Was wohl ein Saarländer angesichts der Niagarafälle zu Papier bringt? Ein Ostfriese am Taj Mahal? Ein Sachse vor den Lehmpalästen Timbuktus? Dank Fitzgerald Kusz und seinem Gedicht "istanbul" in poet nr. 10 wissen wir immerhin, was einem Franken am Bosporus einfällt: "dä blick aff di blaue moschee/ säißa dee und biddere olivn/ ä himml vullä mövn/ di anglä aff dä galatabrüggn/ di fisch däi nie oobeißn/ dä ölfilm im goldnä horn/ laudschbrechä mid rückkobblung/ wou zum gebet rufn/ des gwühl in di schdrassn/ säißä dee und biddere olivn/ säiß und bidder: istanbul". Man kann aber auch daheim am Stammtisch bleiben, und dann klingt es so: "des gibds ned/ des glabbsd ned/ des derf ned woä saa/ des gäihd ned in mein kubf nei/ das läßd mä kann rouh/ des houi kummä säing/ des hammä edz dävoo/ des kummd aff uns zou/ des kammä ned aufhaldn/ des kummd unvähoffd/ des bläihd uns/ des is aff amall dou".
"Als Graf Geert noch jung war, ging er in die Schule, um Bischof zu werden; dachte aber nicht an ritterliche Werke. Er war so arm, daß er keine Burg im ganzen Lande hatte und unter den Bürgern in Rendsburg wohnte auf dem Hakenspieker über dem Wasser, und hatte nichts eigenes, als ein paar graue Wildhunde, die man zu der Zeit für ganz edel zur Jagd hielt, wie die Jäger sagen. Da kam aber Hartwig Reventlow zu ihm und gab ihm Pferde und Harnisch. Und alsobald wuchs ihm der Mut und der junge Fürst ward ein solcher Held, daß man ihn mit Recht den Großen genannt hat."
Dieser Text stammt nicht von Ror Wolf, sondern aus Karl Müllenhoffs Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg (1845), die in der 12., den "Märchen" gewidmeten Ausgabe von Kultur & Gespenster in Auszügen abgedruckt sind. Das dreihundert Seiten starke, im Format leider von einst 28 x 21 auf nun 23 x 16,5 cm geschrumpfte Heft bringt neben erquicklichen Sagen und Legenden aus Schleswig-Holsteins dänischer Vorzeit ein Gespräch des Literaturwissenschaftlers Hartmut Freytag mit dem Künstler Alexander Rischer, der 2010 auf einer Fahrradtour die Plätze fotografiert hat, an denen die Texte spielen.
Schöne S/W-Fotos zeigen Waldeinsamkeit, Findlinge, vom Westwind modellierte Baumkronen, Wegkreuze, Grabmäler, Backsteingotik, einen ausgebrannten Mähdrescher auf freiem Feld, Friedhöfe, Taufbecken, und es scheint, als rufe im Schlehdorn noch das Käuzchen, als streiche die Muhme noch um die Teiche. Bereits in der siebten Ausgabe von K&G ging es um Rischers Ausstellung "Die dunckle Finsterniß hatte hier allenthalben ihren Schweins-Braten ausgestreuet", in der der Künstler seltsame historische Landmarken gesammelt und faszinierend kommentiert hat (vgl. die Zeitschriftenschau im Erker 57).
Albert Vigoleis Thelen haben sich die horen schon 2000 und 2003 ausführlich gewidmet. Die nun in Band 240 unter dem Titel "Mötterken sei gegrüßt ..." abgedruckten "Briefe aus düsteren Jahren (1929-1948)", die nicht in dem 2010 bei DuMont erschienenen Band Meine Heimat bin ich selbst: Briefe 1929-1953 enthalten sind, haben mich allerdings nicht den Eindruck gewinnen lassen, es mit einem bedeutenden Briefschreiber zu tun zu haben. Immerhin enthalten die Korrespondenz, die Thelen 1929/30 an den niederländischen Autor van Vriesland richtete, dessen Roman Het afscheid van de wereld in drie dagen er übersetzt und deutschen Verlagen vergeblich angeboten hat, und zumal der schöne Brief an den Bruder Ludwig vom 22. 12. 1937 zeitlose Einblicke in Probleme und Versuchungen von Übersetzerkunst und -handwerk. Übrigens war das Übersetzen für Thelen, der lange in Holland, auf Mallorca und in der Schweiz lebte, auch darum von großer Bedeutung, weil er durch Übertragungen des Dichters Texeira de Pascoaes die Möglichkeit bekam, die Jahre 1940-46 mit seiner Frau auf dessen Weingut im neutralen Portugal zu verbringen.
Band 241 versammelt Lebens- & Überlebensgeschichten und erinnert u.a. an Helmut Heißenbüttel, der 1990 bei der Verleihung des Kunstpreises Schleswig-Holstein statt einer Dankesrede ein "Lob West-Schleswig-Holsteins" vorgetragen hat: "immer wenn ich morgens mit dem Bus nach Glückstadt fahre/ immer wenn ich auf der Bahnfahrt zwischen Pinneberg und Glückstadt nach links aus dem Fenster blicke/ immer wenn ich das flache Land sehe/ den Horizont aus Büschen Bäumen einzelnen Dächern manchmal Kuhrücken/ den Himmel der bunter ist als anderswo und mehr Wolken hat als anderswo/ den Rundblick der mir alles darbietet/ der die Verhältnisse offen erscheinen läßt/ nicht von sogenannten Schönheiten verstellt/ der nichts verbirgt und das Wirkliche wirklich erscheinen läßt/ Haseldorfer Marsch Kremper Marsch Wilster Marsch bis hinauf zur Eiderstedter Marsch und Niebüll/ öffnet sich/ öffnet sich/ öffnet sich/ mein Gefühl meine Empfindung mein Herz/ segle ich davon im Wind des Gefühls der Empfindung/ im Wind des Herzens/ und ich erinnere mich an die Heimreisen während des Krieges/ wenn sich nach Hannover wo es flach wurde der Gedanke bildete/ jetzt wird es schön".
Die Signum-Exkurse widmen sich diesmal zwei gegensätzlichen Regionen: Wolfgang Gabler und Sven Lübbe von der Rostocker Literaturzeitschrift Risse berichten unter dem Titel "Verblassende Wasserzeichen" über die Literaturszene Mecklenburg-Vorpommerns und beklagen, im Land selbst könne kein einziger Schriftsteller mehr von seiner Arbeit leben, während zumal junge Autorinnen wie Judith Zander und Kerstin Preiwuß abgewandert seien. Auch bei Hinstorff in Rostock – zu DDR-Zeiten ein wichtiger Verlag – sehe es, von Kinderbüchern und Fühmann-Neuauflagen abgesehen, düster aus. Immerhin gebe es Einrichtungen wie das Literaturhaus in Rostock, das Literaturzentrum Vorpommern und das Wolfgang-Koeppen-Archiv in Greifswald, das Brigitte-Reimann-Haus in Neubrandenburg, das Fallada-Museum in Carwitz und das Uwe-Johnson-Literaturhaus bei Grevesmühlen – Orte, an denen das literarische Leben mal gut, mal weniger gut andocken könne.
Ganz anders klingt, was Franziska Sperr über einen Autorenkreis am Starnberger See berichtet. Sperr hat mit ihrem Mann Johano Strasser bis 1987 in Westberlin gelebt, an der Literaturzeitschrift L'80 mitgearbeitet und Altbauwohnungslesungen und -diskussionen im Osten und Westen der Stadt erlebt. "Wir zogen nach Bayern und dachten, dass so etwas da nicht gehen würde", beginnt sie ihren Text, doch zum Glück kam es anders. Und so trifft man sich seit 1989 am Küchentisch, um unter Strassers Leitung bei Butterbrot und Wein aus unveröffentlichten Texten zu lesen und darüber zu debattieren wie weiland mit Günter Grass und anderen Größen in Berlin. Oberbayern, du hast es besser, vielleicht allzu gut. "Und so machen wir weiter, immer weiter, und wenn wir nicht gestorben sind, dann schreiben wir noch heute" - Anatol Regnier zum Beispiel, Enkel von Frank Wedekind. Oder Gert Heidenreich. Oder Dagmar Leupold, die mit dem schönen Text "Bunny" vertreten ist.
Auch Edit ist geschrumpft, gar von A4 auf A5, dabei aber von 64 auf 156 Seiten angeschwollen. Schon seit Herbst 2009 war es aus mit dem Hochglanzappeal, aber das Hochformat verhieß noch Kontinuität. Mit Nr. 54/55 nähert Edit sich nun dem Taschenbuch, und das beglückt so wenig wie die literarischen und essayistischen Bröckchen, die da zum Thema "Prosa" versammelt sind. Dann aber tritt Norbert Hummelt mit "Wässerchen aus Indien" aus der Deckung: "Genauso lange, wie ich Gedichte schreibe, seit einem Vierteljahrhundert, ist es mir gelungen, keinen Roman zu schreiben. Wenn einem sonst dazu niemand gratuliert, muß man es selber tun." Und er fährt fort: "Wenn ich einen Roman schreiben könnte, wenn ich dazu ernstlich in der Lage wäre, gäbe es keinen stichhaltigen Grund, es nicht zu tun. Es ist weder Kleinmut noch falscher Stolz, nicht Faulheit oder mangelnde Schreibintelligenz, es ist eine Frage der inneren Disposition. Ich bin zu unruhig dazu, schon immer, aber jetzt auf jeden Fall."
"Ich muss das Schreiben jederzeit verlassen können, es macht mir sonst Angst", heißt es dann, und er bemerkt zu Eichendorff: "Wie es dieser Lyriker des Unterwegsseins schaffen konnte, überhaupt Romane und Erzählungen zu schreiben, fast die einzigen übrigens, die ich immer wieder von neuem lesen kann, als seien es Gedichte, ist mir unerfindlich." Schließlich nennt Hummelt einen weiteren Schriftsteller, Hermann Lenz, dessen Romane er schätzt und die ihm "ein Asyl" bieten, "das ich ungeachtet meiner sonstigen Aversion gegen geschlossene Räume gar nicht mehr verlassen möchte": "Ich spüre aber seinen Sätzen, die so elegant und wie dahingedacht fließen, daß sie nur scheinbar altmodisch, in Wahrheit aber völlig zeitlos sind, eine deutlich von mir abweichende Grundstruktur ab. Er floh nicht aus seinem Elternhaus, sondern lebte darin, bis er sechzig war, und er wäre am liebsten niemals ausgezogen. Seine Empfindlichkeit brachte ihn nicht aus der Ruhe, er konnte das Leben, das ihm zusetzte, ertragen, indem er sich zurückzog in seine Dachstube, dort die Stahlfeder ins Tintenfaß tauchte und schrieb, hinterher tippte er alles sauber ab. Er ging gern spazieren, aber ich stelle ihn mir nicht getrieben vor, er konnte die Natur ansehen wie kaum ein anderer, aber er war am liebsten drinnen. Er konnte auf diese Weise bändigen, was von außen anstürmte, und es tut mir gut, das zu lesen, aber diese atmende Ruhe finde ich selbst im Schreiben nicht, weil dieses Schreiben von fieberhafter Intensität sein muß, um zu gelingen. Was ich schreiben muß, sind Gedichte, die aus der Unruhe kommen und ihr abgerungen sind, um sie kurz zu überwinden, sie stillzustellen in Bild und Klang. Der Roman, er dauert mir zu lange."
Die Neue Rundschau hat in Heft 122/1 im Anschluss an Benjamins "Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen" 24 Literaturkritiker um Statements gebeten. Die Ausbeute ist mau. Schneidig geht Richard Kämmerlings zu Werke: "Der Kritiker muss den Leser vor schlechten Büchern schützen – und deren Autor vor einer falschen Selbsteinschätzung. Eine Vernichtung dient auch dem Vernichteten. Er kann davor bewahrt werden, sein Leben an ein nicht ausreichendes Talent zu verschwenden." Erheblich bedachtsamer dagegen Burkhard Müller: "Dem Kritiker sei jederzeit die Unverhältnismäßigkeit seines Tuns bewusst. Der Schriftsteller hat in der Regel viele Monate oder etliche Jahre mit seinem neuen Buch verbracht. Den Kritiker kostet die Lektüre dieses Werks einen Nachmittag und Abend und die Abfassung der Kritik noch den nächsten Vormittag dazu; er steckt in dasselbe Werk kaum ein Prozent so viel Zeit und Kraft. Darum lege der Kritiker, so leicht er auch den Ton wählen mag, in jeden Satz verantwortungsvollen Ernst: Dies schuldet er, vor allem Urteil, der schieren Mühe des Anderen." Gemahnt das nicht an die Zwischentitel in Jim Jarmuschs großem Film Ghost Dog - Der Weg des Samurai? "Der Kritiker schreibe einmal im Leben selbst ein Buch. Dieses Buch soll eher ein schlechtes als ein gutes sein, damit er, wenn er nun seinerseits kritisiert wird, von der Waffe, deren Heft er sonst in der Hand hat, jenen Teil zu spüren bekommt, der trifft. Er soll einmal am eigenen Leib erlebt haben, wie sehr schmerzt, was er tut – nicht, um künftig gelinder, sondern um mit größerem Bedacht grausam zu sein", fährt Müller fort und scheint mit dem Forest Whitaker des Films zu verschmelzen, um dann in Tilmann Lahmes unterhaltsamer und instruktiver Antrittsvorlesung "Krise im Kasperltheater – Zur Lage der Literaturkritik" noch mal als Partei im bizarren Literaturstreit mit Jochen Hörisch (2008) aufzutreten.
Das Schönste zum Thema aber stammt von Richard Powers, der in seiner Erzählung "Schwingt euch zum Tanz" eine amerikanische Literaturstudentin das gleichnamige Buch eines Elton Wentworth 1963 in den englischen Cotswolds beim Trödler entdecken und, jeder Anfechtung zum Trotz, durch alle Lebensabschnitte mitnehmen lässt. Ein ungelesenes, dann halb gelesenes Buch, das der Protagonistin endlich wichtig wird, dann wieder aus dem Blick gerät, indes die literarischen Moden sprießen, studentische Blütenträume welken und das Land und die Welt so gar nicht mehr sind wie zuvor. Ein kluger, ironischer, beseelter Text, der exemplarisch beleuchtet, welch komplexe Wechselverhältnisse schon ein Buch mit nur einer Leserin und ihrer Zeit eingehen kann. Sehr zivilgesellschaftlich, ganz unschneidig.
Überhaupt Erfahrungen mit Lektüren: In Heft 121/4 berichten Lavinia Meier-Ewert und Andreas Resch von einem Besuch in Kerouacs Geburtsstadt Lowell (wo der Autor auch begraben liegt), während David Gilmour "Mein Leben mit Tolstoi" beschreibt – beides unbedingt lesenswert, wie auch "Mein Haschjob" von Wells Tower, ein feinsinnig überhöhter Erfahrungsbericht aus dem Leben eines Amsterdamer Coffeeshop-Verkäufers.
BELLA triste 28 enthält ein gelassenes, aber ernsthaftes Gespräch mit Jochen Schmidt über Komik und komische Literatur. Ein Lesebühnenkönig reift zum Klassiker und bleibt geschmeidig. Schlau ist das und geerdet. Und klug befragt von Victor Kümel. In Heft 29 dann eine Kindheitsgeschichte von Lin Franke (*1984 in Sachsen), die den Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl auf eine junge Familie in der DDR nachgeht – es handelt sich um einen Auszug aus ihrem in Arbeit befindlichen ersten Roman Die stillen Stunden der Jahre, der viel erzählerische Kraft verrät, in seiner formalen Ambitioniertheit aber vielleicht überflüssige Rezeptionshürden errichtet.
Seit 1981 erscheint in Karlsruhe die allmende als "literarischer Ausdruck eines neuerwachten Selbstbewusstseins der Provinz", wie die Redaktion schreibt. "Sollte es nicht möglich sein, über Heimat zu reden, ohne von Zeitgenossenschaft absehen zu müssen?" Unter Heimat ist dabei der alemannische Sprachraum zu verstehen, der in Deutschland, Frankreich, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz liegt. Im 86., "Liebe, Lust und Leidenschaft" gewidmeten Heft überzeugt Ulrike Draesner mit "Zarte Ration" aus den Vorlesungen ihrer Wiesbadener Poetikdozentur. Verbindet eine amour fou Birte und Ed? Jedenfalls kommt das untersetzte Mädchen vom sumoringerhaften Ed auch dann nicht los, als der kein trainierter Dicker mehr ist, sondern langsam in seinem Fett ertrinkt. Wie Draesner exotische Leiblichkeit, deren Faszination und die Abgründe eines verfehlten Lebens heraufbeschwört, ist sehr lesenswert, auch wenn es mitunter wie eine Etüde der Evokation des ganz Anderen mit dem virtuos gehandhabten Beschreibungsinventar der Literatur wirkt.
Auch Wilhelm Genazinos Beitrag "Die Frau und der Löffel" in Heft 81 (Aug. 2008) begeistert als knappe Fallstudie, in der sich Obsession, Alltagsbeobachtungen und Malaise einmal mehr zu einer tragikomischen Miniatur des Menschenlebens verbinden. Solchen Glücksfällen stehen leider mitunter Beiträge gegenüber, die dem Pegasus wie Ballast auf die Flügel drücken, besonders im gleichen Heft 81, in dem zur geschlagenen Hälfte Laudationes, Dankreden und prämierte, aber allzu lang geratene Texte abgedruckt sind. Auch in solchem Fett kann man ertrinken. |