Am Erker 83

Katrin Bibiella, Marie-Luise Frey: Windgetragen flügelleicht

 
Rezensionen

Katrin Bibiella, Marie-Luise Frey: Windgetragen flügelleicht
 

Wenn es vor Sehlust knistert
Rolf Birkholz

Trägt der Same der Malvenblüte "nicht längst die Ahnung in sich / von rot durch­pochtem Blütenblatt?" Das kann selbst der genaueste Beobachter allenfalls erahnen. Und genau sind die Dichterin Katrin Bibiella und die Zeichnerin Marie-Lui­se Frey unbedingt. In ihrem Band Wind­getragen flügelleicht rücken sie den meist kleinen bis winzigen Pflanzensa­men ganz nahe, diesen Fortpflanzungs­körpern, diesen Hüllen mit ihrer der Aus­breitung dienenden Gewebestruktur.
"Windwanderer – / gehören sie / dem Atem der Erde / an", heißt es im eine der Ausbreitungsarten aufgreifenden Ti­telgedicht, "Häutchen nur, im Hauch zuhause". Beim Kornblumensamen sieht die Autorin "Lockende Stopfbündelhülse" und "Grannig gebürstete "Kopfbüschelga­masche". Die teils mikroskopischen Wahrnehmungen erzeugen – ein Aus­breitungsprozess der poetischen Art – immer neue Wortschöpfungen, die den Überraschungen vorm Auge exakt und angemessen spielerisch zugleich gerecht werden wollen, die vor "Sehlust" knistern.
Und Marie-Luise Frey ist mit Graphit, Kohle, Kreiden, Pigmenten und Tuschen auf Papier stets auf Augenhöhe. Schrei­ben und Zeichnen wahren korrespondie­rend ihre Eigenständigkeit. "Eine Poesie des Betrachtens, des Heranholens und Versenkens zieht sich als roter Faden" durch den Band, steht treffend im Nach­wort, das den Leser in das Spezialgebiet dieses Buches einführt.
Entführt wird er auch. Denn lesend, be­trachtend gelangt er unversehens in ein so wichtiges wie doch oft wenig beachte­tes, nur vermeintlich unscheinbares Ur-Gebiet. Wer etwa hätte je die "Ideenseel­chen" des gemeinen Helmkrauts (Scutel­laria columnea) ins Wort, ins Bild geholt gesehen? Mit Windgetragen flügelleicht ist ein nach verschiedenen Aspekten des Oberthemas bedachtsam gestaltetes, in Text und Bild gleichwertiges Werk gelun­gen, das in einem Kapitel zudem die mu­sikalische Passion der Autorin anklingen lässt.
"Es war einmal / eine kleine Sprache, / die ausflog, / nach sich zu fragen", be­ginnt ein "Märchengedicht" über die Grannen des Löwenzahns. "Und als sie beinahe alle / Worte wusste, die / es zu sagen gab über / die Erde, starb sie / in das Jüngste hinein, / das sie besaß: in / jene Zartheit / driftenden Fragens, her // von den Kleidern des Winds."

 

Katrin Bibiella, Marie-Luise Frey: Windgetragen flügelleicht. Vom Wunder der Pflanzensamen. Gedichte und Zeichnungen. 204 Seiten. Athena. Oberhausen 2022. € 29,90.