Am Erker 62

Poet 11

Neue Rundschau 122/3

Bella Triste 30

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BELLA triste

 
Zeitschriftenschau 62
Andreas Heckmann
 

Neben Brot-, Wasser- und Schnaps-Rationen gibt es nun auch "Illust-Rationen", die die staunende Welt dem Duden und poet 11 verdankt, der sein grafisches Ausnahmetalent Miriam Zedelius nicht länger nur die Cover gestalten lässt (diesmal tanzt spitzfüßig, langbeinig und mit weltumarmend ausgestreckten Händen eine Pudelmützenträgerin Sterne jonglierend im kurzen Kleid auf einem offenen Buch und setzt das Wort Leselust betörend ins Bild). Inzwischen ist der begnadeten Illustratorin auch im Heftinnern eine Spielwiese eröffnet, die sie anrührend mit Leben füllt: mit den gezeichneten Autorenporträts der von Michael Braun und Michael Buselmeier einst im Freitag und nun auf poetenladen.de vorgestellten Neuen Folge der Lyrikanthologie Der gelbe Akrobat und mit Skizzen zu den Autorengesprächen und den - neu ins Heft gekommenen - Reportagen aus der literarischen Welt.
Kaum haben die Akrobat-Anthologisten etwa mit Adolf Endlers "Dies Sirren", Steffen Popps "Fenster zur Weltnacht" und Dirk von Petersdorffs "Raucherecke" poetische Perlen präsentiert, fährt die dreihundert Seiten umfassende Ausgabe im Abschnitt "Geschichten" Herrlichkeiten auf: Markus Orths glänzt mit einem Auszug aus dem unveröffentlichten Roman Erich, Erich, in dem drei Männer dem unbescholtenen Ich-Erzähler und Sohn von Hans Cramm mit Giftspinnen auf die Bude rücken. Erich besucht daraufhin den Vater im Gefängnis, der jedoch nur theatralisch niest, bevor er wortlos das Zimmer verlässt. Sollen Vaters Untaten am Sohn gerächt werden? Dem jungen Cramm bleibt wohl nur übrig, auf eigene Faust die dunkle Vergangenheit des Alten zu erforschen, damit das unheimliche Trio von ihm ablässt. Ein albtraumhaft-ödipales Setting, das große Leseerwartungen weckt. Prima auch Carola Grubers dem Träumen gewidmete Kurzprosastücke unter dem Titel "Mit Bibo, Grobi und Kermit um einen Schweizer See", vierzehn virtuose Etüden in Abgründigkeit, deren letzte zitiert sei: "An einem Sommerabend sitzt er neben seiner Freundin auf dem Balkon. Er hat den linken Arm um ihre Schulter gelegt und sieht mit ihr gemeinsam in Richtung Sonne, die groß und schwer über dem Horizont hängt, honig- und bernsteinfarben leuchtet, in Rosenblütenwolken gehüllt. Vor ihnen, im Sonnenlicht, tanzen Staubkörner. Hin und wieder greift er eines davon aus der Luft und wirft es sich in den Mund. Nach vier, fünf Körnern sieht er sie an: Isst du denn gar nichts heute Abend?"
In der neuen Abteilung "Reportagen" erzählt Walter Fabian Schmid allzu hochtönend, fast salbungsvoll von einem Besuch im Lyrik Kabinett München, Europas zweitgrößter Lyrikbibliothek. Auch Katharina Bendixens Bericht aus Stipendiatenhäusern und Künstlerdörfern in Wewelsfleth, Schöppingen und Berlin (LCB) ist etwas zu beflissen, wirkt ein wenig zu sehr nach dem Lehrbuch gestrickt, als dass sich Lesefreude einstellen würde. Anders "Literatur in Kneipen und Cafés" von Johanna Hemkentokrax, die dem Kaffee Burger in Mitte, Bert Papenfuß' Rumbalotte continua im Prenzlauer Berg, dem Helheim in Leipzig-Plagwitz und der Literaturweinstube in Apolda Besuche abgestattet und davon atmosphärisch, frech und ohne jede Geschraubtheit berichtet hat.
Auch die Gespräche mit Schriftstellern zum Thema "Literatur und Zeit" sind wieder instruktiv: Markus Orths erzählt unter der Überschrift "Heute minus zwanzig Seiten geschrieben!" von der Lust am Streichen; Kathrin Röggla äußert sich zu "Zeitflexibilisierungen und Parallelzeiten" und zur "rasanten Taktung, die den Ton angibt"; Henning Ahrens korrigiert Vorstellungen von Geruhsamkeit auf dem Lande; der großartige Literatengesprächspartner Jan Kuhlbrodt schließlich tritt mit seiner Frau Martina Hefter in einen sehr persönlichen E-Mail-Dialog, in dem es nicht zuletzt darum geht, wie das Zeiterleben durch Geburt und Heranwachsen von Kindern verändert wird: einer der schönsten Beiträge dieses schönen Hefts.
Es mag ehrenvoll sein, ist aber gewiss heikel, wenn ein Verlag Autoren fragt, ob sie zu einer Anthologie zum Jubiläum des Hauses - und gar dem 125. - nicht etwas beisteuern möchten. 29 solcher Beiträge vereint Heft 122/3 der Neuen Rundschau unter dem Titel "Samuel Fischer, Verlag", und bald stellt sich der Eindruck ein, die Texte leisten ähnliches wie der FAZ-Fragebogen: Dessen Beantwortung kann Ausweis von Klugheit und Souveränität sein, doch ein Fehltritt reicht, und man stürzt in Abgründe. Vier sehr gelungene Texte seien erwähnt:
Roger Willemsen bringt seinem Lektor Jürgen Hosemann eine so noble wie (selbst) ironische Eloge dar und beschreibt das erste Treffen, bei dem sie auf dem Bonner Marktplatz Kaffee tranken und Hosemann seine Rede "konzentriert vor allem an seinen Kuchen richtete", als "Druckbetankung". --- Thorsten Palzhoff steuert eine Hommage an die Suhrkamp-Größe Wolfgang Hildesheimer und dessen Lieblose Legenden bei, den Nukleus des Gesamtwerks, als dessen Kern im Kern wiederum "1956 - ein Pilzjahr" gelten darf. --- Michael Lentz begibt sich zum Jüdischen Friedhof Weißensee, um S. Fischers Grab zu finden, was im Chaos der Planquadrate scheitert. Parallel berichtet er von Rauchfäden, die abends ab achtzehn Uhr von der Kneipe unten durch die Dielenritzen in seine Wohnung ziehen, und bittet den aus Nürnberg angereisten Vermieter, doch die Nase nicht an die Dielen, sondern an den zwischen den Bohlen bröselnden Kitt zu halten. Ein Foto, das Lentz in Turnschuhen am Verlegergrab zeigt, verbürgt jedoch, dass seine Suche letztlich erfolgreich war (und auch die Wohnung wird gewechselt). Der durch den Film Alles auf Zucker einem größeren Publikum bekannte Friedhof, den ich Anfang 2009 vor dem Erker-Interview mit Arno Orzessek an einem bitterkalten Februartag begangen habe, lohnt den Besuch unbedingt, aber wohl besser im Oktober. Empfehlenswert ist auch der Weißensee-Dokumentarfilm Im Himmel, unter der Erde, in dem das Fischer-Grab indes nicht vorkommt. --- Georges-Arthur Goldschmidt steuert einen so kargen wie bewegenden Text bei, der von einem Leseerlebnis in einem Garten an der Kieler Förde 1950 berichtet (Teile der Familie hatten dank einer "Mischehe" die Nazi-Zeit überlebt). Dort gab ihm jemand die Schocken (Fischer) Ausgabe von Der Prozeß: "Kafka und Fischer ließen mich von nun an nicht mehr los, und Kafka war und bleibt ohne Fischer für mich undenkbar, und beide begleiten mich bis ans Lebensende."
Vor bald zehn Jahren kam die letzte von Jan Wagners elf Wunderschachteln heraus, literarische und grafische Loseblattsammlungen namens Die Außenseite des Elementes, bei denen die Leser die Abfolge der Werke selbst bestimmen können. Mit ihrer 30. Ausgabe hat die BELLA triste in Kooperation mit dem alle drei Jahre in Hildesheim stattfindenden Prosanova-Festival an diese Tradition überbietend angeknüpft und eine Sammlung grafisch ambitionierter Texte vorgelegt, deren liebevolle Präsentation freilich nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Substanz dessen, was da als ausfaltbarer Einblattdruck, Pseudo-Anamnesebogen oder Übereinander von Folien für den Overhead-Projektor vorgelegt wird, mitunter dürftig ist. Hier seien drei überzeugende Arbeiten genannt, die sich im spielerischen Rückgriff auf Kanonisiertestes dem Motto des diesjährigen Festivals ("Literatur als Ereignis") stellen: Rätselhaft, ja, mysteriös erscheinen die Gedicht-Übermalungen von Christian Hawkey, bei denen mit Tipp-Ex Sonette von Elizabeth Barrett Browning und deren Übersetzung durch Rilke bis auf wenige Worte und Wortteile unkenntlich gemacht wurden: eine subtile Verführung, mal wieder zu den "Sonetten an Orpheus" zu greifen und sie neu zu entdecken. --- Judith Schalansky steuert einen Essay "Wie ich Bücher mache" bei, hellwach und doch entspannt und in Pseudo-Gutenberg-Lettern, sodass sich der Eindruck einstellt, man lese die Heilige Schrift, aber auf den Plastiktüten der Buchhandelskette Hugendubel, könne nun jedoch - oh Wunder! - das dort Unentzifferbare lesen. --- Dieter M. Gräfs "Kunstausbruch, Guerillafische" schließlich kommt als vorgelochtes Faltblatt daher, das nach dem ziegelroten, ziegelschweren Ordner Schönfelder: Deutsche Gesetze schreit.

 
  • poet 11. 9,80 Euro.
  • Neue Rundschau 122/3: "Samuel Fischer, Verlag". 12 Euro.
  • BELLA triste 30 (Sonderausgabe). 15 Euro.