Porträt einer Tapferen
Volker Kaminski
Der Ort: "irgendwo in Afghanistan oder anderswo".
Das Setting: ein kleines Zimmer, eine Schwarzweißfotografie
an der Wand, am Boden eine Matratze. Darauf ein regloser
Mann, der durch Kriegsverletzungen gelähmt ist und
durch einen Infusionsschlauch künstlich ernährt
werden muss. Neben ihm eine Frau, die seine Hand hält
und tief versunken die Perlen ihrer Gebetskette abzählt.
Die Frau fleht zu Allah, er möge ihren Mann gesund
machen, damit er zu ihr und den zwei kleinen Töchtern
zurückkehrt. Sie versorgt ihn Tag und Nacht, wechselt
den Infusionsschlauch, leidet Hunger und muss dabei die
Gefahren ertragen, die von sporadisch aufflammenden Kriegshandlungen
in ihrer direkten Umgebung ausgehen. Nichts kann sie von
der Stelle am Bett ihres Mannes vertreiben. Und doch ist "die
Frau", die im Roman ebenso namenlos bleibt wie "der
Mann" und andere Figuren, alles andere als hilflos
ihrem Schicksal ergeben. Sie beweist im Gegenteil eine
erstaunliche Kraft, die es ihr ermöglicht, ihr leidvolles
Leben an der Seite ihres Mannes in langen Monologen wiederzugeben
und sich immer mehr des erlittenen Unrechts bewusst zu
werden.
Atiq Rahimi, der nach zwei Romanen in persischer Sprache auf Französisch
schrieb und für Stein der Geduld 2008 den Prix Goncourt erhielt,
fasziniert den Leser durch eine glasklare Prosa, in der jedes Wort seinen
Platz hat, mit kurzen, doch symbolkräftig wirkenden Sätzen und
einem knapp umrissenen Handlungsbogen, der von Anfang bis Ende in Atem
hält. Dabei ist die reduzierte und sezierend genaue Sprache ebenso
wichtig wie der distanzierte Blick des Erzählers, der dem Geschehen
in gleichmäßiger Entfernung wie von außen folgt.
Auf dem diesjährigen Internationalen Literaturfestival in Berlin erklärte
Rahimi, dass ihm bei seiner Arbeit am Roman seine Tätigkeit als Filmregisseur
zu Hilfe kam und er sich des Filmschnitts, des bewusst gewählten Bildaufbaus
und der Konzentration auf Details bediente. Dennoch wirkt der Roman keineswegs
schematisch oder oberflächlich, was sich in erster Linie der Wirkung
der Protagonistin verdankt. In ihrer immer wieder neu ansetzenden Monolog-Tirade
wird auf drastische Weise deutlich, wie viel sie in der von Brutalität
und Verwahrlosung gezeichneten Gesellschaft erleiden muss. Nicht nur, dass
sie ihren zukünftigen Ehemann vor der Verlobung nicht kannte, sie
wurde auch mit ihm verheiratet, ohne dass er bei der Hochzeit anwesend
war; danach musste sie drei Jahre auf ihn warten, bevor er aus dem Krieg
zurückkam. In diesem Land, in dem die Männer herrschen und das
Blutvergießen an der Tagesordnung ist, haben vor allem Frauen und
Kinder sich gegen ständig drohende Misshandlungen zu wehren.
Das Besondere an der vom Autor gewählten Erzählsituation ist,
dass es der Frau durch das verletzungsbedingte Schweigen ihres Mannes schrittweise
gelingt, immer offener die Probleme ihrer Ehe auszusprechen. Sie kann sich
offenbaren und eine Art Beichte ablegen, statt nur zu beten; sie bezieht
Stellung gegen ihren Mann und findet ihn abstoßend, beschimpft ihn
als "Ungeheuer" für all das, was er ihr angetan hat. Gleichzeitig
erfährt sie eine starke Erleichterung; es gibt ihr neuen Lebensmut,
dass sie endlich "mit ihm über alles reden (kann), ohne unterbrochen
zu werden, ohne beschimpft zu werden." Der Mann, der stumm daliegt
und nur atmet, ist für sie mehr als "eine lebendige Leiche",
dessen Rückkehr ins Leben mehr als fraglich scheint; er verwandelt
sich zu einer Art heiligem Talisman, zum "Stein der Geduld",
dem sie alles anvertrauen kann, der alles aufsaugt, alle Schmerzen, Unglück
und Leid, "bis er eines schönen Tages explodiert."
Der Roman, in dem durch verschiedene Nebenstränge auch auf die bürgerkriegsartige
Situation während der Herrschaft der Taliban ein Schlaglicht geworfen
wird, vermag auf seine diskrete Weise vom Schicksal der Frauen in hoffnungsloser
Trostlosigkeit und unwürdiger Unterdrückung zu erzählen.
Es werden dabei durchaus auch Zwischentöne hörbar, und neben
der Mehrzahl an negativen (Männer-)Figuren gibt es einige, die zu
Verbündeten der Frau werden: der Vater des Mannes, der den Krieg verabscheut;
ihre Tante, eine von der Gesellschaft verstoßende Frau; ein junger,
schüchterner Soldat, dem die Frau, um zu überleben, vorspielt,
sie sei eine Prostituierte. Doch die Spannung resultiert vor allem aus
der ungeklärten Situation am Lager ihres halbtoten Ehemannes, dem
sie mehr und mehr ihre verborgenen Gedanken und intimsten Geheimnisse anvertraut,
während sie weiter für ihn sorgt. Am Ende kommt es – unerwartet – zur
Katastrophe, doch diese sei hier nicht verraten.
Rahimi, der an der Universität in Kabul lehrt und gerade ein Schriftstellerzentrum
sowie einen Verlag aufbaut, gelingt es mit seinem brillant geschriebenen
Roman, den Leser in die bestürzenden Verhältnisse eines von Krieg,
Grausamkeit und Unterentwicklung gezeichneten Landes hineinzuziehen. Man
folgt dem Geschehen gebannt bis zum Schluss. |