Am Erker 59

Wolfgang Louis: 'Die zerbrochenen Engel'

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fhl Verlag
Wolfgang Louis

 
Rezensionen
Wolfgang Louis: Die zerbrochenen Engel
 

Schräge Vögel
Andreas Reikowski

Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie dieser Packen von 26 Geschichten seine Runde durch die Lektorate gedreht hat. Wie schon bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses das große Stirnrunzeln einsetzte, etwa bei Titeln wie "Der Harem des Harran-Al-Mera" oder "Die Mau-Mau-WM". Und wie schon beim jeweils ersten Satz das große Kopfschütteln kam:
"Alois Steiger, Schlosser von Beruf - wenn auch nur mehr privat mit diesem Metier beschäftigt - hatte auf der Dachterrasse seiner Wohnung, die sich im achten Stock eines Mietshauses befand, ein Gerät so groß wie eine Anrichte hergestellt und aufgebaut, dessen Zweck sich auf Anhieb nur schwer hätte erraten lassen, vage an eine Folterbank, einen Operationstisch erinnerte, tatsächlich aber dazu dienen sollte, ihn selbst, den Konstrukteur und Erbauer, zu einem vorgegebenen Zeitpunkt in den Himmel zu katapultieren." ("Höhere Sphären")
"An meinem achtzehnten Geburtstag trug mein Vater seinen Schemel in den Korridor, stellte sich darauf und schlug, gleich der Tür zu seinem Arbeitszimmer gegenüber, einen Nagel in die ansonsten völlig leere Wand." ("Der Nagel")
"Eine Zeitlang hatte ich den Eindruck, es sei meine Frau, die mich am Nachdenken hindere." ("Temperaturen einer Ehe")
Doch der kleine fhl-Verlag in Leipzig hat Ja gesagt, als der Packen kam, Ja zu der eigenartigen, irren Welt, in der die Helden Wolfgang Louis' ihr Dasein fristen bzw. beenden müssen. Und es gehört verlegerischer Mut dazu, einem Mittvierziger und seinen Erzählungen die Tür zu einem Literaturbetrieb zu öffnen, in dem man "eigentlich" als Jüngling mit einem "authentischen" Roman zu debütieren hat. In dem Erzählungsband Die zerbrochenen Engel gibt es hingegen zu entdecken: einen jederzeit griffbereiten, reichen Wortschatz, eine geschliffene, aber nicht überbordende Sprache und einen unglaublichen Einfallsreichtum, der jedoch an keiner Stelle "gewollt" oder gar "künstlich" wirkt. All das macht die Lektüre zu einem Vergnügen, das man sich allerdings einteilen muss, wenn man möglichst lange davon zehren möchte. Louis beschreibt durchweg schräge Vögel mit einem mehr oder weniger großen Knall in der Birne, und er tut dies selten ohne Hinterlist: Was in einem wie selbstverständlichen und teilnehmenden Plauderton beginnt, bleibt lange stur im "Realen" - kippt jedoch irgendwann in einen bis dahin vom Leser unbemerkten, vom Autor aber längst ausgehobenen Abgrund. Weil Louis dabei stets die Contenance bewahrt und nie etwa sadistisch wird, schildert er die absonderlichsten Schicksale und Berufsalltage unter Berücksichtigung auch höchster Ansprüche an literarische Unterhaltung: Man hört eine feine, zivilisierte Stimme - und liest aberwitzige Miniaturen.
Es fällt schwer, für die Texte Vorbilder zu finden und Einflüsse auszumachen, auch nur Ähnlichkeiten festzustellen. Sie "wollen" oftmals nichts, sie spielen in ihrer eigenen Zeit, sie enden offen, sie sind eben wie ein Kunstwerk, das einfach sagt: Ich bin da. Es gilt, einem Erzähler zuzuhören, dessen diskreter Stil in Jahrzehnten der Isolation zu etwas ganz Eigenem gereift ist.
Wolfgang Louis weiß, wovon er spricht; sein bunter Lebenslauf hat ihn herumgebracht im Land, und er ist ihm in den unterschiedlichsten Jobs und an den absonderlichsten Orten mit offenen Augen und wachen Sinnen gefolgt. Das erzeugt eine Liebe zum Detail, zum Fachausdruck, zur präzisen Beobachtung, und all das ist in jeder Geschichte zu spüren, es zeichnet sie aus: Genau das allerdings macht sie für manche Verlage so unerträglich anders - und für anspruchsvolle Leser so unvergleichlich gut. Ihre volle Wirkung entfalten sie, wenn der Autor sie vorträgt; er gehört zu den Wenigen, die das wirklich können.

 
Wolfgang Louis: Die zerbrochenen Engel. Erzählungen. 234 Seiten. fhl. Leipzig 2010. € 19,95.