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EDIT
BELLA triste
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Signum
Testcard
Sterz
Schreibheft

 
Zeitschriftenschau 57
Andreas Heckmann
 

Stoßgebete helfen mitunter. Was BELLA triste angeht, habe ich zwei gen Himmel geschickt. Bitte weniger Lyrik und weniger Gerede darüber! Und bitte keine den Augen, der Nase und den Fingern gleichermaßen unangenehme Aufmachung mehr! Und siehe: Die neue BELLA kommt mit weit weniger Lyrik und ohne strapaziöses Layout aus. Sehr löblich. Prompt macht es wieder Freude, darin zu lesen.
Sabrina Janesch erzählt in "Die äußerste Grenze" evokationsstark von einer morgendlichen Nebelfahrt auf stibitztem Rad zu einem schlesischen Dorffriedhof und spielt dabei Orts- und Familiengeschichte eindringlich ein. Felicia Zeller, deren Kurzprosa nicht selten ihre Längen hat - ich denke an manches aus Einsam lehnen am Bekannten (2008) -, zeigt sich mit ihrer Einhütegeschichte "Mit Pflanzen soll man reden" auf der Höhe ihrer ironisch-grotesken Kunst und schreibt Kaskaden bester Sätze. Die Schönheit des Anfangs wird dabei nicht nennenswert unterboten: "In Berlin, wo ich mit meinem Freund, dem windigen Kulissenmaler Q., lebe, habe ich oft Sehnsucht nach Stuttgart, wo alles klein und übersichtlich ist, man im vertrauten Kreise Vertrautes austauscht, wo sanft die Brezel knirscht. Im heimischen Kessel, so muss ich oft denken, lebt der Mensch noch ruhig und besonnen, denn im Kessel kommt man mit Hektik auch nicht schneller voran. Friedlich steigt dort der Atem fleißiger Schwaben auf, und wenn etwas gejagt und gehetzt wird, dann das Wild." Bedrückender erzählt Bernhard Strobel in "Sonntagsruhe" von einem Loser, der anlässlich einer Beerdigung kurz in den wenig trauten Verwandtenkreis zurückkehrt. Familienschande, Traumata, Misstrauen, Hass, beklemmende Schuldgefühle, all das wird angespielt, aber nie benannt. So bekommt der Besuch dieses Mannes mittleren Alters etwas seltsam Unbestimmtes und Beunruhigendes.

Stets mehr scheint die Krachkultur die literarischen Obsessionen ihrer Herausgeber Martin Brinkmann und Fabian Reimann abzubilden. Diesmal umfasst die Reihe der Ahnen, denen gehuldigt wird, Leon Bloy (der mit Blutschweiß 1893 grausame Erzählungen aus dem deutsch-französischen Krieg veröffentlicht hat), H.P. Lovecraft, Raymond Carver sowie Matthias BAADER Holst, der mit faksimilierten Gedichten ("Miss Marple - Erinnerungen aus der Einzelhaft unter dem Einfluss von Heilerde") vertreten ist und den Brinkmann in einem Essay würdigt. BAADER (*1962), das Wunderkind des DDR-Undergrounds der späten 80er Jahre und der Wendezeit, der 1990 direkt vor der Währungsunion mit achtundzwanzig nach einem Unfall starb und sein schmales Werk in "suizidaler Euphorie" (Ulrich Horstmann) geschaffen hat, ist auch Thema zweier Briefe, die Thomas Kling an Brinkmann geschrieben hat und die in der Krachkultur kommentiert abgedruckt sind.
Gegenüber dem Andenken (lang) verstorbener Vorbilder hat die homöopathisch eingestreute Gegenwartsliteratur - ob von gestandenen Autoren wie Stefan Beuse oder Xaver Bayer oder aus weniger bekannter Feder - einmal mehr bloß Feigenblattcharakter, was nicht stört, aber anders sein könnte. Unbedingt ist der Krachkultur zu wünschen, dass ihr der Sponsor erhalten bleibt, damit sie sich weiter beherzt als Zeitschrift profilieren kann, in der sich Boheme und Philologie in einzigartiger Weise begegnen und befruchten. Auch gegen ein neues Buch von Martin Brinkmann wäre nichts einzuwenden - das letzte, der Roman Heute gehen alle spazieren, erschien schon 2001, und das ist elend lange her.

Lange hat es gedauert, bis die neue EDIT als Doppelnummer erschienen ist. Erneut beweist darin Andreas Altmann sein lyrisches Vermögen (auch in Ausgabe 1/2009 der "Akzente" ist er vertreten, und man darf auf seinen zur kommenden Leipziger Buchmesse bei Poetenladen erscheinenden Gedichtband gespannt sein).
Interessanter als die dicke Doppelnummer jedoch ist EDIT 47 aus dem letzten Herbst, in der Franz Friedrich mit "Pinguine" eine verführerisch bizarre Geschichte unter Antarktisreisenden erzählt, die es inmitten watschelnder Vögel auf einer Forschungsstation in Südpolnähe zusammen werden aushalten müssen, was aufgrund der Idiosynkrasien des hochneurotischen Ich-Erzählers ein großes Lesevergnügen von Roman-Format zu werden verspricht: "Niemand kann sich vorstellen, was für eine Tortur es bedeutet, sich zwei Wochen lang und auf engstem Raum mit diesen Idioten herumzuschlagen. Mit kleinkriminellen Marinesoldaten, Karola Stern sowie meinen Kollegen Konstantin und Marcel, von denen der eine herzkrank und der andere jähzornig ist. Eine kaputte Immarsatanlage und Techniker, die nicht in der Lage sind, über ein normales Satellitentelefon eine DFÜ-Verbindung aufzubauen. Jeden Tag der hoffnungslose Versuch, mit meinem tschechischen Kollegen Honolka zu telefonieren, der auf den Kerguelen mit der Vorbereitung unseres Projektes beauftragt ist, im Rücken eine Meute lauter, quengelnder, sich ständig schubsender Achtzehnjähriger, die sich auch noch einen Spaß daraus machen, die Phonetik der deutschen Sprache zu imitieren. Rings um mich herum nichts als der öde graue Ozean."
Kaum ist der Friedrich-Text begeistert ausgelesen, folgt mit "Ich bin das Glück dieser Erde" von Alban Lefranc die nächste nachhaltige Beglückung (anderer Ansicht aber Lukas Lyngsberg im Rezensionsteil dieser Ausgabe). Der aus dem Französischen übersetzte Beitrag stammt aus dem ersten Teil einer Romantrilogie, die 2008 im Blumenbar Verlag unter dem Titel Angriffe: Fassbinder, Vesper, Nico erschienen ist. In diesem Auszug geht es um den 31. Mai 1982, Rainer Werner Fassbinders 37. und letzten Geburtstag, der - wie Gerüchte wissen wollen - groß gefeiert werden soll ("Gehst du hin? Vielleicht triffst du dort wichtige Leute.") Hier wird rhapsodisch, ja taumelnd erzählt, herrlich wüst, exzessiv, ungeniert: "Verlange nach Rainer, und alle werden dich zu mir leiten, Penner und Nutten, Bus- und Taxifahrer, Bullen in Uniform und in Zivil, Priester und Richter, Soldaten, Anarchisten, sie werden in einer Prozession zu meinem Palast hin schreiten, sie werden dich auf Händen tragen, damit die Steine deinen nackten Fuß nicht schneiden, mit Blumenkränzen werden sie dich schmücken, und die Glut ihrer Gesänge wirst du bis ins Innerste deiner Brust hinein spüren. Meine Gesten werden wie Öl über dich gleiten, Milch und Honig werden dir unter die Zunge strömen, deine Lenden werde ich mit Myrrhe und Aloe salben, doch solltest du dich sträuben, sollte ich spüren, dass du nur eine Sekunde lang glaubtest, nicht bereit zu sein, nur eine Sekunde nicht zu wollen, nicht zu lieben, nur eine Sekunde schon zu bereuen, dann wird meine Gewalt dich zu überzeugen wissen, mein gestähltes Fett, und überwältigt wirst du mir unter Tränen und Schluchzen danken", lässt Lefranc Fassbinder denken.

Mit "Die tragische Intensität Europas - eine Literatur aus Serbien" ist Schreibheft 71 überschrieben. Peter Handke hat darin Texte der ihm liebsten serbischen Autoren versammelt und sich mit Herausgeber Žarko Radakovic über diese Schriftsteller unterhalten, ohne dabei starke, auch grobe Worte zu scheuen. Erhellender sind wohl die vielen Beiträge oft schon kanonisierter Autoren wie Danilo Kiš, Aleksandar Tišma und Bora Cosic, in denen die Zäsur des Bürgerkriegs mitunter fast übermächtig präsent ist. Vielleicht deshalb habe ich Dragan Velikics frühe Erzählung "Falsche Bewegung" (1983) so gern gelesen, eine erotisch-surreale Träumerei, luftiger Sensualismus im Labyrinth von Reizen und Lockungen, von Brigitte Döbert - der Übersetzerin von Miljenko Jergovics großem Roman Das Walnusshaus - einmal mehr eindrucksvoll übertragen.
"Die Frage nach Milton Sills" stellt das aktuelle Schreibheft 72 und versammelt "wirkliche und erfundene Gespräche mit Cees Nooteboom, Hugo Claus, Jorge Luis Borges und Ernesto Sábato", wie es im Untertitel heißt. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem Abdruck des Marathongesprächs, das Nooteboom nach der Veröffentlichung von Der Kummer von Belgien mit Hugo Claus für den belgischen Rundfunk geführt hat. Zwei kalte, windige Apriltage lang zogen die beiden durch die Dörfer und Kleinstädte Flanderns, in denen Claus groß geworden ist und die er in seinem Buch beschrieben hat. So entstand ein Radiogespräch in sechs langen Folgen, das hier erstmals auf Deutsch zu lesen ist.

Vor gut fünfzig Jahren erschien Peter Szondis "Traktat über philologische Erkenntnis" in der Neuen Rundschau, deren Nr. 119/3 daher dem großen Literaturwissenschaftler gewidmet ist. Herzstück des Hefts ist der von Andreas Isenschmid edierte Briefwechsel Szondis mit Hilde Domin. Isenschmid nennt die 27 Schriftstücke, die 1962-66 gewechselt wurden, eine "über lange Strecken scheinbar harmlos-geschäftig verlaufende Korrespondenz", bei der höchstens auffällt, dass die redselige Domin um die Aufmerksamkeit des zwanzig Jahre jüngeren Szondi buhlt, der ihre Aufforderungen zur Mitarbeit an Anthologien und anderen Projekten indessen so verbindlich wie bestimmt zurückweist, bis es 1965 zu einer höflichen, aber prinzipiellen Auseinandersetzung über "die Art des Umgangs mit Deutschen, die eine unklare Vergangenheit haben oder sich zur nationalsozialistischen Vergangenheit unklar verhalten" (Isenschmid), kommt. Anlass war die Mitarbeit Richard Exners (der sich an Claire Golls Rufmord-Kampagne, Paul Celan habe Gedichte ihres Mannes Yvan plagiiert, beteiligt hatte) an Domins Sammelband Doppelinterpretationen, was Szondi auf ein Mitwirken verzichten ließ. Während Domin ihm daraufhin am 9.4.65 "Fanatismus" und "unversöhnlichen Hass" vorwarf und ihn bat: "(…) seien Sie menschlich, haben Sie Güte. Und seien Sie nicht ungerecht", schreibt Szondi am 14.5.65 in weit kühlerem Ton an die "liebe gnädige Frau": "Wir alle sind Überlebende, und jeder von uns versucht auf seine Weise, mit dieser Schmach fertig zu werden. Die Treue, die Sie mir ausreden wollen, ist vielleicht ein solcher Weg."
Überdies enthält das Heft mit Géza Ottliks von Szondi vergeblich empfohlener Erzählung "Die Drahtbrille" eine so leichte wie abgründige Budapester Geschichte, die Regalmeter von Sándor Márai-Büchern ersetzen dürfte, sowie die diesmal von Clemens Meyer verfasste Beilage "Ankleben verboten!" mit ihren dreizehn Thesen zur Technik des Schriftstellers, die - neben dem beherzigenswerten Rat: "Schreibe immer so, als wolltest du deine Finger retten" - auch die Erkenntnis enthält: "In Büchern sind großartige halbdunkle Kneipen entstanden."
Heft 119/4 der Rundschau widmet sich dem Thema "Film und Erzählen" und enthält einen hübsch gnomisch raunenden Text "Drehbuch und Passion", in dem SZ-Filmredakteur Fritz Göttler "Zwei oder drei Dinge über die Ordnung im Film" zu Papier gebracht hat. Betulicher geht der Romancier Thomas Brussig zu Werke, der in dem Beitrag "Bücher sind das andere" eine sympathische Lanze für das Lesen gerade dicker Bände bricht, mit denen es Filme in punkto Autonomie und Subjektivität nicht aufnehmen könnten. Dies mit einer umwerfenden Erzählung einmal mehr evident gemacht zu haben, ist das Verdienst Thorsten Palzhoffs (Tasmon (2006)), der in "Livia" zwei WDR-Dokumentarfilmer im Rumänien der Wendezeit verloren gehen lässt. Jahre später erst geraten Redakteure zufällig an das letzte Material, das die beiden in Transsylvanien gedreht haben. Der Text, der als politische Reportage aus der Wendezeit im hellen Mittag von Bukarest im Umbruch beginnt, steigt ins Halbdunkel konspirativer Treffen mit Informanten, die an den "Spion, der aus der Kälte kam" denken lassen, und von dort in eine mythisch umwitterte rumänische Unterwelt hinab, in der der Murnausche Stummfilmschauer von Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens fröhliche Urständ feiert. Man glaubt lesend, das sich schon zersetzende, mal über-, mal unterbelichtete Material zu sehen: Triumph der Evokation eines sich nicht bloß visuell vermittelnden Grauens und überzeugendes Pendant zu Theodore Roszaks mitreißendem Roman Schattenlichter.
Auch das Interview, das Werner Herzog - dessen 1967 auf griechischen Inseln entstandenes Spielfilmdebüt Lebenszeichen jedem ans Herz gelegt sei - 2007 mit dem Dokumentarfilmer Errol Morris geführt hat, gehört zu den Höhepunkten des schönen Hefts. Mit wem ließe sich glaubwürdiger über "ekstatische Wahrheit" ("keine Ahnung, was er damit meint", so Morris) und "ekstatische Absurdität" reden als mit Herzog, dessen Audiokommentar zu Aguirre - der Zorn Gottes die irisierende Gewalt dieses Films noch potenziert.

Wer noch nicht wusste, dass nackt vor der Waschmaschine kniende untersetzte Weiße, die den Kopf in die Trommel stecken und die Hände neben den Füßen auf den Fliesenboden des Badezimmers legen, im Profil wie Hähnchen aussehen, die auf den Spieß warten, ja gehören, der besehe sich das Titelblatt der neuen, dem Regress gewidmeten Testcard. Beschwingt fragt Dietmar Dath dort eingangs, wie sich den Zumutungen, denen man heute allerorten ausgesetzt ist, würdig begegnen lässt, und geißelt nicht zuletzt einen Puritanismus, der sich im Auswaschen von Joghurtbechern austobt, spottet über "Sittsamkeits-Idioten", die Helmut Schmidt wegen Rauchen anzeigen, und lässt uns wissen, dass man in den Straßenbahnen der Öko-Hauptstadt Freiburg nicht mal mehr Wasser trinken darf (in München kann man sein Stöffche immerhin noch als Limo tarnen). Angesichts der Furie des Abschaffens, die nicht nur Sozialstaat und Lohnarbeit, sondern auch das Rauchen in Kneipen und das Trinken in Straßenbahnen umfasst, fragt Dath: "Wäre es nicht zur Abwechslung recht schön, wenn das Abschaffen mal von denen besorgt würde, die nichts zu erben haben und, wie das pathetische alte Wörtchen sagt, auch nichts zu verlieren als ihre Ketten und Lohnsteuerkarten und Zeitverträge (…) und Berechtigungsdokumente für den Almosenempfang und Schulzeugnisse und Bachelor-Diplome und (…) Kirchensteuerbescheide und den ganzen Mist?"
Es ist die Crux dieses entspannten, ohne Trara auf der Höhe der Theorie angesiedelten Textes, dass in seinem langen Schatten fast alles, was an kritischen Essays folgt, schwerfällig, bemüht und redundant wirkt und viel zu viel kulturwissenschaftliches Vokabular benötigt, um recht einfache Zusammenhänge in ein mitunter erschreckend umständliches Deutsch zu fassen. Eine Ausnahme ist immerhin Sascha Seilers Text über "Kanonbildung in der Popmusik", in dem einige Retrobands besprochen werden, die mit dem Re-Enactment von Genesis-Tourneen durch die Lande ziehen oder, besser noch, immer wieder das Konzert aufführen, in dem David Bowie 1973 das Ende von "Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" verkündete. Auch Wolfgang Seidel - einst Drummer von "Ton, Steine, Scherben" - hat Interessantes darüber zu erzählen, "wie das Zukunftsversprechen des Pop vom Rückschritt abgelöst wurde".
Das Highlight des Hefts allerdings ist das Interview mit dem Hildesheimer Filmemacher Wenzel Storch. Ich erinnere mich gern, wie ich 1994 im Marburger "Café Trauma" mit Derk Frerichs Storchs Sommer der Liebe sah, eine 70er-Jahre-Orgie rückhaltlosester, von Geboten des guten Geschmacks und der Dramaturgie selig unberührter Art, einen Kitschfilm von so bezaubernder Selbstverständlichkeit, dass mir hinterher unbegreiflich war (und mitunter noch ist), wie die Welt das Stadium großblumiger Hippie-Kattungewänder hat verlassen und warum Menschen die Blumenwiese haben räumen können, in der sie mit neckisch wippenden Füßen so glücklich lagen. Storch berichtet von seiner hochkatholischen kleinbürgerlichen Kindheit und vom Onkel, einem Missionar in Kamerun: "Er hatte immer einen Sack Abenteuerliteratur aus der Mission dabei. Darunter tolle Kriminalromane, die sich um den berühmten Detektiv Fritz Falke drehten. Eines Tages hängt Fritz Falke seinen Anzug in den Schrank, um Missionar in Afrika zu werden. Fortan schnüffelt er in seiner Mönchskutte - er heißt jetzt Bruder Justus - im Busch herum und löst unter den Hottentotten irgendwelche Fälle." Dass eine streng katholische Kindheit nach geglückter Emanzipation ihre heiteren Seiten hat, klingt in dem schönen Interview mehrmals an: "Wenn die Hildesheimer KAB - die ‚Katholische Arbeitnehmerbewegung', das ist so eine Art DGB der Katholiken - einen Ausflug in die Lüneburger Heide oder zum Bremer Roland unternommen hat, hat mein Vater mit der Quetschkommode immer hinterm Busfahrer gesessen und Wanderlieder gespielt." Wer zum Interview mit Arno Orzessek ein völlig anders geartetes katholisches Pendant sucht, dem sei Wenzel Storchs Gespräch mit Martin Büsser empfohlen. Auch sei auf Storchs Buch Der Bulldozer Gottes hingewiesen, das im April im Ventil Verlag erschienen ist.

Der Sterz hat nicht nur sein hundertstes Heftjubiläum hinter sich, er kommt mit der 101., dem Thema Streit gewidmeten Ausgabe auch auf Hochglanzpapier und weit aufgeräumter daher als früher. Die Zeit des Wildwuchses scheint vorbei, zumindest im Layout. Allzu umwerfend sind die Texte aber diesmal nicht ausgefallen; beeindruckend ist eigentlich nur "Die Kuh" von Hendrik Zinkant, eine Erzählung, in der ländliche Underdogs ein heillos aus dem Ruder laufendes Saufgelage abhalten, an dessen Ende sich der Erzähler mit einer munter kotenden Kuh in seinem Zimmer vorfindet, was den Vermieter nicht erfreut. Der Autor dieses skurrilen, einem anarchischen Humor verpflichteten Texts stammt übrigens aus Hamm, wuchs bei Osnabrück auf und hat in den Neunzigern in Münster Germanistik studiert. Schön ist auch die Illustration seines Beitrags: eine mit schlichtem Strich umrissene, leicht abgewandte Kuh in Seitenansicht, die dem aufgeschlagen immerhin DIN A2-großen Text hinterlegt ist.

Wer in der Pubertät zur Besänftigung des Trieblebens lange Radfahrten ins Grüne unternahm, wird sich der Verlockungen entsinnen, die im ländlichen Nirgendwo von Etablissements ausgingen, die "Top Secret" oder "Privat Club B 69" hießen, an einer Kreisstraße zwischen zwei Dörfern oder ein wenig abgerückt und hinter einer Mauer von Rhododendren an der Bundesstraße standen und einen - kaum hatte man sich in die Rolle des Pedalchampions fantasiert - abrupt daran erinnerten, wovor man floh. "Ländliche Puffs" heißt die herrlich krause S/W-Fotoserie von Herbert Perl, deren wohl schönste Aufnahme auf dem pinkfarbenen Cover der neuen Kultur & Gespenster prangt, die der "Autofiktion" gewidmet ist ("keine Ahnung, was damit gemeint ist", um an Errol Morris anzuknüpfen).
Stefan Ripplinger berichtet von den Zitatmontagen Uwe Nettelbecks aus den sechziger und siebziger Jahren, die erst Attacke auf den aufs Voneinanderabschreiben spezialisierten Kulturbetrieb, dann subversives Projekt waren, sich der Entlarvung durch Wiederholung oder irritierende Kombinationen verpflichtet wussten und ihr Material in der TV-Unterhaltung, auf Plattenhüllen oder bei Karl Philipp Moritz fanden. Sarah Schmidt schreibt über das intermediale Bilderwerk "Leben? Oder Theater?" von Charlotte Salomon (*1917), die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, in den zwei Jahren zuvor aber ein aus 1325 Zeichnungen bestehendes Werk schuf, das sie vor der Deportation mit den Worten: "Heben Sie das gut auf, c'est toute ma vie", einem Arzt in Südfrankreich gegeben hat. Auch enthält die neue Ausgabe unter dem Titel "Die dunckle Finsterniß hatte hier allenthalben ihren Schweins-Braten ausgestreuet" ein Gespräch mit Alexander Rischer, der besonders im Oberhessischen, aber auch in Ostfalen und Ostwestfalen - in Gegenden also, die Hans Jürgen von der Wense wandernd zu durchstreifen pflegte - teils jahrhundertealte Bauten fotografiert hat, die heute kurios anmutenden Zwecken dienten, etwa das Nadelöhr im Kreis Bad Hersfeld, durch das es zu kriechen galt, um in symbolischer Wiedergeburt eine Krankheit abzustreifen, einen Taubenturm im Kreis Höxter, Außenkanzeln auf Friedhöfen und bei Wallfahrtszielen oder Kirchenruinen auf freiem Feld. Rischer gibt einlässlich Auskunft über seine Obsession und wehrt eingangs die Vermutung ab, ein Becher-Schüler eigener Art zu sein, der statt Sauerlandfachwerk und Zechentürmen skurrile Relikte primär volkskundlich-ethnologischer Natur dokumentiert. Beim Nadelöhr nahe Hersfeld hatte er übrigens "eine sehr viel musealisiertere Interpretation des Objektes (…) erwartet, aber das ist tatsächlich unfassbar peripher und heruntergekommen an einem LKW-Parkplatz. Das ist auch irgendwo typisch Hessen." Goldene Worte.

Die zweimal jährlich erscheinende Dresdner Zeitschrift Signum zieht es stets mit einem Exkurs in überschaubare Weiten. Im Sommer 2007 wurde Literatur aus Mainz, im Winter 2008 aus Vorarlberg präsentiert, letzten Sommer kamen gar - Doppelexkurs! - Kölner Literaten und ungarndeutsche Literatur zum Zug, im Winter 2009 Schriftsteller aus St. Pölten, aus Niederösterreich also. So mögen sich Netzwerke und regionale Vertriebswege erschlossen haben. Herz und Stärke von Signum aber ist zweifellos die Verankerung in der sächsischen, genauer: der Dresdner Literaturszene. Die Stadt an der Elbe (um das Wort Elbflorenz zu umschiffen) hat nicht nur herkunftsstolze Bewohner, sie hat auch eine Reihe bekannter und weniger bekannter, aber bemerkenswerter Autoren zu bieten, die sich in Signum erfreulich häufig zu Wort melden. Autorenpflege wird dort also groß geschrieben.
So lässt Jens Wonneberger in "Zimmermann also" (Heft 8/2) seinen Helden, einen kleinen Angestellten im Außendienst, nach vielen Jahren wieder in die sächsische Provinz kommen. Was ihm an gewendeter Dumpfheit, planierter Landschaft und aggressiver Hoffnungslosigkeit entgegenschlägt, ist von jeder Elbtal- und Elbsandsteingebirgsseligkeit so weit entfernt wie der Hades von den elysischen Feldern; ein beklemmender Text, zumal der unsympathische Zimmermann zum Retter des Erzählers aus fremdenfeindlicher Bredouille wird, ohne dadurch im Mindesten sympathisch zu werden.
"Wie lange ist das her, dass die Nächte noch finster waren und still?", lässt Wonneberger eine andere Figur überlegen, die in "Alaunstraße, Freitagnacht" (Heft 10/1) gedankenverloren durch Dresdens Äußere Neustadt auf dem Heimweg ist und - frei von Nostalgie, aber den Erinnerungen zur Treue verpflichtet - sich darüber wundert, wie schrecklich weit die Stadt es in den letzten zwei Jahrzehnten gebracht hat und wie die Menschen darauf reagieren: mit vorauseilender Generalamnesie. Und plötzlich weiß der Erzähler "nicht, was das bedeutet: deine Zeit. Ist sie abgelaufen, bloß weil du die Dinge nicht brauchst, die der gut sortierte Fachhandel in die Schaufenster stellt?"
Im gleichen Heft hält Jürgen Israel eine Eröffnungsrede zum Thema "Sommerfrische". Diese Ausstellung hat es nie gegeben, doch auch Am Erker 59 wird sich im Frühsommer 2010 diesem Thema widmen. Über der Sommerfrische, so Israel, "liegt eine leicht erotische Atmosphäre. (…) Ich will jetzt nicht darüber sprechen, was den modernen Urlaub von der Sommerfrische früherer Jahre unterscheidet. Aber ein wenig von der Kultur vergnügten und behutsamen Aufeinanderzugehens bislang fremder Menschen, ein wenig von der Leichtigkeit des Lebens während eines begrenzten Zeitabschnitts bekämen uns gewiss gut."
Auch Erich Sobeslavsky wundert sich in seinem apart verstolperten und dabei beschwingt melancholischen Impromptu "In den Zeiten der Demonstrationen" (Heft 9/2) über einen Tausch, der nicht eben vorteilhaft war: "(…) dann waren wir in San Francisco gewesen am Pazifischen Ozean und auf den Spanischen Inseln im Atlantik, der Wind wehte den Sand über die Inseln, die Luft war völlig gelb, ja, orange in dem Wind, gleichzeitig brachen die ein in unser geliebtes Land, ach, die Dörfer (…)." Das Zerkrümeln der Wendeeuphorie und der Beginn einer neuen bleiernen Zeit werden in große Bilder und durch kalkulierte syntaktische Brüche kunstvoll ins Spröde getriebene Sätze gefasst, die in der schwermütigen Beobachtung gipfeln: "Auch die schönen jungen Frauen verschwanden, die mit uns auf den Straßen gewesen waren in der Zeit der Demonstrationen."
Ohnehin hat Norbert Weiß, der Herausgeber von Signum, ein Händchen für melancholische Texte, wie die Landschaftsbeobachtungen der 1929 in Sachsen geborenen, seit 1949 in Schweden lebenden Christine Dahl zeigen, die in Uppsala Insektenkunde lehrte. In "Bilder" (Heft 9/1) beschreibt sie Natur in wunderbaren Sätzen: "Spätsonne vor Mitternacht, im Nordwesten sammeln sich dünne Wolkenschleier mit Nachtgold zum Sonnenuntergang."
Zu den halbjährlichen Heften kommen sporadisch Sonderhefte; das letzte - Sandstein macht hart - erschien 2006 zu Dresdens achthundertjährigem Stadtjubiläum und enthält einige schöne Prosastücke, Marcel Beyers "Binnenromantik. Dresdner Bilder" beispielsweise, Jörg Bernigs "Ein Leben in China", Wolfgang Hädeckes "Katja" oder Thomas Rosenlöchers "Dresdens Besonderheit". Auch Norbert Weiß zeigt in "Schwimmfest", wo sein Alter Ego Pol morgens mit dem Rad zum Hallenbad fährt, um seine Bahnen zu ziehen, dass er nicht nur Zeitschriftenmacher, sondern auch ein veritabler Schriftsteller ist.

 
  • BELLA triste 23. 5 €.
  • EDIT 47, 48/49. Je 5 €.
  • Krachkultur 12. 10 €.
  • Kultur & Gespenster 7: Autofktion. 12 €.
  • Neue Rundschau 119/3: Peter Szondi; 119/4: Film und Erzählen. Je 12 €.
  • Schreibheft 71: Eine Literatur aus Serbien; 72: Wirkliche und erfundene Gespräche. Je 12 €.
  • Signum 8/2, 9/1, 9/2, 10/1 und Sonderheft 10. Je 8,20 €.
  • Sterz 101: Streit/-Kultur. 6 €.
  • Testcard 18: Regress. 14,50 €.