hier wäre Raum für Kürzungen gewesen, vielleicht auf geschätzte 133 Passagen. Und es sind keine "Formen", sondern "Erfahrungen" des Nichtseins und einer Ohnmacht, die selbst dann nicht völlig schwindet, wenn die Erzählerin von München aus einen gut dotierten Literaturpreis ihrer alten Heimat Mecklenburg-Vorpommern einheimst. Spätestens da zeigt sich allerdings, dass es auch Slata Roschals offenbar immenser Ehrgeiz ist, der ihr mitunter das Leben vergällt: Sie möchte die Beste werden, behaupte ich so naiv wie ungeschützt. So unmöglich es allen Schreibenden ist, dieses Ziel zu erreichen: Slata Roschal ist auf gutem Weg dorthin. |