Am Erker 59

Clemens Meyer: 'Gewalten'

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S. Fischer
Clemens Meyer

 
Rezensionen
Clemens Meyer: Gewalten
 

Erinnerung und Fiktion
Markus Weckesser

Als Clemens Meyer die Bühne des Literaturbetriebs betrat, gab er den wilden Mann. Kahlköpfig, voll tätowiert und mit einem Kampfhund an der Leine. Hinter dem martialischen Auftreten entpuppte sich der Autor indes als eine der großen Entdeckungen 2006. Ein genau beobachtender und im Kern eher feinfühliger Mensch. Meyers in der Vor- und Nachwendezeit angesiedelter Debütroman Als wir träumten erzählt von einer Gruppe Kleinkrimineller, die in den Vororten Leipzigs um Halt in ihrem von Gewalt durchtränkten Leben kämpfen. Einer der Antihelden wird wegen seiner Kampftechnik Pitbull genannt. In Meyers neuem, semibiographischen Buch Gewalten spielt diese Figur erneut eine Rolle. Wie ein Wiedergänger taucht der tote Freund in den Tagträumen des Erzählers auf, der sich an den schleichenden Krebstod des 32-Jährigen erinnert. In den elf Geschichten, die Meyer als literarisches Tagebuch des vergangenen Jahres verstanden wissen will, kommt es des Öfteren zu Überschneidungen von Realität, Erinnerung und Fiktion. Der Autor nimmt den Leser mit auf seine Ausflüge in Spielbanken, Bordelle und Fußballstadien, auf Pferderennbahnen und Rummelplätze. Diese Berichte aus der Welt des Spiels und der Jagd nach dem flatterhaften Glück gehören in ihrer Unmittelbarkeit und Wirklichkeitsnähe zu den besten Geschichten. Zuweilen wagt sich Clemens Meyer an Themen, von denen andere Autoren lieber die Finger lassen. Etwa in "Der Fall M", einer experimentellen Annäherung an einen pädophilen Verbrecher. Der Erzähler versucht in einen Dialog mit dem Täter zu treten, in dem er eigene sexuelle Erfahrungen einbringt und die Hysterie der medialisierten Öffentlichkeit beschreibt. Immer wieder ringt er, Formen der Gewalt unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven zu verstehen. In "German Amok" versetzt sich der Erzähler in die Rolle eines PC-Spielers, der einen Amoklauf simuliert. "Ich hätte ins Profil gepasst", bekennt der Computerfreund. "Die dich am meisten fertig gemacht haben, die auch nicht einen Hauch von deiner Stimmungslage kapiert haben, sind nun mal in der Schule." Der Spaß am Spiel wird gerechtfertigt, nicht aber der Amoklauf in Winnenden. Kokettierte Clemens Meyer vor vier Jahren noch mit dem Charme des Ungebildeten, so gewährt er nun Einblick in seinen persönlichen Film- und Literaturkosmos, der bevölkert ist von Leuten wie Sam Peckinpah, John Woo und Michael Cimino, Jack London, Ernest Hemingway und Stanislaw Lem. Mit seinem neuen Buch ist er den Vorbildern einen kleinen Schritt nähergerückt.

 
Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch. 224 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2010. € 16,95.