Kein Lesebühnenscheiß
Michael Esders
Slam Poetry ist mehr Performance als Lesung.
Und die "Slammer" auf der Bühne sind mindestens so sehr Darsteller wie Dichter,
die ihre Texte mit allen Mitteln der Kunst, aber auch des
Klamauks in Szene setzen. Die Wettbewerbssituation und
ein Publikum, das gnadenlos auf Entertainment aus ist,
nötigen zum Gag-Staccato. Literaturpuristen rümpfen die
Nase, weil der Plot nicht selten nur noch Vorwand für
den nächsten Kalauer ist. Dass beim Slam erprobte Texte
indes durchaus auch in gedruckter Form und sogar als Buch - und
zwar ohne beigelegte CD oder DVD - bestehen können,
beweist Christian Bartels Prosaband Seit ich Tier bin.
Bartel, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Der
Exot, erzählt von ausschweifenden Orgien im Altenheim und von
einem VIVA-guckenden Hermann Göring, der bei einem Rammstein-Video zu Tränen
gerührt ist, von einer völlig verkorksten Geiselnahme
und von Menschen, die neuerdings Tiere sind und jede
Menge Papierkram erledigen müssen, um endlich ihren Antrag
auf Verlängerung des Winterschlafs durchzubringen. Bartel
liebt das Abgründige, Groteske, seine Komik ist derb,
zuweilen brachial. Kostprobe: Bei Theo, Außendienstmitarbeiter
einer Firma für Fertigbackwaren und Protagonist der Story "Kurt",
haust seit seiner Kindheit ein Monster im Kleiderschrank: "Etwas,
das Hieronymus Bosch und Jim Henson nach einer gemeinsam
durchzechten Nacht aus ihrem Erbrochenen geformt haben
könnten." Bartels Geschichten haben die erforderliche
Pointendichte, aber unter der konsumierbaren Oberfläche
sind sie mehr als nur eine besonders schräge Spielart
der Comedy. Der Witz der Texte ist vielschichtig und äußerst
anspielungsreich. Und er ist mit Verzweiflung grundiert.
An einer Stelle nimmt der Autor seine literarischen Ambitionen
und seine Komplexe aufs Korn. In "Deus ex Lesebühnenscheiß" schreibt Bartel seinen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Kurzerhand macht er sich selbst zum Autor von Moby Dick,
weil er endlich wissen möchte, "wie sich das anfühlt,
wenn man richtige Literatur geschrieben hat und nicht nur
so Lesebühnenscheiß." Bartel schreibt sich
in einen Rausch hinein, sein eigener Eintrag wächst und
wächst und ist irgendwann doppelt so lang wie die Artikel
über Martin Walser und Grass zusammen. Erst das Telefon
weckt ihn aus seinem Schöpfertraum. Umberto Eco lässt
fragen, ob er zum Tee vorbeikommen darf, denn er hat ein
paar Fragen zu Thomas von Aquin. Es stellt sich heraus,
dass die Welt exakt so ist, wie sie bei Wikipedia beschrieben
wird. Die Schonungslosigkeit dieser Selbstparodie macht
den Autor sympathisch. Aber sie erstaunt auch, zumal viele
dieser Texte sehr gut abseits der Lesebühne funktionieren.
Vielleicht, wer weiß, legt dieser schmale Band ja
die Grundlage für einen "richtigen", nicht
nur imaginierten Wikipedia-Artikel ... |