Erinnerung und Fiktion
Markus Weckesser
Als Clemens Meyer die Bühne des Literaturbetriebs
betrat, gab er den wilden Mann. Kahlköpfig, voll
tätowiert und mit einem Kampfhund an der Leine. Hinter
dem martialischen Auftreten entpuppte sich der Autor indes
als eine der großen Entdeckungen 2006. Ein genau beobachtender und im Kern
eher feinfühliger Mensch. Meyers in der Vor- und
Nachwendezeit angesiedelter Debütroman Als wir
träumten erzählt von einer Gruppe Kleinkrimineller, die in den Vororten
Leipzigs um Halt in ihrem von Gewalt durchtränkten
Leben kämpfen. Einer der Antihelden wird wegen seiner
Kampftechnik Pitbull genannt. In Meyers neuem, semibiographischen
Buch Gewalten spielt diese Figur erneut eine Rolle.
Wie ein Wiedergänger taucht der tote Freund in den
Tagträumen des Erzählers auf, der sich an
den schleichenden Krebstod des 32-Jährigen erinnert.
In den elf Geschichten, die Meyer als literarisches Tagebuch
des vergangenen Jahres verstanden wissen will, kommt es
des Öfteren zu Überschneidungen von Realität,
Erinnerung und Fiktion. Der Autor nimmt den Leser mit auf
seine Ausflüge in Spielbanken, Bordelle und Fußballstadien,
auf Pferderennbahnen und Rummelplätze. Diese Berichte
aus der Welt des Spiels und der Jagd nach dem flatterhaften
Glück gehören in ihrer Unmittelbarkeit und
Wirklichkeitsnähe zu den besten Geschichten. Zuweilen
wagt sich Clemens Meyer an Themen, von denen andere Autoren
lieber die Finger lassen. Etwa in "Der Fall M",
einer experimentellen Annäherung an einen pädophilen
Verbrecher. Der Erzähler versucht in einen Dialog
mit dem Täter zu treten, in dem er eigene sexuelle
Erfahrungen einbringt und die Hysterie der medialisierten
Öffentlichkeit beschreibt. Immer wieder ringt er,
Formen der Gewalt unter Berücksichtigung unterschiedlicher
Perspektiven zu verstehen. In "German Amok" versetzt
sich der Erzähler in die Rolle eines PC-Spielers,
der einen Amoklauf simuliert. "Ich hätte ins Profil gepasst", bekennt der Computerfreund. "Die
dich am meisten fertig gemacht haben, die auch nicht einen
Hauch von deiner Stimmungslage kapiert haben, sind nun
mal in der Schule." Der Spaß am Spiel wird
gerechtfertigt, nicht aber der Amoklauf in Winnenden. Kokettierte
Clemens Meyer vor vier Jahren noch mit dem Charme des Ungebildeten,
so gewährt er nun Einblick in seinen persönlichen Film-
und Literaturkosmos, der bevölkert ist von Leuten wie
Sam Peckinpah, John Woo und Michael Cimino, Jack London,
Ernest Hemingway und Stanislaw Lem. Mit seinem neuen Buch
ist er den Vorbildern einen kleinen Schritt nähergerückt. |