Am Erker 70

Krachkultur 17

Neue Rundschau 126/3

Passauer Pegasus 50

poet 19

Seitenstechen 1

 
Zeitschriftenschau 70
Andreas Heckmann
 

Man muss sie lieben, die introvertierte junge Lehrerin aus Doris Wirths Erzählung "Die Schwester", zu finden in poet 19. Nein, sie ist keine, die sich in Szene setzen und es den Leuten zeigen will. Ehrgeiz ist ihre Sache nicht, Frechheit erst recht nicht, sie ist ein bedächtiges Wesen, eine Schnecke wohl gar, nicht nur langsam, sondern auch mit zarten Fühlern. Und ihre Begleiterin ist die Angst: "Wenn ich die Treppe runtersteige, zähle ich die Stufen nicht. Ich stelle mir nur manchmal vor, wie ich mit der Fußspitze hängen bleibe, kopfüber falle. Dann verjage ich den Gedanken. Ich bin überzeugt, man fällt eher, wenn man es sich ausmalt. Du kannst gehen, sage ich mir, du hast zwei Beine, große Füße." Man ahnt, dass diese Protagonistin von Zwangsvorstellungen angefallen und gesteuert werden könnte, dass etwas mit ihr geschehen, ihr widerfahren wird. Dass es bald schwierig sein dürfte, sie zu lieben. Und ist doch auf ihrer Seite und gebannt vom Sound dieser Erzählung und von ihrer Abgründigkeit.
Eine Entdeckung war für mich der Passauer Pegasus, dessen nunmehr 50. Ausgabe mir Reinhard Ammer auch deshalb in die Hand gedrückt hat, weil dort seine Erzählung "Der Holzweg hinter dem Schnauferlwirt" endlich erschienen ist, die ich vor Jahren schon gern im Erker gesehen hätte. In anfangs spielerischer, durchaus ironischer Sprache tastet sich der Text mit beeindruckender Stringenz an eine traumatische Kindheitserfahrung im katholischen Passauer Milieu der sechziger Jahre heran, um sich abschließend in einer Spottkaskade über die beklemmend evozierten Ängste zu erheben. Wenn Ammer, ein begnadeter Vorleser, diesen Text vorträgt, hört man keine Stecknadel fallen, das habe ich neulich wieder beim Salzstangensalon erlebt, den Anna Serafin, Thomas Glatz und ich in München seit gut fünf Jahren veranstalten. Doch Ammers Text ist längst nicht das einzige Highlight der Jubiläumsausgabe. Der weite Horizont der so geistesgegenwärtigen wie sinnlichen "Notate" von Bernhard Setzwein etwa entfaltet äußerst beflügelnde Wirkung. Und Harald Grills Auszüge aus einem Bulgarien-Tagebuch, die primär der alten Hauptstadt Veliko Tarnovo gelten, verbinden physiognomisches Sehen, touristischen Blick und Empathie und steuern überdies vielerlei Fakten bei: ein schönes Stück Reiseliteratur.
"Erzählen :: Wissen", so der Titel der Neuen Rundschau 126/3. Was die sich bei Fischer so einfallen lassen! :: - was mag das bedeuten, ::? Erzählen versus Wissen? Oder: Erzählen, ja, das stiftet Wissen? Oder: Auf zwei Planeten, dem der Erzählung und dem des Wissens? Au Mann. Au Backe! Fast hätte ich den stattlichen Band gar nicht aufgeschlagen vor Verwirrung. Dabei kommen die Beiträger überwiegend aus der ersten Fischer-Riege - von J.M. Coetzee über Richard Powers bis zu Anne Weber - und können so gut erzählen, dass man am Ende glaubt, die Welt besser zu verstehen, mehr über sie zu wissen. Was bestimmt wieder nur ein Trugschluss ist.
Sehr schön beschreibt etwa Leopold Federmair, *1957 in Oberösterreich, Deutschdozent an der Uni Hiroshima, einen Besuch beim japanischen Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe. Wir erfahren, wie er wohnt, wie er sich gibt, wie er wirkt, wir erfahren viel Kluges über sein Werk, von Federmair subkutan verabreicht, wir erfahren von der Beziehung Ōes zu seinem behinderten Sohn, von seinem Verhältnis zum literarischen Erfolg, der seinen Zenit überschritten hat, davon, wie er über sein berühmtes Frühwerk denkt. All das ist seitens des Berichterstatters von großem Respekt und tiefer Bewunderung getragen. Und dann Richard Powers, ohnehin ein geborener, ein glühender Erzähler, wenn er denn will. Hier will er, nicht so sehr in dem Essay "Was weiß die Literatur?", wohl aber in seiner Erzählung "Der Geist in der Flasche", in der eine Genetikerin bei der Untersuchung thermophiler Bakterien (die in Geysiren leben bei über 100°) auf einen Code stößt, der in seiner mathematischen Vollkommenheit kein Produkt der Evolution sein kann, sondern, na klar, eine vier Milliarden Jahre alte Botschaft sein muss, uns hinterlassen von intelligenten Wesen und in das einzige Medium gepackt, das die Äonen zu überstehen vermag: in die abgehärtetsten Zellen auf Erden, die obendrein mit einer Mutationssperre versehen sind. Und man glaubt das beim Lesen, man glaubt die Musik zu hören, die die Wissenschaftlerin mit Hilfe ihres Freundes aus den mathematischen Reihen komponiert. Kein Zweifel, hier wird erzählend Wissen gestiftet, aber weiß dieses Wissen von der Welt?
Womit wir tief im Reich der Fantastik sind und damit auf dem Territorium von Krachkultur 17, die diesmal um Fantasy, Science-Fiction und Horror kreist. Vergleichsweise geregelt geht es noch zu, wenn Zadie Smith in einem Essay für den Guardian über Crash von J.G. Ballard (eine Romanfantasie über die Lust am und beim Unfalltod) so lockend berichtet, dass ich mir die Lektüre dieses heiklen Romans prompt vorgenommen habe. Aus den Fugen gerät die Welt dann schon in Algernon Blackwoods Erzählung "Die Olive" (1922): "Er lachte unwillkürlich, als die Olive auf dem glänzenden Parkettboden des Hotelrestaurants zu seinem Stuhl rollte" - mit diesem Satz beginnt der Text und hält, was sein Anfang verspricht. Auch der Niederländer Ferdinand Bordewijk ist vertreten, dessen Roman Charakter von 1938 in Deutschland erst 2007 Furore machte. In "Die Vogelscheuche flieht vor den Vögeln" (1955) erzählt er von einem Bild dieses Titels und von den Abgründen ringsum, und auch dieser Text überzeugt vom ersten Satz an, der da lautet: "Man kennt jene Keller, die, ein wenig wie kleine Blumen verstreut in einer großen Wasserschale, im alten Stadtkern Amsterdams liegen." Joseph Felix Ernst schließlich - "Open Mike"-Gewinner 2011 - steuert mit "Der Bienengott" eine Fliegergeschichte bei, die in der Zivilisation beginnt und in der Natur endet. Oder führt sie nur von Wildnis zu Wildnis, Tod zu Tod? Jedenfalls schafft er es, auf acht Seiten so viele Töne anzuschlagen und Welten zu streifen, dass einem schwindlig werden könnte, hätte man nicht als Ariadnefaden Ernsts literarisches Ingenium.
Womit wir tief im Reich von Seitenstechen sind, einer neuen Literaturzeitschrift aus Erlangen, die Ernst mit Philipp Krömer jährlich herausgibt und an der auch Sebastian Frenzel und Laura Jacobi mitarbeiten: Die vier sind das Team des Homunculus Verlags, der in diesem Herbst sein erstes Programm vorgelegt hat, zu dem auch Bücher von Charles Dickens und Carl Einstein in schöner Aufmachung gehören. "Seefahren macht besser", so das Thema der ersten Ausgabe (ein Klabund-Zitat von schlichter Evidenz), und was die vier Jungverleger - alle (deutlich) unter 30 - auf die Beine gestellt haben, kann sich sehen lassen, auch buchgestalterisch. Peter Wawerzinek steuert einen verschlungenen Text über sein halbes Jahr am Meeresgrund in Gesellschaft eines gar furchtbaren Seeungeheuers bei, ein Fantasiestück, das sich in den Tentakeln seiner selbst aufs Zauberhafteste verliert, bis man lesend die letzten Reste seines längst geschwächten Verstands im fahlen Halblicht der Tiefe davontreiben sieht. Auch ein alter Seebär und Kolumnist ("Hier spricht der Kapitän" erscheint jeden Samstag in der Hamburger Morgenpost) ist mit an Bord, Jürgen Schwandt, dessen Biografie der auf Maritima spezialisierte Ankerherz Verlag 2016 zum 80. Geburtstag des Verfassers herausbringt. Wer Entzugserscheinungen kriegt, wenn er nicht alle paar Jahre Helmut Käutners "Große Freiheit Nr. 7" sieht, sollte Schwandts abenteuerliche Geschichten lesen, hier "Texas Bar" über einen gewaltigen Sturm Ende 1955 vor Neufundland: alles erlebt, nichts erfunden!

 
Krachkultur 17. € 14,00

Neue Rundschau 126/3: "Erzählen :: Wissen". € 15,00.

Passauer Pegasus 50. € 12,00.

poet 19. € 9,80.

Seitenstechen 1: "Seefahren macht besser". € 8,00.