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BELLA triste
Freitext
Kultur & Gespenster
Macondo
Neue Rundschau
Ort der Augen
Signum

 
Zeitschriftenschau 58
Andreas Heckmann
 

Sich oder seiner Generation in einem Text zu begegnen, der eine offenkundig lange schon vergangene Zeit beschreibt, irritiert, denn unvermutet fällt einem (mal wieder) auf die Seele, dass man nicht mehr jung ist. DuMont-Lektor Jo Lendle (*1968) gelingt das in der neuen BELLA triste mit einem Auszug seines Romans Mein letzter Versuch die Welt zu retten, dessen jugendlicher Protagonist Anfang der achtziger Jahre an den Protesten gegen das im Wendland geplante Atommüll-Endlager Gorleben teilnimmt. Der Text, der den Tocotronic-Wunsch "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" breit auszubuchstabieren scheint und dabei rasch und sogar in Gesprächen darüber, wen man wann bei einer Festnahme wie informiert, Wehmut auslöst, widmet sich der wohl letzten großen Jugendbewegung der Bundesrepublik und rückt diese bald dreißig Jahre zurückliegende Zeit trotz der erlebnisnahen Ich-Perspektive doch seltsam fern.
Die Illustrationen der neuen BELLA - in Blau gehaltene Zeichnungen einzelner Tiere auf rein weißem Hintergrund, denen die ausgesparten Käfigstäbe oder Gitternetze gleichsam auf den Leib gebrannt sind - rücken Gefangenschaft und Isolation aus der Perspektive des Zoobesuchers eindringlich vor Augen, sodass der Betrachter kaum anders kann, als in der Verfassung der Tiere eine Visualisierung des eigenen Seelenzustands zu sehen: eine verunsichernde Erfahrung. Friedemann Bochow ist mit "Im Gehege" mit einfachsten Mitteln eine ungemein überzeugende Bildfindung geglückt.
Dem Augenblick ist die neue Macondo gewidmet, in der Astrid Ruppert von einer Barkeeperin erzählt, die auf einer Arktiskreuzfahrt fast (oh beseligender Moment!) von einem Eisbären gefressen worden wäre, wenn eine Frau sich nicht opfermutig dazwischengestellt hätte und … unangerührt geblieben wäre: ein Setting, das viel Platz für Gedanken über das Verschmähen und Verschmähtwerden bietet. Sehr unterhaltsam und sprachlich elegant.
Freitext ist ein in Hannover erscheinendes Kultur- und Gesellschaftsmagazin, das sich laut Selbstauskunft "aus transkultureller Perspektive mit Kulturproduktion beschäftigt". Weniger bombastisch gesagt, widmet sich die Zeitschrift dem interkulturellen Dialog und behandelt literarisch, vor allem aber essayistisch Themen wie "Race and Space", "Um Grenzen" oder "Vor die Hunde". Dabei ist weder in der grafischen Gestaltung noch in der Behandlung der Themen eine allzu ordnende Hand zu erkennen, was Chance (Offenheit), aber auch Gefahr (Beliebigkeit) ist. Und das Reflexionsniveau der Texte schwankt deutlich.
Lesenswert ist zweifellos der Essay "Der Transport des Fleisches", in dem Reinhard Knodt mit Virilio einen Dreisprung von "Transportiertes Fleisch" über "Bewegung und Zustand" zu "Transport als Welt" macht, also über das Verschwinden der Erfahrung von Welt zugunsten standardisierter Transportzustände spricht. Spannend werden solche Überlegungen freilich erst, wenn man sie in größere Kontexte einbettet, sie also beispielsweise auf die weltweiten Migrationsströme anwendet, wie etwa Tom Holert und Mark Terkessidis dies in Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung - von Migranten und Touristen (KiWi 2006) getan haben. Überhaupt dürfte es bei Freitext wohl noch ein Weilchen dauern, bis die Schere zwischen kulturkritischer Ambition und gelegentlich etwas schlichten Inhalten geschlossen ist.
Ort der Augen (oda), "die Literaturzeitschrift Sachsen-Anhalts", erscheint mit Unterstützung des dortigen Kultusministeriums und in der Redaktion von André Schinkel zweimal jährlich farbig gedruckt auf edlem Papier. Schon ein Blick auf die Beiträger der aktuellen Ausgabe beweist eine hohe Dichte von Rang und Namen. So zählen Volker Braun, Hans Georg Bulla, Hugo Dittberner und Wulf Kirsten zu den Autoren, und doch will der Eindruck nicht weichen, dass "oda" primär Textabwurfstelle ist, also eine Sammlung im Einzelfall sehr geglückter Beiträge, die sich kaum zu einem kohärenten Eindruck rundet. So was muss man mögen, um es zu goutieren.
Vor dem Hintergrund von Monika Marons im Frühjahr erschienener Reportage Bitterfelder Bogen über ihre späte Rückkehr an den Handlungsort ihres Romans Flugasche (1981) hat mir in der aktuellen Ausgabe zumal das Tagebuch des 2005 aus dem Westen nach Bitterfeld gezogenen Bibliothekars Klaus Seehafer gefallen, in dem es heißt: "Ich kann nur sagen, dass ich achtundfünfzig Jahre lang ein Wessi war, der schon seit Studententagen einen Hang zum Osten hatte. Was nichts mit politischen Sehnsüchten zu tun hatte. Es war die Landschaft der so genannten neuen Bundesländer, die ich liebte, lange schon, bevor die Grenze offen war, ihre Geschichte und nicht zuletzt: die Art, wie ihre Menschen improvisierten [...] // Am Abend gehe ich noch mal mit der Taschenlampe auf den Deich, denn in der Kurve, wo die 'Blaue Bank' steht, gibt es kein Licht. Über mir das Sausen von Flügeln und leises Gequarre. Wildgänse fliegen übern See. Auch einen Merlinfalken glaube ich tags zuvor erkannt zu haben. Die Fischadler dürften längst irgendwo in Afrika sein. Ich aber bin und bleibe nun hier."
Ob der Reiz dieses Textes allerdings nicht gerade darin liegt, dass der Autor seine Umgebung auf fast groteske Weise missverstehen zu wollen scheint, bleibe dahingestellt. Immerhin muss die Frage erlaubt sein, ob eine industriell derart verheerte und danach ökologisch komplett sanierte, also erneut umgekrempelte Landschaft wie das sächsische Chemiedreieck ernstlich als ostische Sehnsuchtslandschaft apostrophiert werden kann. Vielleicht führt ein Blick in die Gedichte von Andreas Altmann da erheblich näher an den Zauber ostdeutscher Landschaften - ein Blick übrigens, der sich auch von einer Münchner Chaiselongue aus tun lässt.
Dass bei der eher streng anmutenden Zeitschrift Signum zum Lachen nicht in den Keller gegangen wird, dafür sorgen einige Autoren mit glücklicher Hand fürs Heitere, zu denen auch Michael Wüstefeld gehört. "Dreitausendachthundertzweiunddreißig Seiten" heißt seine Satire, eine "Jahrgangswürdigung" von zwölf Büchern, die Dresdner Autoren 2008 veröffentlicht haben und die nicht notwendig in Sachsens Hauptstadt spielen. Literaturfreunde dürften sofort an Tellkamps Turm und Beyers Kaltenburg denken, doch auch Ingo Schulzes Adam und Evelyn und Jens Wonnebergers Gegenüber brennt noch Licht haben Stadtbezug, während Dresden in Christian Lehnerts Auf Moränen "reduziert als Fußnote unter einem Gedicht und auf der Umschlagklappe als Geburtsort des Autors" erwähnt wird. Michael Wüstefelds augenzwinkernder Versuch einer Systematisierung und Quantifizierung der Dresdenbezüge hat freilich dort einen bitteren Beigeschmack, wo er Belege dafür bringt, dass Tellkamp bei Wonneberger abgeschrieben, dies aber nicht kenntlich gemacht hat. Wer wie der Rezensent aus einiger Entfernung so bewundernd wie gelassen auf die Dresdner literarische Szene blickt, neigt aber womöglich nicht umstandslos dazu, Wüstefelds Verdikt ("Ein Trauerspiel.") zu teilen.
In der Neuen Rundschau haben sich Anfang des Jahres deutschsprachige Schriftsteller zu Alfred Döblin geäußert, sei es essayistisch (und mitreißend lakonisch wie Dietmar Dath, der den Objekten seines Erkenntnisinteresses so gern mit schnodderigen Formulierungen bei größter intellektueller Wendigkeit beunruhigend nah auf den zum Schillern gebrachten Leib rückt), sei es im Gespräch (wie Ingo Schulze, der sich an Döblins Lust begeistert, Realität auf dem kurzen Dienstweg der Montage flugs in seine Texte einzubauen: "Man findet dort [= im Literaturarchiv in Marbach] irre Dinge, wie er zum Beispiel einfach den Brief einer Patientin eingeklebt hat. Er korrigiert Kleinigkeiten in dem Brief, und dann klebt er den ins Manuskript."), sei es in Form eines zeitversetzten intellektuellen Zwiegesprächs, bei dem der eine (Ulrich Peltzer) anekdotisch gestimmt um Franz Biberkopf und die Folgen kreist (Fassbinder, Faustrecht der Freiheit), während die andere (Kathrin Kollmeier) als Spottvogel kritische Fußnoten zu den Ausführungen Peltzers setzt: eine vergnügliche, zum Mitreden herausfordernde, sehr ausbauwürdige literarische Kleinform. Dass Döblin in den geglückten Beiträgen dieses Hefts (und das sind nicht wenige) eher Stichwortgeber der ästhetischen Selbstverständigung und nicht so sehr Objekt der Exegese ist, dürfte ihm nur recht sein.
Roberto Ohrt, der Situationismus-Experte aus Hamburg, hat die neue Ausgabe von Kultur & Gespenster zusammengestellt, die sich dem Thema Hochstapler widmet, aber nicht einfach so, sondern "I/II". Ob man dabei (wie der Rezensent) ein braunes Cover mit dem jungen Schmalz-Elvis oder ein graues Cover mit dem alten Fett-Beuys erwischt, ist eine Sache des Zufalls.
Es soll Leute geben, die das Wort Hochstapler hören können, ohne dabei sofort an Walter Serner zu denken. Ihnen, aber auch den altgedienten und hart gesottenen Serner-Fans zu Freud und Frommen beginnt das Heft mit einem Auszug aus Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, einem Buch der Tricks und Finten, aber auch des Handwerksstolzes und des aufrechten Gangs trotz diebisch züngelnder Gaunerfinger. Das Buch, spätestens seit Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte als ein zentraler Text der klassischen Moderne kanonisiert, wird vom zunehmend unentbehrlichen Enno Stahl heiter kommentiert, ehe Frank Apunkt Schneider über den "Fake als künstlerische Strategie" schreibt und dann - auch mit Roberto Ohrt - über Georg Paul Thomann plaudert, einen "von der Wien-Graz-Bamberger Gruppe monochrom erfundenen österreichischen Großkünstler, dessen Weg durch das späte 20. Jahrhundert markante Punkte und Positionen der Gegenkulturgeschichte sowie der künstlerischen Avantgarde miteinander verbindet". In diesem turbulenten Gespräch purzeln die Erkenntnisperlen nur so aufs mit schwarzer Auslegeware geschmückte Diskursparkett: "Also Thomann [so Schneider] kann sich immer auf alles beziehen, was wir wissen. Und ich finde diese Art von investigativer 70er- und 80er-Jahre-Kunst auch gut, aber es fehlt immer der Spaß dabei. Bei einem Günter-Wallraff-Buch kann man ja kaum lachen. --- Du meinst diesen humorlosen politischen Ansatz [so Roberto Ohrt], vorneweg geht es um Aufklärung, und die unfreiwillige Komik bei Wallraff ist kein Thema, die Selbstporträts, die man dann kennt: Klebt sich einen Bart an, sieht aus wie Günter Grass, kann sich dann einschleichen mit 'nem Käppi auf - das sieht doch alles ganz lustig aus. Gelten soll aber nur die Aufklärung."
Einmal mehr überzeugen die Bildbeiträge der neuen Ausgabe, vor allem die sechzehn spannungsvollen Parallelporträts, die die Herren Beuys und Elvis in sich oft verblüffend gleichenden Posen und Settings zeigen, als würden sie bloß erstaunlich ähnliche öffentliche Erwartungshaltungen bedienen, was bei Beuys stärker überraschen mag als bei Elvis. Sehr schön auch Thorsten Passfelds Comic "Ulrike und die Anderen", ein Lebensdrama, das im Kreißsaal beginnt, wo die lieben Mitgeborenen Sätze wie "Ich bin aus reinem Gold!", "Ich kann fliegen!" oder "Ich kann Karate!" ausstoßen, während es bei Baby Ulrike nur zu "Oje. Ich habe nichts und kann auch noch nichts. Am besten stell ich mich schlafend" reicht.

 
  • BELLA triste 24. € 5,00.
  • Freitext 13: Vor die Hunde. € 5,00.
  • Kultur & Gespenster 8: Hochstapler I/II. € 12,00.
  • Macondo 21: Augenblick. € 7,50.
  • Neue Rundschau 120/1: Alfred Döblin. € 12,00.
  • Ort der Augen 2/2009. € 4,90.
  • Signum 10/2. € 8,20.