Das Magazin poet, das aus dem
Internetportal poetenladen.de hervorgegangen
ist, hat im Februar den mit 15.000 Euro dotierten Hermann-Hesse-Preis
für Literaturzeitschriften gewonnen, der alle vier
Jahre verliehen wird - so an das Schreibheft (1994),
den Erker (1998), Edit (2002) und Sprache
im technischen Zeitalter/SpritZ (2006). Herzlichen
Glückwunsch an Andreas Heidtmann und seine Mitstreiter!
Als wollte die Redaktion zeigen, wie sehr sie diesen Preis
verdient, hat sie mit Nr. 8 eine nahezu olympische Ausgabe
auf den Weg gebracht, die mit einigen Gedichten von Wulf
Kirsten beginnt, lässigen Wunderwerken, wie sie viele
Verseschmiede ihr schweißerfülltes Leben lang
nicht zuwege bringen. Auch Nadja Küchenmeister ist
mit schönen Beiträgen vertreten, mit "von
der zeit" etwa: "nicht viel behalten: die ohren
immer auf musik/ den walkman halb am gürtel festgeklemmt/
halb in der hand und aus verlegenheit die schultern// hochgezogen:
so blickt dich deine ungeformte/ schwermut an. das weizenblonde
deiner haare/ die schluppen und der ringelpulli."
Was Prosa angeht, überzeugt Monika Radl mit einem
Auszug aus ihrer Novelle Sunshine, in dem
eine Fußmasseurin - "Kim lebt genügsam
und mag fremde Füße" - Besuch von Zwillingsbrüdern
bekommt, die sich zum Geburtstag etwas gönnen. Als
Kim dem "Minutenjüngeren" die Füße
massiert, stellt sie sich die Frage: "Wäre die
Ferse ein kugelförmiges Behältnis am Rande jedes
Körpers, eine Schatulle für abgelegte Wünsche,
was flöge in seiner herum?"
Die Gespräche, die der poet mit Autoren führt,
gehören zum Besten, was es im deutschsprachigen Raum
an Schriftstellerinterviews zu lesen gibt - und das
nicht nur, weil die Zeitschrift eigens einen Redakteur
dafür hat, sondern weil auch die Fragenden (diesmal
u.a. die Autorinnen Carola Gruber und Katharina Bendixen
sowie Edit-Redakteur Jan Kuhlbrodt) einen literarischen
Sensus haben, der zu spannenden Gesprächen führt.
Wenn dann ein Autor wie Jan Faktor, dessen wunderbarer
Prager Schelmenroman Georgs Sorgen um die Vergangenheit dieses
Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert
war, so selbstironisch wie offen aus der Schreib- und Lebensschule
plaudert, darf ohne jede Übertreibung von einer Sternstunde
des Literaturinterviews die Rede sein.
Schon im Herbst hat poet 7 einen Lyrikschwerpunkt
auf Argentinien gelegt, das Gastland der nächsten
Frankfurter Buchmesse. Der Autor und Übersetzer Timo
Berger hat ein entsprechendes Dossier zusammengestellt,
in dem zumal "el nube:/ der wolke:" von
Violeta Kesselman überzeugt. Und auch Hildegard Knef
wird zitiert: "Ich jogge nicht, ich laufe Amok!"
SpritZ 193 stellt die Teilnehmer der Berliner Autorenwerkstatt Prosa
2009 vor, eines offenkundig sehr guten Jahrgangs. Mit dunkel
glühender Sprachgewalt lässt Emanuel Maeß in "Johannistage" seinen
Ich-Erzähler der Kindheit im Pfarrhaus der Großeltern
bei Jena nachspüren und Windböen in die Baumkronen
fahren; möge sein hoher Ton wie ein Sturm ins Konversationsgewäsch
weichgespülter Gegenwartsliteraten wehen und es verblasen!
Auch Kristina Schilke, 1986 in Tscheljabinsk geboren und
bei weitem die Jüngste im Bunde, legt mit "Das
Wundervolle an uns" eine überzeugende Talentprobe
vor, in der sich die Tochter ein annähernd unbeschwertes
Leben in München geschaffen hat, als ihre Mutter aus
dem Bayerischen Wald anruft: "Durch das Telefon hörte
Linna den sauren Belag auf der Stimme ihrer Mutter. Der
Doktor hot gsogt, mir versuchns trutzdem nomoi mit Kemotherapie.
Trutzdem. Weil - I bin ja no jung." Auch Andreas
Martin Widmann, in dessen Roman Die Glücksparade der
fünfzehnjährige Ich-Erzähler der sich stets
verschärfenden finanziellen und sozialen Misere der
Eltern auf einem Campinggelände zusieht, wo der Vater
als Platzwart amtiert, entwirft eine große Szene,
die literarisches Ingenium bezeugt: Der Junge bekommt von
seinem angetrunkenen Erzeuger einen Anruf und soll den
Verunglückten bei Neuschnee aus dem Straßengraben
bergen - ein groteskes, quälendes und unvergessliches
Szenario.
In Heft 192 geht Volker Kaminski dem "Geheimnis
der Siedlung" nach und gewinnt dem vertrauten Setting
eines Besuchs bei den Schwiegereltern irritierende Momente
ab. Uwe und Sara verbringen brütendheiße Tage
in der Vorstadthölle und stellen fest, dass Saras
Eltern aus der Zeit gefallen sind und in einem Kokon altern.
Ringsum scheinen die Uhren stillzustehen, was Uwe unbehaglich
ist. Als bei Nachbarn in der Tagesschau Willy Brandts Rücktritt
im Zuge der Guillaume-Affäre (1974) gemeldet wird,
ist er frappiert. Tage später beobachtet er durchs
Fenster, wie Deutschland 1970 im WM-Halbfinale 4:3 gegen
Italien verliert - und erneut ist es keine Wiederholung ...
Seit Edit sich mit Nummer 50 ein neues, sprödes Outfit zugelegt hat, ist's mit der Herrlichkeit
vorbei: Enthielten frühere Ausgaben oft con amore erzählte
Prosa, dominiert nun eine seltsam ältlich anmutende
Konzeptliteratur, der ein Hang zu vorauseilender Rechenschaftslegung
anhaftet. Immerhin ist Lilienfeld-Verleger Axel von Ernst
in Heft 51 mit "Eine lange Geschichte" vertreten,
einer kurzen Geschichte, in der Werner Waginowski jahrzehntelang
zur Arbeit fährt und früh an Krebs stirbt. "Einmal",
heißt es da, "hatte Werner Lust, etwas zu machen,
was er sonst nie machte. Er wollte zum Beispiel immer schon
mal wissen, wohin dieser Weg führte, an dem er jeden
Tag auf der Strecke zur Arbeit und von der Arbeit nach
Hause vorbeifuhr." Was ihm bei dieser Gelegenheit
auf einer halben Edit-Seite widerfährt, lohnt die
Lektüre.
In der Kritischen Ausgabe,
deren achtzehntes Heft der Familie gewidmet ist, erzählt Dietmar Hübner
vom Wiedersehen eines Liebespaars nach zehn Jahren. Schüchterne
Nähe stellt sich ein, obwohl die Geliebte von damals
in Holland glücklich verheiratet ist und eine Tochter
hat - eine schöne, melancholische Etüde über
ein unerschöpfliches Thema. Lesenswert auch der Essay
von Florian Radvan über seinen Lehrer W.G. Sebald.
Warum müssen die jungen deutschen Schriftsteller
bloß alle nach New York? Und warum können sie
nicht über ihre dortigen Eindrücke schweigen?
Die zehnte Ausgabe von plumbum bietet
einmal mehr Gelegenheit zu diesen Stoßseufzern. Aber
die Linolschnitte sind wieder ganz wunderbar und rechtfertigen
den Erwerb des in 400facher Auflage im LP-Format erschienenen
Hefts unbedingt.
"Vergangen und vergessen" - unter
diesem Titel widmet sich Band 234 der horen Revisionen
und Entdeckungen. So erinnern Guntram Vesper, Otto Jägersberg
und Peter Kirchhof an den Verleger, Autor und Fährtensucher
V.O. Stomps (1897-1970), der 1924-37 in Berlin die Rabenpresse
und 1949-67 in Hessen die legendäre Eremiten-Presse
betrieb.
Band 236 ("'Starke Stimmen' oder die Lust am Schönen")
beschäftigt sich u.a. mit Adolf Endler und bringt
ein ausführliches, bisher unveröffentlichtes
Gespräch, das Jürgen Verdofsky im Oktober 2007
mit dem 2009 verstorbenen Autor in dessen Berliner Wohnung
geführt hat. Auch erinnert Herbert Wiesner an den
Lyriker Johannes Schenk (1941-2006).
"Der Sprung über die Kante" lautet der Titel von Nummer
237, in der es vor allem um den Erzähler Gerd-Peter Eigner (*1942)
geht, der 1960 nach Paris zog, 1971 freier Schriftsteller wurde, mehr
als zwanzig Jahre lang mit wechselnden Wohnsitzen durch die Welt reiste
und seit 1998 in Berlin lebt. Vielleicht hätte man statt vieler
Würdigungen literarischer Weggenossen den Autor selbst, der in der
dva und bei Hanser veröffentlicht hat, stärker zu Wort kommen
lassen sollen. Reizvoll sind ein Ausschnitt aus dem Roman Golli (1978),
der vom Lächeln der Schwäne handelt, und aus Mitten entzwei (1988),
der eine Phänomenologie der Wolken bringt - unter besonderer Berücksichtigung
des nordwestdeutschen Himmels bei der Annäherung an Wilhelmshaven
mit dem Zug.
In Signum 11/1 erzählt Rudolf Scholz
von dem äußerlich ereignislosen Leben der mit
empathischer Beobachtungsgabe gesegneten Bibliothekarin
Anne, die bereits vor der Wende in einer ehrwürdigen
Kleinstadtbibliothek Dienst tat und einmal mehr an ihren
Arbeitsplatz kommt, um den Betrieb allein zu bewältigen
und abends eine Lesung mit dem Schriftsteller Ottfried
Gorgas abzuhalten. Der auf Moll gestimmte Ton des 1939
in Schlesien geborenen Scholz entfaltet einen schwermütigen
Sog, und es steht zu hoffen, dass sich die Geschichte in
diesem Ton überzeugend weiterentwickelt. Auch enthält
das Heft mit Dorothea Dieckmanns "Sommer in Dresden" einen
Gedichtzyklus der Dresdner Stadtschreiberin 2009, eine
sprachverliebte, geistesgegenwärtige und kundige Eloge
auf die Stadt.
Unter dem Titel "Die leere Seite" bringt Schreibheft 74
ein "Inger-Christensen-Alphabet", das der 2009
verstorbenen dänischen Dichterin gewidmet ist. Neben
Hommagen von Kollegen und Literaturkritikern enthält
es viele deutsche Erstveröffentlichungen teils recht
entlegener Texte der Autorin, aber auch das dänische
Original und eine englische und französische sowie
zwei deutsche Übersetzungen des Meistersonetts aus
ihrem Sonettenkranz "Das Schmetterlingstal".
Berührend sind zumal die persönlichen, im Autoren-ABC
versteckten Erinnerungen der Übersetzer Hanns Grössel
und Norbert Hummelt sowie die Beobachtungen von Lutz Seiler,
dessen Kinder die Sommervögel des Gedichts, die man
auf Dänisch "Sommerfuhle" ausspricht,
noch wochenlang plappernd im Mund führten. Auch die
aus Zeitungsüberschriften collagierten Texte "Das
ahnungslose Fleisch der Aprikose" und "Die
elternlose Aprikose" von Herta Müller sind lesenswert.
Heft 120/4 der Neuen Rundschau ist dem
Schriftsteller, Arzt und Psychiater Hans Keilson zum 100.
Geburtstag gewidmet. Keilson, dessen erster Roman noch
im Erscheinungsjahr 1933 verboten wurde, arbeitete bis
1936 in Berlin als Sportlehrer, emigrierte als Jude nach
Holland, wurde während der deutschen Besatzung versteckt
und betreute jüdische Kinder, die im Versteck auffällig
wurden. Nach Kriegsende setzte er sich als Psychiater weiter
mit deren Lage auseinander und legte 1979 die bahnbrechende
Studie "Sequentielle Traumatisierung bei Kindern" vor.
Im Gespräch lässt Keilson sein Leben Revue passieren.
Beiträge zu seinen literarischen und wissenschaftlichen
Arbeiten runden das Heft ab.
Die von Michael Lentz herausgegebene Nr. 121/1 "Prosa
Leipzig" soll die Vielfalt der Stimmen am Deutschen
Literaturinstitut vorstellen, hat den Rezensenten aber
recht kalt gelassen - bis auf den Beitrag "Heideggerhosen" von
Christian Kreis, in dem es zunächst nur um Cordhosen
und um Fred Astaire in Top Hat geht, dem Musical,
in dem er mit Ginger Rogers zu "Dancing Cheek to
Cheek" tanzt und steppt; und darum, dass an die Stelle
der Versandhaushosen ("Den Untergang des Hauses Quelle
kann ich nur mit Genugtuung betrachten") H&M-Jeans
treten, ohne dass damit das Problem gelöst wäre,
wie man sich mit Maria aus der AG Grenzwertberechnung zum
Tanzen verabredet.
Hat man sich aber durch die Leipziger Elaborate gekämpft,
stößt man in der "Carte Blanche"-Sektion
aufs erste von zwei Hubert Fichte-Specials zum 75. Geburtstag
des Hamburger Autors und Lebenswelten-Dokumentars. Zumal
die "Aufzeichnungen aus dem Hirtenleben in der Provence",
die 1954 (Fichte war 19) in der Studentenzeitschrift Antares erschienen
(und seither nicht wieder), sind ungemein kraftvoll: "Über
mir lodert die Milchstraße. Irgendwo summt ein Lastwagen,
und für Sekunden schwingt all mein Fernweh mit in
dem Geräusch dieses Fahrzeugs", bringt der junge
Hirte, der aus Hamburg-Lokstedt geflohen ist, zu Papier. "Die
Bäume und Büsche lispeln. Unruhig häufen
sich die Schafe. Unablässig orgelt am Nachmittag der
Mistral. Er ist noch nicht ganz heruntergekommen, aber
schon entführt er ein Schellengeläut und wirft
es von der entgegengesetzten Seite an mein Ohr, als hätte
ich Schafe verloren, die hinten mit einer einzigen Glocke
herumirrten. Aber bevor ich mich vergewissern kann, schallt
das trügerische Läuten wieder von anderswo." Das
ist ganz modern und steckt doch noch in den 50ern. Und
es hat eine enorme Poetizität, die Fichte sich später
zugunsten nüchternerer Ansätze versagt hat.
War die erste der beiden Hochstapler-Ausgaben von Kultur & Gespenster noch
sehr unterhaltsam, so hat sich der Rezensent bei deren
jüngerer Schwester rasch gefragt: Wozu jetzt das?
Nachdem das Pulver nahezu verschossen ist? Immerhin gibt
es eine charmante Fotostrecke mit Werbepostkarten der Berliner
Look-Alike-Agentur Rosemarie Fieting, die 1987 im Märkischen
Viertel gegründet wurde und manche "Madonna
Louise Ciccone" und "Norma Jeane Mortenson" im
Angebot hatte. Und Sebastian Burdach schreibt über
Herbert Achternbuschs Bierkampf (1976) viel Kluges,
etwa: "Achternbusch spielt hier einen Anti-Hochstapler,
der nur vorgibt, ein Hochstapler, ein falscher Polizist
zu sein. Er gibt sich aber gar keine Mühe, irgendwelche
Erwartungen an diese Polizisten-Rolle zu erfüllen.
Im Gegenteil ist er von der ersten Minute an, als er sich
uniformiert durch die Menschenmenge drängt und dabei
immer wieder 'Vorsicht, Polizei' ruft, nur darauf aus,
die Rolle selbst, die er gerade vorgeblich spielt, als
untauglich vorzuführen und zu zerstören. Er hat
die Uniform nur angezogen, um damit Dinge zu tun, die ein
echter Polizist oder ein vergleichbar Respekt heischender
staatlicher Amtsträger bei der Ausübung seines
Berufs keinesfalls tun würde."
Was mag Martin Brinkmann bewogen haben, in Ausgabe 13 der Krachkultur eine
sechzigseitige Auswahl von Texten des Nationalbolschewisten
Edward Limonow zu präsentieren? Auch wenn die Antwort dem Rezensenten
ideologische Bauchschmerzen bereitet: Es dürfte die
literarische Qualität gewesen sein. Denn was Limonow
etwa in dem trostlosen New Yorker Hotelzimmertext "Mussolini
und andere Faschisten" behandelt, ist zwar bisweilen
forciert viril und deutlich genug trieb- und aggressionsgesteuert,
schlägt aber immer wieder ironische Volten und bindet
das markige Gerede an die trüben Bedingungen seiner
Möglichkeit: "Und so lebte ich im Embassy. Von
meinen alten Bekannten kreuzte nur noch Jan bei mir auf,
und mein einziger enger Freund war in dieser Zeit mein
Fernseher 'Adventurer'. Ich denke an seinen verstaubten
kleinen grauen Plastikkörper wie an den Körper
eines Freundes. Eine Schramme auf der Stirn über dem
Bildschirmgesicht, scharfe Runzelsprünge unter dem
Kinn. Er teilte schlimme Alkoholexzesse und die Schrecken
der Einsamkeit mit mir. In seiner Gesellschaft lächelte
ich, schrie, weinte, tanzte Tango, Walzer, Rock 'n' Roll.
Angezogen, halbnackt, nackt. Was denkt ihr denn, was einsame
Typen in den Hotelzimmern so tun? Na eben das, was ich
tat: Sie pflegen ihren Wahnsinn."
Nach dem Ende der Sowjetunion kehrte der in die USA emigrierte
Limonow nach Moskau zurück und bewegte sich im rechtsradikalen
Spektrum, und das soll nicht verharmlost werden. Und doch
ist gegen den Sog einer solchen Textstelle schwerlich ein
Kraut gewachsen: "Wir warfen uns alles über,
was wir nur finden konnten: unsere Mäntel, den Überzug
vom Sofa - und kopulierten verzweifelt unterm Porträt
von Mussolini im grünen Helm auf rotem Hintergrund.
(...) Von dem zu engen Gummi hattest du an der Taille
eine rote Vertiefung. Ich habe deine rote Vertiefung geküsst.
Wie, war das jetzt die neue nationalbolschewistische Ästhetik,
sich mit der Parteigenossin unter dem Porträt von
Benito Mussolini zu vereinigen? Meine doofen Schriftstellerkollegen
können diese neue Welt - zwei Paar Armeestiefel
und zwei Jeans vors Sofa geworfen - nicht verstehen.
Mit einem Mädchen, das, wie sich herausstellt, kein
einziges Kleid besitzt und nie einen Rock anhat. Am Morgen
sahen wir, dass das Fenster oben auf war und es hereingeschneit
hatte. Im Tageslicht warst du ganz weiß, wie der
Winter, wie die Milch." Es ist Martin Brinkmann und
der Übersetzerin Barbara Lehmann, die von Tschechow
bis Sorokin manches übertragen hat, hoch anzurechnen,
ohne ideologische Scheuklappen auf einen brillanten Autor
aufmerksam gemacht zu haben, der Pelewin, Dostojewski,
Bukowski und sein eigenes Leben zu einem starken Sud verköchelt
hat.
Schließlich sei den Fans des Göttinger Universalgelehrten
Hans Jürgen von der Wense (1894-1966), dessen Werk
aus versprengten Veröffentlichungen - zumal Kompositionen
sowie Übersetzungen aus entlegenen Sprachen - besteht,
der aber in Heften und Mappen enorme Stoffsammlungen und
zudem ein nicht mehr nur von Eingeweihten geschätztes
Briefwerk hinterlassen hat, Band 185 von Text
+ Kritik ans Herz gelegt, der neben einer akribischen
Bibliografie zwei schöne, in lesbarster Wissenschaftsprosa
verfasste Aufsätze enthält: Rainer Niehoff berichtet
inspiriert und aus intimer Textkenntnis, wie sich Wandern
und Schreiben bei Wense gegenseitig befruchteten: "Kleiner
Raum also, hohe Geschwindigkeit, lange Laufzeit, schlechtes
Schuhwerk, gute Antriebsaggregate und querfeldein mit Messtischblättern:
Was sucht dieser Schatzgräber in den deutschen Mittelgebirgen?
Zunächst sucht Wense nach Namen, Zeichen und Ereignissen,
nach landschaftlichen, geografischen, historischen und
kulturellen Auffälligkeiten, die durch die gewissermaßen übergroße
regionale Nähe unsichtbar geworden sind; er spaziert
nicht vor sich hin, sondern erkundet Übergänge,
eigentümliche Zwischenräume, Bruchstellen, 'Einhakungen,
Scharniere oder Geflechte' der Landschaft und des Wissens - Orte
und Punkte also, die nicht 'Ziele' sind, sondern Schnittstellen
markieren, Verbindungen herstellen, Linienverläufe
skizzieren."
Auch Harald Kimpels Text über Wense als Besucher der documenta 1-3
(1955-64) ist herrlich zu lesen, weil er in die bescheidene
Frühgeschichte der inzwischen so berühmten Ausstellung
führt und beschreibt, wie sich ein exzentrischer Querdenker
zur Restaurationszeit im Provokationsgehege der modernen
Kunst bewegte. |