Sich oder seiner Generation in einem Text zu
begegnen, der eine offenkundig lange schon vergangene Zeit beschreibt,
irritiert, denn unvermutet fällt einem (mal wieder) auf die
Seele, dass man nicht mehr jung ist. DuMont-Lektor Jo Lendle (*1968)
gelingt das in der neuen
mit einem Auszug seines Romans Mein letzter Versuch die Welt
zu retten, dessen jugendlicher Protagonist Anfang der achtziger
Jahre an den Protesten gegen das im Wendland geplante Atommüll-Endlager
Gorleben teilnimmt. Der Text, der den Tocotronic-Wunsch "Ich
möchte Teil einer Jugendbewegung sein" breit auszubuchstabieren
scheint und dabei rasch und sogar in Gesprächen darüber,
wen man wann bei einer Festnahme wie informiert, Wehmut auslöst,
widmet sich der wohl letzten großen Jugendbewegung der Bundesrepublik
und rückt diese bald dreißig Jahre zurückliegende
Zeit trotz der erlebnisnahen Ich-Perspektive doch seltsam fern.
Die Illustrationen der neuen BELLA - in Blau gehaltene Zeichnungen
einzelner Tiere auf rein weißem Hintergrund, denen die ausgesparten
Käfigstäbe oder Gitternetze gleichsam auf den Leib gebrannt
sind - rücken Gefangenschaft und Isolation aus der Perspektive
des Zoobesuchers eindringlich vor Augen, sodass der Betrachter
kaum anders kann, als in der Verfassung der Tiere eine Visualisierung
des eigenen Seelenzustands zu sehen: eine verunsichernde Erfahrung.
Friedemann Bochow ist mit "Im Gehege" mit einfachsten
Mitteln eine ungemein überzeugende Bildfindung geglückt.
Dem Augenblick ist die neue
gewidmet, in der Astrid Ruppert von einer Barkeeperin erzählt,
die auf einer Arktiskreuzfahrt fast (oh beseligender Moment!)
von einem Eisbären gefressen worden wäre, wenn eine
Frau sich nicht opfermutig dazwischengestellt hätte und
unangerührt geblieben wäre: ein Setting, das viel Platz
für Gedanken über das Verschmähen und Verschmähtwerden
bietet. Sehr unterhaltsam und sprachlich elegant.
ist ein in Hannover erscheinendes
Kultur- und Gesellschaftsmagazin, das sich laut Selbstauskunft
"aus transkultureller Perspektive mit Kulturproduktion beschäftigt".
Weniger bombastisch gesagt, widmet sich die Zeitschrift dem interkulturellen
Dialog und behandelt literarisch, vor allem aber essayistisch
Themen wie "Race and Space", "Um Grenzen"
oder "Vor die Hunde". Dabei ist weder in der grafischen
Gestaltung noch in der Behandlung der Themen eine allzu ordnende
Hand zu erkennen, was Chance (Offenheit), aber auch Gefahr (Beliebigkeit)
ist. Und das Reflexionsniveau der Texte schwankt deutlich.
Lesenswert ist zweifellos der Essay "Der Transport des Fleisches",
in dem Reinhard Knodt mit Virilio einen Dreisprung von "Transportiertes
Fleisch" über "Bewegung und Zustand" zu "Transport
als Welt" macht, also über das Verschwinden der Erfahrung
von Welt zugunsten standardisierter Transportzustände spricht.
Spannend werden solche Überlegungen freilich erst, wenn man
sie in größere Kontexte einbettet, sie also beispielsweise
auf die weltweiten Migrationsströme anwendet, wie etwa Tom
Holert und Mark Terkessidis dies in Fliehkraft. Gesellschaft
in Bewegung - von Migranten und Touristen (KiWi 2006) getan
haben. Überhaupt dürfte es bei Freitext wohl noch ein
Weilchen dauern, bis die Schere zwischen kulturkritischer Ambition
und gelegentlich etwas schlichten Inhalten geschlossen ist.
(oda), "die Literaturzeitschrift
Sachsen-Anhalts", erscheint mit Unterstützung des dortigen
Kultusministeriums und in der Redaktion von André Schinkel
zweimal jährlich farbig gedruckt auf edlem Papier. Schon
ein Blick auf die Beiträger der aktuellen Ausgabe beweist
eine hohe Dichte von Rang und Namen. So zählen Volker Braun,
Hans Georg Bulla, Hugo Dittberner und Wulf Kirsten zu den Autoren,
und doch will der Eindruck nicht weichen, dass "oda"
primär Textabwurfstelle ist, also eine Sammlung im Einzelfall
sehr geglückter Beiträge, die sich kaum zu einem kohärenten
Eindruck rundet. So was muss man mögen, um es zu goutieren.
Vor dem Hintergrund von Monika Marons im Frühjahr erschienener
Reportage Bitterfelder Bogen über ihre späte
Rückkehr an den Handlungsort ihres Romans Flugasche
(1981) hat mir in der aktuellen Ausgabe zumal das Tagebuch des
2005 aus dem Westen nach Bitterfeld gezogenen Bibliothekars Klaus
Seehafer gefallen, in dem es heißt: "Ich kann nur sagen,
dass ich achtundfünfzig Jahre lang ein Wessi war, der schon
seit Studententagen einen Hang zum Osten hatte. Was nichts mit
politischen Sehnsüchten zu tun hatte. Es war die Landschaft
der so genannten neuen Bundesländer, die ich liebte, lange
schon, bevor die Grenze offen war, ihre Geschichte und nicht zuletzt:
die Art, wie ihre Menschen improvisierten [...] // Am Abend gehe
ich noch mal mit der Taschenlampe auf den Deich, denn in der Kurve,
wo die 'Blaue Bank' steht, gibt es kein Licht. Über mir das
Sausen von Flügeln und leises Gequarre. Wildgänse fliegen
übern See. Auch einen Merlinfalken glaube ich tags zuvor
erkannt zu haben. Die Fischadler dürften längst irgendwo
in Afrika sein. Ich aber bin und bleibe nun hier."
Ob der Reiz dieses Textes allerdings nicht gerade darin liegt,
dass der Autor seine Umgebung auf fast groteske Weise missverstehen
zu wollen scheint, bleibe dahingestellt. Immerhin muss die Frage
erlaubt sein, ob eine industriell derart verheerte und danach
ökologisch komplett sanierte, also erneut umgekrempelte Landschaft
wie das sächsische Chemiedreieck ernstlich als ostische Sehnsuchtslandschaft
apostrophiert werden kann. Vielleicht führt ein Blick in
die Gedichte von Andreas Altmann da erheblich näher an den
Zauber ostdeutscher Landschaften - ein Blick übrigens, der
sich auch von einer Münchner Chaiselongue aus tun lässt.
Dass bei der eher streng anmutenden Zeitschrift
zum Lachen nicht in den Keller gegangen wird, dafür sorgen
einige Autoren mit glücklicher Hand fürs Heitere, zu
denen auch Michael Wüstefeld gehört. "Dreitausendachthundertzweiunddreißig
Seiten" heißt seine Satire, eine "Jahrgangswürdigung"
von zwölf Büchern, die Dresdner Autoren 2008 veröffentlicht
haben und die nicht notwendig in Sachsens Hauptstadt spielen.
Literaturfreunde dürften sofort an Tellkamps Turm
und Beyers Kaltenburg denken, doch auch Ingo Schulzes Adam
und Evelyn und Jens Wonnebergers Gegenüber brennt
noch Licht haben Stadtbezug, während Dresden in Christian
Lehnerts Auf Moränen "reduziert als Fußnote
unter einem Gedicht und auf der Umschlagklappe als Geburtsort
des Autors" erwähnt wird. Michael Wüstefelds augenzwinkernder
Versuch einer Systematisierung und Quantifizierung der Dresdenbezüge
hat freilich dort einen bitteren Beigeschmack, wo er Belege dafür
bringt, dass Tellkamp bei Wonneberger abgeschrieben, dies aber
nicht kenntlich gemacht hat. Wer wie der Rezensent aus einiger
Entfernung so bewundernd wie gelassen auf die Dresdner literarische
Szene blickt, neigt aber womöglich nicht umstandslos dazu,
Wüstefelds Verdikt ("Ein Trauerspiel.") zu teilen.
In der haben sich Anfang
des Jahres deutschsprachige Schriftsteller zu Alfred Döblin
geäußert, sei es essayistisch (und mitreißend
lakonisch wie Dietmar Dath, der den Objekten seines Erkenntnisinteresses
so gern mit schnodderigen Formulierungen bei größter
intellektueller Wendigkeit beunruhigend nah auf den zum Schillern
gebrachten Leib rückt), sei es im Gespräch (wie Ingo
Schulze, der sich an Döblins Lust begeistert, Realität
auf dem kurzen Dienstweg der Montage flugs in seine Texte einzubauen:
"Man findet dort [= im Literaturarchiv in Marbach] irre Dinge,
wie er zum Beispiel einfach den Brief einer Patientin eingeklebt
hat. Er korrigiert Kleinigkeiten in dem Brief, und dann klebt
er den ins Manuskript."), sei es in Form eines zeitversetzten
intellektuellen Zwiegesprächs, bei dem der eine (Ulrich Peltzer)
anekdotisch gestimmt um Franz Biberkopf und die Folgen kreist
(Fassbinder, Faustrecht der Freiheit), während die
andere (Kathrin Kollmeier) als Spottvogel kritische Fußnoten
zu den Ausführungen Peltzers setzt: eine vergnügliche,
zum Mitreden herausfordernde, sehr ausbauwürdige literarische
Kleinform. Dass Döblin in den geglückten Beiträgen
dieses Hefts (und das sind nicht wenige) eher Stichwortgeber der
ästhetischen Selbstverständigung und nicht so sehr Objekt
der Exegese ist, dürfte ihm nur recht sein.
Roberto Ohrt, der Situationismus-Experte aus Hamburg, hat die
neue Ausgabe von
zusammengestellt, die sich dem Thema Hochstapler widmet, aber
nicht einfach so, sondern "I/II". Ob man dabei (wie
der Rezensent) ein braunes Cover mit dem jungen Schmalz-Elvis
oder ein graues Cover mit dem alten Fett-Beuys erwischt, ist eine
Sache des Zufalls.
Es soll Leute geben, die das Wort Hochstapler hören können,
ohne dabei sofort an Walter Serner zu denken. Ihnen, aber auch
den altgedienten und hart gesottenen Serner-Fans zu Freud und
Frommen beginnt das Heft mit einem Auszug aus Letzte Lockerung.
Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden
wollen, einem Buch der Tricks und Finten, aber auch des Handwerksstolzes
und des aufrechten Gangs trotz diebisch züngelnder Gaunerfinger.
Das Buch, spätestens seit Helmut Lethens Verhaltenslehren
der Kälte als ein zentraler Text der klassischen Moderne
kanonisiert, wird vom zunehmend unentbehrlichen Enno Stahl heiter
kommentiert, ehe Frank Apunkt Schneider über den "Fake
als künstlerische Strategie" schreibt und dann - auch
mit Roberto Ohrt - über Georg Paul Thomann plaudert, einen
"von der Wien-Graz-Bamberger Gruppe monochrom erfundenen
österreichischen Großkünstler, dessen Weg durch
das späte 20. Jahrhundert markante Punkte und Positionen
der Gegenkulturgeschichte sowie der künstlerischen Avantgarde
miteinander verbindet". In diesem turbulenten Gespräch
purzeln die Erkenntnisperlen nur so aufs mit schwarzer Auslegeware
geschmückte Diskursparkett: "Also Thomann [so Schneider]
kann sich immer auf alles beziehen, was wir wissen. Und ich finde
diese Art von investigativer 70er- und 80er-Jahre-Kunst auch gut,
aber es fehlt immer der Spaß dabei. Bei einem Günter-Wallraff-Buch
kann man ja kaum lachen. --- Du meinst diesen humorlosen politischen
Ansatz [so Roberto Ohrt], vorneweg geht es um Aufklärung,
und die unfreiwillige Komik bei Wallraff ist kein Thema, die Selbstporträts,
die man dann kennt: Klebt sich einen Bart an, sieht aus wie Günter
Grass, kann sich dann einschleichen mit 'nem Käppi auf -
das sieht doch alles ganz lustig aus. Gelten soll aber nur die
Aufklärung."
Einmal mehr überzeugen die Bildbeiträge der neuen Ausgabe,
vor allem die sechzehn spannungsvollen Parallelporträts,
die die Herren Beuys und Elvis in sich oft verblüffend gleichenden
Posen und Settings zeigen, als würden sie bloß erstaunlich
ähnliche öffentliche Erwartungshaltungen bedienen, was
bei Beuys stärker überraschen mag als bei Elvis. Sehr
schön auch Thorsten Passfelds Comic "Ulrike und die
Anderen", ein Lebensdrama, das im Kreißsaal beginnt,
wo die lieben Mitgeborenen Sätze wie "Ich bin aus reinem
Gold!", "Ich kann fliegen!" oder "Ich kann
Karate!" ausstoßen, während es bei Baby Ulrike
nur zu "Oje. Ich habe nichts und kann auch noch nichts. Am
besten stell ich mich schlafend" reicht.
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