Das schneebedeckte Land in dir
Rolf Birkholz
Fragen nach dem Du und dem Wozu des Lebens bestimmen Wolfgang Schulz' Gedichte, die in beiderlei Wortsinn Ergebnis von Sammlung sind. Im "Prolog" heißt es: "und dachte winters mich mit Schnee zu kleiden,/ damit dies Fühlen, Denken endlich eingefroren/ und alles Regen und Bewegen zielverloren/ zur Ruhe pendelt, somit keins von beiden// mich abneigt zu des Leides Glück, des Glückes Leid."
In diesen fünf von 14 Zeilen des Gedichts (eines von etlichen Sonetten englischer Art) ist vieles enthalten, was auch die anderen Texte des von Jutta Eusterhus mit feinen Collagen bebilderten Bandes Eisblumen – Schnee prägt: das leise klagend, das sagend ertragene Wissen um die Ambivalenz des Daseins, des Paares Glück und Leid, die Sehnsucht nach dem beruhigenden Mantel aus Schnee, eine gedanklich klirrend und dabei wärmend formsicher formulierte Kühle.
Der Autor, ein Arzt und Sinologe, macht sich keine Illusionen über den Zustand des Menschen. Die leidensgefärbte Tonlage des Andreas Gryphius, des Barockdichters der Vergänglichkeit, den er "den Lehrer" nennt, klingt in zahlreichen Versen an, das Widmungsgedicht endet mit den Zeilen: "Des Menschen hypertrophe Dummheit, die die Gier gebiert,/ zu kühlen wär ein Frost, der Mensch und Gier gefriert."
Mit durch chinesische Philosophie geschultem Blick, zudem Benn und Brecht, Heine und Hölderlin verehrend, variiert Schulz immer wieder Bilder von Schnee und ein- oder zugefrorener Zeit, "Die Zeit und der Schnee gedulden mich, kühlen" ("Der Versuch mich zu trösten"). Oft ist das sehnende, liebende lyrische Ich auf ein Du gerichtet und weiß doch um die letzte Unerreichbarkeit: "Kennst du das schneebedeckte Land in dir,/ das nie ein anderer mit dir teilen wird?"
"Der Lebens Matrix hält, bewegt,/ sie öffnet, schließt uns, tötend lebt", schließt "Das Gegenwärtige". Als Glied im Kreislauf der Vergänglichkeit mag das einzelne Leben gleichwohl nicht ganz vergeblich sein, hält es doch wenigstens jenen in Gang. Und der Dichter selbst gibt einen wenngleich wiederum zweischneidigen Hinweis: "So flieh ich über selbsterzählte Brücken .../ Wohin? Wohin? Wie kann das Leben glücken?" Des Autors Selbstgedichtetes jedenfalls trägt. Das Debüt des 70-Jährigen ist so von dem weißen und von weisem Stoff erfüllt, als wäre es ein lyrisches Pendant zu Orhan Pamuks großem Roman Schnee. |