Am Erker 69

Bella triste 40

Bella triste 41

die horen 257

Kultur & Gespenster 15

Neue Rundschau 126/1

Rhein! Nr. 8

Schrottland 3

Schrottland 4

Signum 16/1

 
Zeitschriftenschau 69
Andreas Heckmann
 

Allen Verschiebungen des Renteneintrittsalters und allen Vorruhestandsregelungen zum Trotz haftet der 65 weiter das Odium an, die Schwelle vom Berufsleben zum Lebensabend zu bezeichnen, um dies wenig zukunftsfreudige, aber poetische und selten gewordene Wort zu benutzen. Als fast unbekannter Schriftsteller mit über 60 der Tatsache inne zu werden, dass der erhoffte Durchbruch nicht mehr kommen wird, gehört wohl zu den Ritualen des Abschiednehmens, wie man sie in diesem Alter einmal mehr großflächig einübt. Zwei schöne Beispiele solcher Abschiede finden sich in der neuen Ausgabe der lesenswerten Dresdner Zeitschrift Signum: Martin Ahrends (*1951) äußert sich in "Füttern! Streicheln! Ausschlafen lassen!" zur "Daseinsberechtigung nahezu erfolgloser Autoren" so bitter, komisch und treffend, wie das vielleicht nur nahezu erfolglose Autoren im angehenden Rentenalter können. Und Ralph Grüneberger (auch ein 51er) schlägt mit der Satire "Der Juror" in die gleiche Kerbe. Sein erfolgloser Romancier Hellmann, der als Hausmeister immerhin mietfrei wohnt, bessert sein karges Brot als Juror eines Literaturwettbewerbs auf und muss feststellen, dass auch sein Zeitungsbote schreibt - und einen von nur zwei Romanen eingereicht hat, die ihn zu fesseln wussten. Beschämt gelingt es Hellmann, den Minijobber, den er ahnungslos zum Tee eingeladen hat, im Unklaren darüber zu lassen, dass sich zwei Gescheiterte des Literaturbetriebs gegenübersitzen.
"Ich verstehe die Welt nicht mehr, lasse sie mir aber gerne erklären" - unter diesem Titel hat Benjamin Lauterbach in BELLA triste 40 einen charmanten Essay veröffentlicht, der von seinen Versuchen handelt, leidlich einfache Antworten auf nicht sonderlich komplizierte Fragen zu bekommen, und zwar - wozu kennt man Fachleute? - von Menschen, die Ahnung von der Materie haben. Doch ach, wenn sie denn Antworten geben, ist der Fragende meist so klug wie zuvor, hat aber nicht selten das Gefühl, nun womöglich als Zecke zu gelten oder als schwieriger Charakter, denn er hat seinen Gesprächspartnern ihre kostbare Zeit geraubt oder gar die Seelenruhe.
Auch Heft 41 birgt ein Sahnestück: Veronika Reichl erzählt in "Heike", wie aus einer lebenslustigen Frau binnen weniger Jahre ein nur noch dem Abarbeiten von Alltagspflichten ergebenes Geschöpf wird. Der Tod der Mutter hat sie aus der Spur gebracht, hat Ahnen geweckt, bayrische Bauernahnen, die ihr soufflieren, dass auch Berlin sie nicht vom Hof wegführen werde und vom Landleben, zu dem sie doch gehöre. Wieder in der Großstadt, findet Heike nicht in die schöne Spur ihres urbanen Daseins zurück, sondern fällt in depressive Verdüsterung, die ihr das Leben als etwas beängstigend Zwangsläufiges, Unausweichliches zeigt, als freudlose Abfolge von Aufgaben, die nur betäuben können, woran zu denken zu schmerzlich wäre. Das seltsam Ahnenraunende des Textes erscheint als Ausgeburt einer psychischen Krankheit, deren Behandlung man Heike nur wünschen kann.
"Ghostbusters" lautet das Thema der neuen Kultur & Gespenster, doch Geister werden darin nur in dem allgemeinsten Sinne verfolgt, in dem man auch Luftschlössern und -spiegelungen nachjagen kann. Mein liebster Beitrag sind Fotos, die Hank Schmidt in der Beek in Landschaftsmalerpose vorgeblich in den bayerischen Alpen, in der Bretagne und in Claude Monets Garten in Giverny zeigen. "Im Winter nämlich tu ich dichten / Und im Sommer tu ich mal'n" - unter diesem, Spitzweg verpflichteten Motto hat er sich mit der Staffelei ins Grüne begeben. Was er dort allerdings treibt, hat mit Pleinairmalerei nur insofern zu tun, als der Farbauftrag unter freiem Himmel stattfindet. Die Arbeit am Kunstwerk indes zeigt den Maler in quergestreiftem Pulli oder Shirt dabei, sein aktuelles Oberbekleidungsmuster auf die Leinwand zu bannen. Bilder wie "Am Walchensee, Bayern" verdoppeln so nur, was der Künstler beim Malen trägt, während die teils unscharfen Fotografien mit ihren verwaschenen Farben ihn unter bleigrauem Himmel zeigen. Ein abgründiges Strickmuster, das den Maler als Ivoirien zeigt, als Nicht-Sehenden, um einen Kalauer aus Jim Jarmuschs Night on Earth unterzubringen. Dass er blind für das Draußen ist und nur die Textilmuster dupliziert, die er am Leib trägt (Allerweltsmuster, die auf großer Leinwand indes wie gestandene Werke erscheinen), spottet jeder Landschaftsmalerei, ja, der Malerei überhaupt und lässt den Maler zum Reproduzenten von Ready-mades werden: ein abgründiger Kommentar zur Produktion und Rezeption von Kunst, ein durchtriebener Scherz und eine aparte Verbeugung vor Marcel Duchamp.
"Literarische Topographien der Gegenwart" stellen die horen in ihrer 257. Ausgabe vor, und es sind die künstlichen, ganz von Menschen geschaffenen Orte, die die eindrucksvollsten Beschreibungen provozieren. Georg Klein lässt in "Globulus" eine ins Gigantische aufgeschwollene Seifenkiste samt ihrem wie eine Mumie im Gehäuse liegenden Lenker eine kurze Textebene hinab auf eine Stadt zurasen, deren Metropolis-hafte Künstlichkeit den enthusiasmierten Erzähler am Ende dazu treibt, seinen Helden nicht länger zu siezen, sondern in einem steilen Akt der Selbstbefruchtung zum Du überzugehen. Wie hier wegsackende Pedale nur eben noch mit einer letzten Anstrengung aufs Äußerste gestreckter Füße erreicht werden, ohne dass - typisch Seifenkiste - dieses Bemühen etwas bewirkt, das erinnert an Stephen Kings Friedhof der Kuscheltiere, an die Szene, in der der heranspurtende Vater die Kleidung seines der Straße mit ihren Riesenlastern entgegenlaufenden Sohns gerade noch im Hechtsprung berührt zu haben glaubt. Es liegt ein fahles, beängstigendes, von Horror kündendes Licht über "Globulus".
Auch Philipp Schönthaler entführt seine Leser in ein komplexes Kunstprodukt, in die BMW-Welt der Coop Himmelb(l)au im Münchner Norden, die längst weit mehr Besucher anzieht als die KZ-Gedenkstätte Dachau, das Deutsche Museum, Schloss Neuschwanstein oder der Tierpark Hellabrunn. In seiner kritischen Reportage mit mal dokumentarischen, mal literarischen Schlenkern und Einsprengseln durchkämmen wir eine komplett artifizielle, ganz dem Konsum von High-End-Produkten verschriebene Welt, die den Siegern im kapitalistischen Wettlauf um die Sonnenplätze des Daseins ihre Kicks bringen soll, tatsächlich aber vor allem von den (künftigen) Verlierern des Systems bevölkert wird, und das im besten Fall anarchoparasitär.
Eher zwiespältig dagegen ist der Eindruck, den David Wagners Kurzprosafolge "Hotels" hinterlässt. Vierzehn Hotelzimmer in der deutschen Provinz, in europäischen (Groß)Städten, in Kairo, Teheran und Peking werden teils in wenigen Zeilen, teils in gut halbseitigen Texten beschrieben, und wenn sich die Isolation eines Autors auf Lesereise und eine beunruhigende, Anomie beschwörende Ortlosigkeit und Anonymität auch trefflich vermitteln, haftet dem Text doch der Hautgout an, seinen Lesern zu zeigen, dass der Verfasser es in die erste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geschafft hat und als Lesegast oft entsprechend nobel an lockenden Plätzen logiert. Dass die Beschreibungen sehr evokativ sind und zwischen den Zeilen Trauer herrscht, sei unbestritten, doch Wagner scheint primär sein Angekommensein in fast großbürgerlichen Verhältnissen zu feiern.
Heft 126/1 der Neuen Rundschau widmet sich der "Gegenwartsliteratur!", und das Ausrufezeichen kündet von einer Lizenz zur Emphase: Es darf geschwärmt, mit Aplomb behauptet, polemisiert und provoziert werden, und schön ist, was etwa Moritz Baßler mit einem krachenden Martin-Mosebach-Verriss und Michael Lentz mit smarter Ror-Wolf-Panegyrik beiträgt. Mein Lieblingstext aber und ein starkes Stück so bildmächtiger wie poetologisch beschlagener, zudem musikalischer Kurzprosa ist Teresa Präauers Beitrag "Das O, das der Schönheit ein Loch reißt". Aus einigen bekannten Zitaten zum Thema Schönheit von Rilke, Klopstock, Hume, Goethe, Bachmann, aus dem Licht und dem Wasser des Zürisees, aus dem Hässlichen als notwendigem Korrektiv des Schönen, als dessen rettender Erdung, und aus einem Buchstabenkunstwerk von Luis Camnitzer, dem Satz "THIS IS A MIRROR, YOU ARE A SENTENCE FULL OF HOLES", aus diesen Ingredienzen verfertigt Präauer einen schwebenden, wie auf Zuruf improvisierten Text, wodurch eine Stelle wie diese alle Schönheit des Moments atmet: "Das ist es: das Lichtflackern der gebrochenen Wasseroberfläche des Zürichsees! Sich spiegelnd im Gesicht meiner Freundin Margaux zum Beispiel, während sie auf den Holzplanken der Badi Utoquai sitzt und die bloßen Füße baumeln lässt. Und ich sitze neben ihr, ein blödes buntes Gesicht aufgesetzt. / Starren wir Löcher in die frühsommerliche Luft? Und springen danach ins Wasser und berühren mit unseren Fingerspitzen den Grund des Sees? - / Es ist ein Augenblick, der schon wieder vergangen ist. Bis wir uns wiedersehen."
Zum Schluss möchte ich auf zwei sehr unterschiedliche Freundschaftsprojekte eingehen. Rhein!, eine "Zeitschrift für Worte, Bilder, Klang", wird halbjährlich vom "Kunstgeflecht" in Neunkirchen-Seelscheid (zwischen Köln und Bonn) herausgegeben, und viele Mitglieder dieses Kunstvereins dürften bereits ältere Semester sein. Zwar ist der Begriff Kunst spartenübergreifend gedacht, doch es wird unter hochkulturellem Vorzeichen publiziert, und es herrscht mitunter ein getragener, gar feierlicher Ton, der bekanntlich anfällig ist für unfreiwillige Komik. Dass die Stärke der Gitarre ihre Intimität sei, wird im ersten Text des aktuellen Hefts verhandelt, das gegen Ende "Kostproben der Musik Engelbert Humperdincks in Gästebüchern des Hotels Krone Assmannshausen" präsentiert. Auch ein Beitrag "Über die Rolle des Filzpuschens im Malprozess" oder eine Eloge auf den kaum bekannten ukrainischen Komponisten Viktor Kosenko (1896-1938) haben nicht zuletzt erheiternde Qualität. Vollauf überzeugen immerhin kann "Deutz, Kalker Straße 64", kurze Erinnerungsprosa, in der Mitherausgeber Kurt Roessler (*1939) vergegenwärtigt, wie sich das Straßenleben von den frühen 50ern bis Mitte der 60er Jahre verändert hat: Sein Blick vom Balkon der Elternwohnung bietet im Zeitraffer eine Sozialgeschichte der Republik in der Blüte des rheinischen Kapitalismus zu Adenauers und Erhards Zeiten und beschreibt die Verkleinbürgerlichung des Proletariats und hässliche Modernisierungen in abgeklärt strömender, den Reizen der Poesie offener Sprache. Auch ein Gedicht des jungen und frechen Salzburger Literaten Johannes Witek hat es verdientermaßen und doch überraschend ins Heft geschafft. Womöglich aber sollte man Rhein! gar nicht rezensieren, sondern als Verständigungsplattform eines feingeistigen Freundeskreises sehen, als Vereinsblatt auch, das sich mit Hochkulturellem schmückt, was nicht immer unfallfrei gelingt. So stünde Rhein! auch in der Tradition der Jahrbücher von Museums-, Geschichts- und Kulturvereinen, wie sie im 19. Jh. von stolzen Bürgern gern ins Leben gerufen wurden.
Ganz anders das Schrottland, das von einem Münchner Freundeskreis alle paar Monate auf einer günstig erworbenen Druckmaschine im Risografieverfahren hergestellt wird. Die Macher stehen der aufs Neue florierenden Do-it-yourself-Bewegung nahe, die im schicken München per se politisch ist. Nicht nur autonom Ausstellungen und Lesungen auf die Beine zu stellen und kritische Vortragsreihen zu organisieren, sondern auch die dafür nötigen Flyer und Plakate zu entwerfen und zu drucken und Beiträge zur in letzter Zeit wiederbelebten Tradition der Künstlerzeitschriften (Art-Zines) zu leisten, lässt ein Netzwerk spartenübergreifender Synergieeffekte sprießen, wobei der vielfach im Erker vertretene Thomas Glatz und die Künstlerin und Modemacherin Stephanie Müller von rag*treasure als zwei prägende Köpfe gelten dürfen. Über die Qualität der Beiträge in Schrottland 4 - "von den BesucherInnen und Mitwirkenden des KafeKunstFestes X am 22.2.15 im Kafe Kult" an einem Nachmittag erstellt, also letztlich zusammengeschustert - kann man sicher streiten (wenngleich Glatz' Museumswärtertext "Schmierwurst ist offline" eine Perle ist), doch die Idee, Konsumenten zu Produzenten, Kunstfestbesucher zu Künstlern zu machen und all das in einem Art-Zine münden zu lassen, ist trotz des durchwachsenen Ergebnisses angenehm verwegen. Schrottland 3 mit Beiträgen von Johannes Witek, Matthias Hofmann, Paula Pongratz, Achim Sauter, Gerhard Lassen, Lino Wirag, Sigi Wiedemann u.v.a. und mit der CD "ambient loop core" von Christian Nothaft indes ist ein rundum gelungenes Kunstwerk, in dem zu blättern ein Genuss und das zu besitzen eine - auf nur hundert Exemplare limitierte - Freude ist.
Wenn ich's recht bedenke, sind die Macher von Rhein! und Schrottland womöglich gar nicht so verschieden in ihrem Anliegen, die Kunst in ihren diversen Äußerungsformen möge Menschen zusammenbringen und durch Engagement verbinden, ob im Verein "Kunstgeflecht", der Lesungen, Konzerte, Ausstellungen organisiert und eine Zeitschrift herausgibt, oder in einem Freiraum wie dem "iRRland" im Münchner Westend, wo diskutiert, palavert, ausgestellt und gedruckt wird. Ein gefestigtes Bürgertum mit schon silbrigem Haar und eine mitunter noch zauselköpfige Boheme sind zwar entschieden zweierlei, und die Mitglieder beider Gruppen hätten einander vermutlich wenig zu sagen. Aber auch die Rhein!-Macher würden wohl diesem Adorno-Zitat aus "Dissonanzen - Musik in der verwalteten Welt" beipflichten, das Schrottland 3 als Motto dient: "Nie sollte Kunst Ruhe und Ordnung garantieren oder spiegeln, sondern das unter die Oberfläche Verbannte zur Erscheinung zwingen und damit der Oberfläche, dem Druck der Fassade widerstehen."

 

BELLA triste 40 und 41. Je € 5,35.

die horen 257: Literarische Topographien der Gegenwart. € 14,00.

Kultur & Gespenster 15: Ghostbusters. € 16,00.

Neue Rundschau 126/1: Gegenwartsliteratur! € 15,00.

Rhein! Nr. 8. € 15,00 für ein Jahresabo (zwei Hefte).

Schrottland 3 und 4. € 5,00 bzw. 3,00.

Signum 16/1. € 8,20.