Auf gemeinsamer Reise allein
Stefan Heuer
Ein sich über mehrere Gasträume
erstreckendes Restaurant, eine Kneipe vielleicht: Ein Mann
kommt herein, setzt sich an einen Tisch und gibt seine
Bestellung auf. Er sitzt da, beobachtet eine korpulente
Frau am Nebentisch und zwei weitere Frauen, von denen die
eine ihrem Tabakkonsum frönt - alles könnte
so "normal" sein, säße dem Mann nicht
urplötzlich ein Fremder mit halb leergegessenem Teller
gegenüber. Bald darauf verschwindet der Fremde wieder,
durch ein Fenster der Lokalität ist zu beobachten,
dass er auf der anderen Straßenseite an einer Reihe
geparkter Autos vorbeigeht.
Soweit die erste von vier Erzählungen, aus denen Dominic
Angelochs im Berliner Verlagshaus J. Frank erschienener
Roman Blinder Passagier besteht. Viel scheint
noch nicht passiert zu sein, doch das ändert sich
schnell. Der Übergang zur zweiten, "Chimären" betitelten
Erzählung, erscheint angesichts der Ankündigung
im Pressetext, die einzelnen Teile des Buches seien scheinbar
disparat und nur schwerlich zu verbinden, geradezu geschmeidig.
Der Fremde, inzwischen mit dem Namen Victor Cramer versehen,
wird in einen der am Straßenrand stehenden Wagen
gezogen, gekidnappt im Grunde, was ihn jedoch durch eine
Injektion herzlich wenig zu interessieren bzw. zu ängstigen
scheint, denn seine Gedanken drehen sich um Straßenführung
und wässriges Bier. So seltsam er in den Wagen gekommen
war, verlässt er ihn auch wieder und checkt in einem
billigen Hotel ein, das sich in erster Linie durch einen
in seiner Optik eingeschränkten Portier sowie einen
offensichtlich schwachsinnigen Pagen auszeichnet. Wie lange
er dort zu bleiben gedenkt, lässt er zunächst
offen.
In der dritten Erzählung erfährt Cramer die Fortsetzung
seiner Odyssee und der Leser den eigentlichen Grund seiner
Reise: ein Versöhnungsurlaub mit seiner Ehefrau, Ziel
ist eine (kanarische?) Insel. Dort angekommen, fährt
Cramer in das verabredete Bergdorf, in dem er sich mit
seiner Frau Marie, die, statt die Fähre zu nehmen,
lieber fliegen wollte, treffen will, und mietet sich dort
ein. Doch seine Frau kommt nicht, Tag um Tag wartet er,
vertreibt sich die Zeit mit Spaziergängen. Versetzt,
möchte man denken, wäre ja nicht das erste Mal,
dass jemand nicht zu einer Verabredung erscheint, doch
an dieser Stelle macht der 1979 in Stuttgart geborene Dominic
Angeloch die Verwirrung perfekt, lässt die Erzählperspektive
auf die Frau überspringen und diese glaubwürdig
erklären, dass sie schon vor ihrem Mann auf der Insel
gewesen sei, dass sie die gesamten Tage direkt in seiner
Nähe gewesen sei, dass er sie jedoch nicht wahrgenommen
habe, als sie ihn am Fährhafen in Empfang hatte nehmen
wollen, dass er die gesamte Zeit keinerlei Notiz von ihr
genommen habe - nur ab und zu, wenn sie in purer
Verzweifelung seinen Namen geschrien habe, habe sie das
Gefühl gehabt, er hätte ihre Anwesenheit bemerkt.
Im vierten und letzten Kapitel, den "Aufzeichnungen
aus einer verlassenen Wohnung", erfährt die Verwirrung
in gewissem Maße Aufklärung. Doch auch hier
bleibt einiges unbestimmt, bleibt das Ungesagte nahezu
so bedeutend wie das Geschriebene, bleiben verschiedene
Möglichkeiten der Deutung bestehen - nichts
für Freunde des gepflegten Arztromans, an dessen Ende
alle lachen und sich glücklich in den Armen liegen
und ein denkender Leser nicht unbedingt erforderlich scheint.
Beeindruckend atmosphärisch und dicht ist die Story,
die in ihrer Schilderung von seelischer Verwirrtheit und
südländischer Exotik an einigen Stellen an Camus' Der
Fremde erinnert. Für den Leser jedoch mindestens
ebenso erfreulich: die Sprache, mit der Angeloch Cramers
Erlebnisse und seine an vielen Stellen merkwürdige
Umgebung schildert – eine sehr poetische Sprache,
unaufgeregt, versehen mit einem nahezu zärtlichen
Unterton, der ab und zu den Schimmer einer okkulten Gewalt
durchscheinen lässt.
Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei Blinder
Passagier um einen exzellent gewählten Titel.
Den Begriff verbindet man für gewöhnlich mit
der Absicht einer Flucht; in einem Frachtcontainer über
die Grenze, im Lieferwagen der Wäscherei aus dem Gefängnis.
Dabei handelt es sich zumeist um einen körperlichen
Vorgang, der eine Person von A nach B bringen soll. In
diesem Buch erhält der Begriff eine neue, ausgesprochen
seelische und nur beschränkt körperliche, sehr
eigenständige Deutung. Wie in der gängigen und
gebräuchlichen Definition geht es auch hier darum,
von A nach B zu kommen, nur ist B in diesem Fall kein gelobtes
Land, das Freiheit oder Arbeit verspricht, findet die Reise
hier zu einem großen Teil im Kopf statt, nicht in
einem Frachtcontainer. Dies mag auf den ersten Blick weniger
bedrohlich wirken, jedoch unterliegt Cramer psychischen
Qualen der Extraklasse: was kann für einen blinden
Passagier schlimmer sein, als ziellos umherzuirren, in
bezug auf die Zukunft im Ungewissen gelassen zu werden,
sich auf einer Versöhnungsreise einsam wiederzufinden?
Angeloch schafft es, den Leser trotz skurril anmutender
Szenarien in der Thematik zu halten, die Situation eines
Blinden Passagiers auszuloten und zu dokumentieren. |