Am Erker 59

Christian Bartel: 'Seit ich Tier bin'

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Muschel Verlag
Christian Bartel

 
Rezensionen
Christian Bartel: Seit ich Tier bin
 

Kein Lesebühnenscheiß
Michael Esders

Slam Poetry ist mehr Performance als Lesung. Und die "Slammer" auf der Bühne sind mindestens so sehr Darsteller wie Dichter, die ihre Texte mit allen Mitteln der Kunst, aber auch des Klamauks in Szene setzen. Die Wettbewerbssituation und ein Publikum, das gnadenlos auf Entertainment aus ist, nötigen zum Gag-Staccato. Literaturpuristen rümpfen die Nase, weil der Plot nicht selten nur noch Vorwand für den nächsten Kalauer ist. Dass beim Slam erprobte Texte indes durchaus auch in gedruckter Form und sogar als Buch - und zwar ohne beigelegte CD oder DVD - bestehen können, beweist Christian Bartels Prosaband Seit ich Tier bin. Bartel, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Der Exot, erzählt von ausschweifenden Orgien im Altenheim und von einem VIVA-guckenden Hermann Göring, der bei einem Rammstein-Video zu Tränen gerührt ist, von einer völlig verkorksten Geiselnahme und von Menschen, die neuerdings Tiere sind und jede Menge Papierkram erledigen müssen, um endlich ihren Antrag auf Verlängerung des Winterschlafs durchzubringen. Bartel liebt das Abgründige, Groteske, seine Komik ist derb, zuweilen brachial. Kostprobe: Bei Theo, Außendienstmitarbeiter einer Firma für Fertigbackwaren und Protagonist der Story "Kurt", haust seit seiner Kindheit ein Monster im Kleiderschrank: "Etwas, das Hieronymus Bosch und Jim Henson nach einer gemeinsam durchzechten Nacht aus ihrem Erbrochenen geformt haben könnten." Bartels Geschichten haben die erforderliche Pointendichte, aber unter der konsumierbaren Oberfläche sind sie mehr als nur eine besonders schräge Spielart der Comedy. Der Witz der Texte ist vielschichtig und äußerst anspielungsreich. Und er ist mit Verzweiflung grundiert. An einer Stelle nimmt der Autor seine literarischen Ambitionen und seine Komplexe aufs Korn. In "Deus ex Lesebühnenscheiß" schreibt Bartel seinen eigenen Wikipedia-Eintrag. Kurzerhand macht er sich selbst zum Autor von Moby Dick, weil er endlich wissen möchte, "wie sich das anfühlt, wenn man richtige Literatur geschrieben hat und nicht nur so Lesebühnenscheiß." Bartel schreibt sich in einen Rausch hinein, sein eigener Eintrag wächst und wächst und ist irgendwann doppelt so lang wie die Artikel über Martin Walser und Grass zusammen. Erst das Telefon weckt ihn aus seinem Schöpfertraum. Umberto Eco lässt fragen, ob er zum Tee vorbeikommen darf, denn er hat ein paar Fragen zu Thomas von Aquin. Es stellt sich heraus, dass die Welt exakt so ist, wie sie bei Wikipedia beschrieben wird. Die Schonungslosigkeit dieser Selbstparodie macht den Autor sympathisch. Aber sie erstaunt auch, zumal viele dieser Texte sehr gut abseits der Lesebühne funktionieren. Vielleicht, wer weiß, legt dieser schmale Band ja die Grundlage für einen "richtigen", nicht nur imaginierten Wikipedia-Artikel ...

 
Christian Bartel: Seit ich Tier bin. Satirische Erzählungen. 177 Seiten. Muschel. Köln 2008. € 9,90.