Am Erker 68

Bella triste 39

Edit 65

Schreibheft 83

 
Zeitschriftenschau 68
Andreas Heckmann
 

Im Oktober 2013 hat Esther Kinsky die Krim besucht, und ihre Aufzeichnungen von dieser Reise - veröffentlicht im Schreibheft 83 und verfasst von einer Autorin, die auch eine großartige Übersetzerin aus dem Polnischen ist (Joanna Bator: Sandberg, Suhrkamp 2011, Bolesław Prus: Die Puppe, noch nicht erschienen) - sind von stiller, diskreter Schönheit, die fast vergessen lässt, wie mit der Krim Anfang dieses Jahres russischerseits umgesprungen wurde, denn die Landschaft und ihre Menschen und Tiere werden ohne Wortgepränge in einen Olymp versetzt, der ihnen Unantastbarkeit verleiht.
Dabei ist Kinskys literarisches Verfahren "einfach": Die Autorin kommt im Städtchen Kurortne an, öffnet die Augen und notiert, was sie sieht. Aus dem Fenster. Auf Spaziergängen im Dorf. Über Wiesen. An den Strand. Auf Fahrten mit Marschrutki, den allgegenwärtigen Sammeltaxis, die jeder Lemberg-Besucher kennt und die ihren Aktionsradius erheblich erweitern. Esther Kinsky beschreibt die Weidezüge von Pferden über Hügel, enigmatische und stille Katzenversammlungen, verwilderte Hunde, die von einer Frau mit Kantinenresten versorgt werden. Sie beschreibt die Farbe des Meeres bei verschiedenen Sonnenständen, verfallende oder nie fertig gebaute Häuser, Menschen, mit denen sie kaum redet, obwohl sie es könnte, auf Russisch oder Ukrainisch. Und Land und Leute gewinnen auf kaum fassliche Weise Kontur, Struktur und Tiefenschärfe.
Was Esther Kinsky bei diesem großen, anders als ihr Roman Am Fluß wohltuend unambitionierten Text wunderbar gelingt: die Schwebe des Beobachtens zu halten, also auf dem Drahtseil staunenden Schauens zu balancieren und weder plakativ Unbegriffenes hinzutuschen, noch das Vorgefundene mit Spekulationen und Interpretationen aufzuladen und so zu entwerten. Ihr Blick dringt tief ins Gesehene ein und erreicht dessen Rätsel und Zauber, ohne ihm Gewalt anzutun. Ein hochpoetisches Verfahren, über das sie schreibt: "Obwohl ich Lesbarkeit und Botschaften ahnte, wohin ich auch schaute, ich konnte mir keinen Reim auf diese Gegend machen. Nicht auf dieses Nebeneinander von spurenübersäten Felsen und rissigem, verworfenem Beton, auf dieses Kreuz und Quer von Rostendem in allen Größen und Formen neben pastellfarben verkleideten Heimeligkeiten, und auch nicht auf die Menschen, die spärlich die Straßen bevölkerten, wenn ich spazieren ging, auf das, was das Leben dieses Ortes ausmachte. Selbst die Tiere, die in größerer Zahl auftraten als die Menschen und denen die geschichtenlosen Bedürfnisse an Gesicht, Bewegung und Lauten abzulesen waren, spannen in ihren leisen Streifzügen Fäden, die ein rätselhaftes Muster ergaben."
Doch kehren wir von der Krim und aus poetischen Sphären in die deutsche Hauptstadt zurück, wo Jan Brandt - 1974 im ostfriesischen Leer geboren - in seinem "Berliner Journal 2014" ein "Bekenntnis zur Gegenwart" ablegt, wie der Untertitel seines Textes in BELLA triste 39 lautet. Der 4. bis 6. Februar wird da protokolliert, und Gewährsmann ist natürlich Rainald Goetz mit seinem später zum "Roman eines Jahres" geadelten Blog Abfall für alle, der - man staune - just sechzehn Jahre zuvor mit der Notiz "Los geht's. 4.2.98, Sonnentag, Berlin" begann. Die Einträge - teils Alltagsprotokolle, teils Reflektionen über Gelesenes oder Erlebtes, teils Anekdoten aus dem Kulturleben - sind überaus unterhaltsam und oft sehr informativ. So erfährt man, dass Brandt mit Per Leo, Autor des strahlend gelungenen Familienromans Flut und Boden, bei Wolfgang Hardtwig Geschichte studiert hat "wie eine Generation vor uns Rainald Goetz. Per hat mir schon vor zehn Jahren von dem Projekt erzählt, von dem Herrenhaus an der Weser, in dem seine Großeltern gelebt haben. 'Damit', sagte er damals, 'muss es beginnen. Mit der Größe, der Kälte, dem Verfall.'"
Hübsch, wie Brandts Journal bruchlos in Edit 65 fortgeführt wird mit Reflexionen vom 7. bis 24. Februar zum literarischen Verfahren von R. D. Brinkmann, mit der Beschreibung eines nächtlichen Kreuzberg-Streifzugs mit David Wagner, mit Gedanken zu Wolfgang Herrndorf, Kafka und dem gestörten Wohnungsnachbarn. Besonders apart: Christiane Rösinger als Off-Moderatorin eines musikalischen Ratespiels nur für Frauen, bei dem die Gewinnerinnen auf keinen Fall zugeben dürfen, aus Mitte oder Prenzlauer Berg zu sein. Gern erinnert der Rezensent sich eines ähnlichen Wettbewerbs 2006 in Kreuzberg, bei dem er die primär schwule und transvestitäre Zuschauerschaft für Sekunden dadurch beeindrucken konnte, die verfremdete Filmmusik von Bertoluccis 1900 erkannt zu haben. Das gab, wenn er sich recht entsinnt, einen Schnaps auf offener Bühne. Zu hoffen steht, dass Jan Brandt sich mit seinen Notizen weiter in deutschsprachigen Literaturzeitschriften tummelt und es seine töften Aufzeichnungen in nicht allzu ferner Zeit auch als Buch zu lesen gibt.

 

BELLA triste 39. € 5,35.

Edit 65. € 5,00.

Schreibheft 83. € 13,00.