Verdrängtes Alltagsleben unter Hitler
Gernot Wolz
Vor über einem Vierteljahrhundert
veröffentlichte
der Regensburger Germanist und Lyriker Hans Dieter Schäfer
seine damals großes Aufsehen erregende Studie über
die Alltagskultur im Nationalsozialismus. Jetzt ist Das
gespaltene Bewußtsein, erweitert um zwei Drittel
zusätzlicher Texte, neu erschienen. Hinzugekommen
ist u. a. ein Bericht über Berlin im Bombenkrieg,
der sowohl die Versteppung der Reichshauptstadt wie die
Auflösung jeglicher Moral durch Prostitution, Kriminalität
und Schleichhandel dokumentiert. Einen weiteren Höhepunkt
bildet die Darstellung des tragischen Scheiterns von
Alfred Döblin und Paul Celan, die mit Krankheit
auf die fehlende Trauer in der deutschen Nachkriegsgesellschaft
reagierten. Das Nachwort beschreibt schließlich
Ludwig Erhards Beratertätigkeit in Hitlers Kriegswirtschaft;
wie Tausende anderer unpolitischer Experten nach
dem Krieg hatte er kein schlechtes Gewissen, sich an
der wissenschaftlich organisierten Ausbeutung der eroberten
Gebiete beteiligt zu haben. Zudem kommentiert Schäfer
die aufgedeckten NS-Mitgliedschaften von Prominenten
und erläutert den Gebrauch des Begriffs "gespaltenes
Bewußtsein" durch den Altkanzler Helmut Schmidt.
So wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Dritten
Reich auch heute noch belastet ist, weil die Trauerrituale
ohne autobiographisches Gedächtnis und mit einem
Ausweichen vor jeder Spielart von Dialog inszeniert waren.
Die Veranstaltungen im Zyklus der jährlichen Gedenktage
mit ihren gebetsmühlenhaften, aber doch abstrakten
Verweisen auf die "Einzigartigkeit" und "Unvergleichlichkeit
der Verbrechen in deutschem Namen" ermöglichten
es, über die kontaminierten Lebensläufe hinwegzusehen.
Während die Hitlerzeit-Bestseller der letzten Jahre
mit gängigen monokausalen Erklärungsversuchen
aufwarteten - Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker, Götz Alys Hitlers
Volksstaat -, engt Schäfer seine Perspektive
nicht auf Antisemitismus oder die NS-Wohlfahrtsdiktatur
ein, sondern weitet sie aus auf sozial-psychologische
Konstanten wie die Mobilität des beruflichen Aufstiegs
und das moderne Mediensystem der Nazis, das durch widersprüchliche
Botschaften die Menschen um einen festen Standpunkt brachte.
Kontinuitäten werden sichtbar, gerade in ihrer Leugnung.
Wenn Hitler 1933 schon eine Stunde Null hatte, rief man
1945 von neuem eine Stunde Null aus, alles begann scheinbar
von vorne.
Für die Gespaltenheit des Alltags, die Schäfer für
das Wahndenken und das fragmentarische Bewusstsein verantwortlich
macht, sei folgende Textpassage zitiert:
"Vom 25. bis 30. September 1937 wurde [...] am Kurfürstendamm
eine Marlene-Dietrich-Woche veranstaltet. Während Mussolini
die Via triumphalis entlangfuhr, konnte man in die Welt des
Films Shanghai-Express eintreten, um anschließend
in der Femina-Bar Teddy Stauffer zu applaudieren, der mit
Swingin' for the King [...] die kriegerisch-völkischen
Absichten des Hitler-Staates verleugnete." Da die
Zensur selten auf allgemeinen Gesetzen basierte, sondern
persönliche ad-hoc-Entscheidungen waren, konnte
die englische Swing-Kapelle Jack Hylton in Berlin auf dem
Presseball spielen. Selbst "Goebbels und Göring
tanzten zu den 'negroiden Auswüchsen' der
[...] Kapelle."
Auf solch überraschende Gleichzeitigkeiten stieß Schäfer
durch minutiöses Quellenstudium. Systematisch hatte
er über ein Jahr lang das "Berliner Tageblatt" und
die "Deutsche Allgemeine Zeitung" durchgearbeitet.
Bei deren Lektüre entdeckte er eine ganz andere Welt,
die für die meisten Volksgenossen nicht so dunkel eingefärbt
war. Zwischen nationalsozialistischer Ideologie und Praxis
tat sich eine Kluft auf. Die Scheinwelten und "staatsfreien
Sphären" samt ihren ablenkenden Zerstreuungswerten
bestanden bis Kriegsende fort, täuschten über die
reale Lage hinweg: Obwohl die Russen im Februar 1945 schon
an der Oder standen, fanden noch Fußballspiele und
Modenschauen statt. Die Deutschen stahlen sich nach dem Krieg
aus der Verantwortung, indem sie das ganze Dritte Reich zu
einem gigantischen KZ für alle umstilisierten.
Als sprechendes Beispiel erweisen sich dabei die beiden Literaturnobelpreisträger
Grass und Böll. Indem Grass den Deutschen im Jahr 1989
radikal das Recht auf einen Nationalstaat absprach, vertuschte
er seine eigenen Verstrickungen in der Waffen-SS. Ebenso
gespalten war Böll. Er bastelte jahrzehntelang an seiner
Karriere als moralisches Gewissen der Nation und Pazifist.
Wie Grass jedoch hatte er bis zum Schluss den deutschen Sieg
gewünscht und erwartet. In den Briefen an die Ehefrau
und Familie sah er den Krieg als "das absolute Elend",
wollte aber an der Front den Kampf genießen: "Ich
finde [...] diese Kraft, alle Kultur und Zivilisation abzuwerfen
und ganz, ganz neu zu beginnen, hat etwas berauschend Absolutes
[...] - und es muss doch herrlich sein, in diese unendliche
Weite Russlands vorzustoßen." Dann schwärmte
er von dem "tollen Vergnügen", dass mal ein Engländer "vor
die Flinte fliegt, so richtig zum Abknallen; dann gibt es
Extraurlaub." Ihnen wie den allermeisten
Zeitgenossen war ein Denken in Zusammenhängen nicht
mehr möglich. Wahn und Wirklichkeitsverlust ließen
die Niederlage als "Zusammenbruch" erleben. Und
so bestätigen beide Autoren Schäfers zentralen
Befund: "Die Befreiung von der Hitler-Diktatur wurde seelisch nicht gewollt."
Man steht verblüfft vor der Fülle des auch mit
zahlreichen Abbildungen beglaubigten und veranschaulichten
Quellenmaterials. Die kunstvoll konzentrierte Sprache, die
klaren Analysen Schäfers führen den Leser auf
geordneten Pfaden durch den Irrgarten der Geschichte. Bücher
dieser Art erscheinen nicht alle Jahre, und wir stehen hier
dankbar vor dem Lebenswerk eines Wissenschaftlers, der immer
auch Schriftsteller ist. Es ist keine müßige Spekulation,
vielmehr Gewissheit: Generationen künftiger Forscher
wird dieses Buch einmal als Schlaglicht durch die dunkelste
Epoche Deutschlands dienen. |