Stoßgebete helfen mitunter. Was BELLA
triste angeht, habe ich zwei gen Himmel geschickt. Bitte
weniger Lyrik und weniger Gerede darüber! Und bitte keine
den Augen, der Nase und den Fingern gleichermaßen unangenehme
Aufmachung mehr! Und siehe: Die neue BELLA kommt mit weit weniger
Lyrik und ohne strapaziöses Layout aus. Sehr löblich.
Prompt macht es wieder Freude, darin zu lesen.
Sabrina Janesch erzählt in "Die äußerste
Grenze" evokationsstark von einer morgendlichen Nebelfahrt
auf stibitztem Rad zu einem schlesischen Dorffriedhof und spielt
dabei Orts- und Familiengeschichte eindringlich ein. Felicia Zeller,
deren Kurzprosa nicht selten ihre Längen hat - ich denke
an manches aus Einsam lehnen am Bekannten (2008) -, zeigt sich
mit ihrer Einhütegeschichte "Mit Pflanzen soll man reden"
auf der Höhe ihrer ironisch-grotesken Kunst und schreibt
Kaskaden bester Sätze. Die Schönheit des Anfangs wird
dabei nicht nennenswert unterboten: "In Berlin, wo ich mit
meinem Freund, dem windigen Kulissenmaler Q., lebe, habe ich oft
Sehnsucht nach Stuttgart, wo alles klein und übersichtlich
ist, man im vertrauten Kreise Vertrautes austauscht, wo sanft
die Brezel knirscht. Im heimischen Kessel, so muss ich oft denken,
lebt der Mensch noch ruhig und besonnen, denn im Kessel kommt
man mit Hektik auch nicht schneller voran. Friedlich steigt dort
der Atem fleißiger Schwaben auf, und wenn etwas gejagt und
gehetzt wird, dann das Wild." Bedrückender erzählt
Bernhard Strobel in "Sonntagsruhe" von einem Loser,
der anlässlich einer Beerdigung kurz in den wenig trauten
Verwandtenkreis zurückkehrt. Familienschande, Traumata, Misstrauen,
Hass, beklemmende Schuldgefühle, all das wird angespielt,
aber nie benannt. So bekommt der Besuch dieses Mannes mittleren
Alters etwas seltsam Unbestimmtes und Beunruhigendes.
Stets mehr scheint die Krachkultur die
literarischen Obsessionen ihrer Herausgeber Martin Brinkmann und
Fabian Reimann abzubilden. Diesmal umfasst die Reihe der Ahnen,
denen gehuldigt wird, Leon Bloy (der mit Blutschweiß
1893 grausame Erzählungen aus dem deutsch-französischen
Krieg veröffentlicht hat), H.P. Lovecraft, Raymond Carver
sowie Matthias BAADER Holst, der mit faksimilierten Gedichten
("Miss Marple - Erinnerungen aus der Einzelhaft unter dem
Einfluss von Heilerde") vertreten ist und den Brinkmann in
einem Essay würdigt. BAADER (*1962), das Wunderkind des DDR-Undergrounds
der späten 80er Jahre und der Wendezeit, der 1990 direkt
vor der Währungsunion mit achtundzwanzig nach einem Unfall
starb und sein schmales Werk in "suizidaler Euphorie"
(Ulrich Horstmann) geschaffen hat, ist auch Thema zweier Briefe,
die Thomas Kling an Brinkmann geschrieben hat und die in der Krachkultur
kommentiert abgedruckt sind.
Gegenüber dem Andenken (lang) verstorbener Vorbilder hat
die homöopathisch eingestreute Gegenwartsliteratur - ob von
gestandenen Autoren wie Stefan Beuse oder Xaver Bayer oder aus
weniger bekannter Feder - einmal mehr bloß Feigenblattcharakter,
was nicht stört, aber anders sein könnte. Unbedingt
ist der Krachkultur zu wünschen, dass ihr der Sponsor erhalten
bleibt, damit sie sich weiter beherzt als Zeitschrift profilieren
kann, in der sich Boheme und Philologie in einzigartiger Weise
begegnen und befruchten. Auch gegen ein neues Buch von Martin
Brinkmann wäre nichts einzuwenden - das letzte, der Roman
Heute gehen alle spazieren, erschien schon 2001, und das
ist elend lange her.
Lange hat es gedauert, bis die neue EDIT
als Doppelnummer erschienen ist. Erneut beweist darin Andreas
Altmann sein lyrisches Vermögen (auch in Ausgabe 1/2009 der
"Akzente" ist er vertreten, und man darf auf seinen
zur kommenden Leipziger Buchmesse bei Poetenladen erscheinenden
Gedichtband gespannt sein).
Interessanter als die dicke Doppelnummer jedoch ist EDIT 47 aus
dem letzten Herbst, in der Franz Friedrich mit "Pinguine"
eine verführerisch bizarre Geschichte unter Antarktisreisenden
erzählt, die es inmitten watschelnder Vögel auf einer
Forschungsstation in Südpolnähe zusammen werden aushalten
müssen, was aufgrund der Idiosynkrasien des hochneurotischen
Ich-Erzählers ein großes Lesevergnügen von Roman-Format
zu werden verspricht: "Niemand kann sich vorstellen, was
für eine Tortur es bedeutet, sich zwei Wochen lang und auf
engstem Raum mit diesen Idioten herumzuschlagen. Mit kleinkriminellen
Marinesoldaten, Karola Stern sowie meinen Kollegen Konstantin
und Marcel, von denen der eine herzkrank und der andere jähzornig
ist. Eine kaputte Immarsatanlage und Techniker, die nicht in der
Lage sind, über ein normales Satellitentelefon eine DFÜ-Verbindung
aufzubauen. Jeden Tag der hoffnungslose Versuch, mit meinem tschechischen
Kollegen Honolka zu telefonieren, der auf den Kerguelen mit der
Vorbereitung unseres Projektes beauftragt ist, im Rücken
eine Meute lauter, quengelnder, sich ständig schubsender
Achtzehnjähriger, die sich auch noch einen Spaß daraus
machen, die Phonetik der deutschen Sprache zu imitieren. Rings
um mich herum nichts als der öde graue Ozean."
Kaum ist der Friedrich-Text begeistert ausgelesen, folgt mit "Ich
bin das Glück dieser Erde" von Alban Lefranc die nächste
nachhaltige Beglückung (anderer Ansicht aber Lukas Lyngsberg
im Rezensionsteil dieser Ausgabe). Der aus dem Französischen
übersetzte Beitrag stammt aus dem ersten Teil einer Romantrilogie,
die 2008 im Blumenbar Verlag unter dem Titel Angriffe: Fassbinder,
Vesper, Nico erschienen ist. In diesem Auszug geht es um den
31. Mai 1982, Rainer Werner Fassbinders 37. und letzten Geburtstag,
der - wie Gerüchte wissen wollen - groß gefeiert werden
soll ("Gehst du hin? Vielleicht triffst du dort wichtige
Leute.") Hier wird rhapsodisch, ja taumelnd erzählt,
herrlich wüst, exzessiv, ungeniert: "Verlange nach Rainer,
und alle werden dich zu mir leiten, Penner und Nutten, Bus- und
Taxifahrer, Bullen in Uniform und in Zivil, Priester und Richter,
Soldaten, Anarchisten, sie werden in einer Prozession zu meinem
Palast hin schreiten, sie werden dich auf Händen tragen,
damit die Steine deinen nackten Fuß nicht schneiden, mit
Blumenkränzen werden sie dich schmücken, und die Glut
ihrer Gesänge wirst du bis ins Innerste deiner Brust hinein
spüren. Meine Gesten werden wie Öl über dich gleiten,
Milch und Honig werden dir unter die Zunge strömen, deine
Lenden werde ich mit Myrrhe und Aloe salben, doch solltest du
dich sträuben, sollte ich spüren, dass du nur eine Sekunde
lang glaubtest, nicht bereit zu sein, nur eine Sekunde nicht zu
wollen, nicht zu lieben, nur eine Sekunde schon zu bereuen, dann
wird meine Gewalt dich zu überzeugen wissen, mein gestähltes
Fett, und überwältigt wirst du mir unter Tränen
und Schluchzen danken", lässt Lefranc Fassbinder denken.
Mit "Die tragische Intensität Europas - eine Literatur
aus Serbien" ist Schreibheft 71
überschrieben. Peter Handke hat darin Texte der ihm liebsten
serbischen Autoren versammelt und sich mit Herausgeber arko
Radakovic über diese Schriftsteller unterhalten, ohne dabei
starke, auch grobe Worte zu scheuen. Erhellender sind wohl die
vielen Beiträge oft schon kanonisierter Autoren wie Danilo
Ki, Aleksandar Tima und Bora Cosic, in denen die Zäsur
des Bürgerkriegs mitunter fast übermächtig präsent
ist. Vielleicht deshalb habe ich Dragan Velikics frühe Erzählung
"Falsche Bewegung" (1983) so gern gelesen, eine erotisch-surreale
Träumerei, luftiger Sensualismus im Labyrinth von Reizen
und Lockungen, von Brigitte Döbert - der Übersetzerin
von Miljenko Jergovics großem Roman Das Walnusshaus
- einmal mehr eindrucksvoll übertragen.
"Die Frage nach Milton Sills" stellt das aktuelle Schreibheft
72 und versammelt "wirkliche und erfundene Gespräche
mit Cees Nooteboom, Hugo Claus, Jorge Luis Borges und Ernesto
Sábato", wie es im Untertitel heißt. Besondere
Aufmerksamkeit gebührt dem Abdruck des Marathongesprächs,
das Nooteboom nach der Veröffentlichung von Der Kummer
von Belgien mit Hugo Claus für den belgischen Rundfunk
geführt hat. Zwei kalte, windige Apriltage lang zogen die
beiden durch die Dörfer und Kleinstädte Flanderns, in
denen Claus groß geworden ist und die er in seinem Buch
beschrieben hat. So entstand ein Radiogespräch in sechs langen
Folgen, das hier erstmals auf Deutsch zu lesen ist.
Vor gut fünfzig Jahren erschien Peter Szondis "Traktat
über philologische Erkenntnis" in der , deren Nr. 119/3 daher dem großen Literaturwissenschaftler
gewidmet ist. Herzstück des Hefts ist der von Andreas Isenschmid
edierte Briefwechsel Szondis mit Hilde Domin. Isenschmid nennt
die 27 Schriftstücke, die 1962-66 gewechselt wurden, eine
"über lange Strecken scheinbar harmlos-geschäftig
verlaufende Korrespondenz", bei der höchstens auffällt,
dass die redselige Domin um die Aufmerksamkeit des zwanzig Jahre
jüngeren Szondi buhlt, der ihre Aufforderungen zur Mitarbeit
an Anthologien und anderen Projekten indessen so verbindlich wie
bestimmt zurückweist, bis es 1965 zu einer höflichen,
aber prinzipiellen Auseinandersetzung über "die Art
des Umgangs mit Deutschen, die eine unklare Vergangenheit haben
oder sich zur nationalsozialistischen Vergangenheit unklar verhalten"
(Isenschmid), kommt. Anlass war die Mitarbeit Richard Exners (der
sich an Claire Golls Rufmord-Kampagne, Paul Celan habe Gedichte
ihres Mannes Yvan plagiiert, beteiligt hatte) an Domins Sammelband
Doppelinterpretationen, was Szondi auf ein Mitwirken verzichten
ließ. Während Domin ihm daraufhin am 9.4.65 "Fanatismus"
und "unversöhnlichen Hass" vorwarf und ihn bat:
"(
) seien Sie menschlich, haben Sie Güte. Und
seien Sie nicht ungerecht", schreibt Szondi am 14.5.65 in
weit kühlerem Ton an die "liebe gnädige Frau":
"Wir alle sind Überlebende, und jeder von uns versucht
auf seine Weise, mit dieser Schmach fertig zu werden. Die Treue,
die Sie mir ausreden wollen, ist vielleicht ein solcher Weg."
Überdies enthält das Heft mit Géza Ottliks von
Szondi vergeblich empfohlener Erzählung "Die Drahtbrille"
eine so leichte wie abgründige Budapester Geschichte, die
Regalmeter von Sándor Márai-Büchern ersetzen
dürfte, sowie die diesmal von Clemens Meyer verfasste Beilage
"Ankleben verboten!" mit ihren dreizehn Thesen zur Technik
des Schriftstellers, die - neben dem beherzigenswerten Rat: "Schreibe
immer so, als wolltest du deine Finger retten" - auch die
Erkenntnis enthält: "In Büchern sind großartige
halbdunkle Kneipen entstanden."
Heft 119/4 der Rundschau widmet sich dem Thema "Film und
Erzählen" und enthält einen hübsch gnomisch
raunenden Text "Drehbuch und Passion", in dem SZ-Filmredakteur
Fritz Göttler "Zwei oder drei Dinge über die Ordnung
im Film" zu Papier gebracht hat. Betulicher geht der Romancier
Thomas Brussig zu Werke, der in dem Beitrag "Bücher
sind das andere" eine sympathische Lanze für das Lesen
gerade dicker Bände bricht, mit denen es Filme in punkto
Autonomie und Subjektivität nicht aufnehmen könnten.
Dies mit einer umwerfenden Erzählung einmal mehr evident
gemacht zu haben, ist das Verdienst Thorsten Palzhoffs (Tasmon
(2006)), der in "Livia" zwei WDR-Dokumentarfilmer im
Rumänien der Wendezeit verloren gehen lässt. Jahre später
erst geraten Redakteure zufällig an das letzte Material,
das die beiden in Transsylvanien gedreht haben. Der Text, der
als politische Reportage aus der Wendezeit im hellen Mittag von
Bukarest im Umbruch beginnt, steigt ins Halbdunkel konspirativer
Treffen mit Informanten, die an den "Spion, der aus der Kälte
kam" denken lassen, und von dort in eine mythisch umwitterte
rumänische Unterwelt hinab, in der der Murnausche Stummfilmschauer
von Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens fröhliche Urständ
feiert. Man glaubt lesend, das sich schon zersetzende, mal über-,
mal unterbelichtete Material zu sehen: Triumph der Evokation eines
sich nicht bloß visuell vermittelnden Grauens und überzeugendes
Pendant zu Theodore Roszaks mitreißendem Roman Schattenlichter.
Auch das Interview, das Werner Herzog - dessen 1967 auf griechischen
Inseln entstandenes Spielfilmdebüt Lebenszeichen jedem
ans Herz gelegt sei - 2007 mit dem Dokumentarfilmer Errol Morris
geführt hat, gehört zu den Höhepunkten des schönen
Hefts. Mit wem ließe sich glaubwürdiger über "ekstatische
Wahrheit" ("keine Ahnung, was er damit meint",
so Morris) und "ekstatische Absurdität" reden als
mit Herzog, dessen Audiokommentar zu Aguirre - der Zorn Gottes
die irisierende Gewalt dieses Films noch potenziert.
Wer noch nicht wusste, dass nackt vor der Waschmaschine kniende
untersetzte Weiße, die den Kopf in die Trommel stecken und
die Hände neben den Füßen auf den Fliesenboden
des Badezimmers legen, im Profil wie Hähnchen aussehen, die
auf den Spieß warten, ja gehören, der besehe sich das
Titelblatt der neuen, dem Regress gewidmeten .
Beschwingt fragt Dietmar Dath dort eingangs, wie sich den Zumutungen,
denen man heute allerorten ausgesetzt ist, würdig begegnen
lässt, und geißelt nicht zuletzt einen Puritanismus,
der sich im Auswaschen von Joghurtbechern austobt, spottet über
"Sittsamkeits-Idioten", die Helmut Schmidt wegen Rauchen
anzeigen, und lässt uns wissen, dass man in den Straßenbahnen
der Öko-Hauptstadt Freiburg nicht mal mehr Wasser trinken
darf (in München kann man sein Stöffche immerhin noch
als Limo tarnen). Angesichts der Furie des Abschaffens, die nicht
nur Sozialstaat und Lohnarbeit, sondern auch das Rauchen in Kneipen
und das Trinken in Straßenbahnen umfasst, fragt Dath: "Wäre
es nicht zur Abwechslung recht schön, wenn das Abschaffen
mal von denen besorgt würde, die nichts zu erben haben und,
wie das pathetische alte Wörtchen sagt, auch nichts zu verlieren
als ihre Ketten und Lohnsteuerkarten und Zeitverträge (
)
und Berechtigungsdokumente für den Almosenempfang und Schulzeugnisse
und Bachelor-Diplome und (
) Kirchensteuerbescheide und den
ganzen Mist?"
Es ist die Crux dieses entspannten, ohne Trara auf der Höhe
der Theorie angesiedelten Textes, dass in seinem langen Schatten
fast alles, was an kritischen Essays folgt, schwerfällig,
bemüht und redundant wirkt und viel zu viel kulturwissenschaftliches
Vokabular benötigt, um recht einfache Zusammenhänge
in ein mitunter erschreckend umständliches Deutsch zu fassen.
Eine Ausnahme ist immerhin Sascha Seilers Text über "Kanonbildung
in der Popmusik", in dem einige Retrobands besprochen werden,
die mit dem Re-Enactment von Genesis-Tourneen durch die Lande
ziehen oder, besser noch, immer wieder das Konzert aufführen,
in dem David Bowie 1973 das Ende von "Ziggy Stardust and
the Spiders from Mars" verkündete. Auch Wolfgang Seidel
- einst Drummer von "Ton, Steine, Scherben" - hat Interessantes
darüber zu erzählen, "wie das Zukunftsversprechen
des Pop vom Rückschritt abgelöst wurde".
Das Highlight des Hefts allerdings ist das Interview mit dem Hildesheimer
Filmemacher Wenzel Storch. Ich erinnere mich gern, wie ich 1994
im Marburger "Café Trauma" mit Derk Frerichs
Storchs Sommer der Liebe sah, eine 70er-Jahre-Orgie rückhaltlosester,
von Geboten des guten Geschmacks und der Dramaturgie selig unberührter
Art, einen Kitschfilm von so bezaubernder Selbstverständlichkeit,
dass mir hinterher unbegreiflich war (und mitunter noch ist),
wie die Welt das Stadium großblumiger Hippie-Kattungewänder
hat verlassen und warum Menschen die Blumenwiese haben räumen
können, in der sie mit neckisch wippenden Füßen
so glücklich lagen. Storch berichtet von seiner hochkatholischen
kleinbürgerlichen Kindheit und vom Onkel, einem Missionar
in Kamerun: "Er hatte immer einen Sack Abenteuerliteratur
aus der Mission dabei. Darunter tolle Kriminalromane, die sich
um den berühmten Detektiv Fritz Falke drehten. Eines Tages
hängt Fritz Falke seinen Anzug in den Schrank, um Missionar
in Afrika zu werden. Fortan schnüffelt er in seiner Mönchskutte
- er heißt jetzt Bruder Justus - im Busch herum und löst
unter den Hottentotten irgendwelche Fälle." Dass eine
streng katholische Kindheit nach geglückter Emanzipation
ihre heiteren Seiten hat, klingt in dem schönen Interview
mehrmals an: "Wenn die Hildesheimer KAB - die Katholische
Arbeitnehmerbewegung', das ist so eine Art DGB der Katholiken
- einen Ausflug in die Lüneburger Heide oder zum Bremer Roland
unternommen hat, hat mein Vater mit der Quetschkommode immer hinterm
Busfahrer gesessen und Wanderlieder gespielt." Wer zum Interview
mit Arno Orzessek ein völlig anders geartetes katholisches
Pendant sucht, dem sei Wenzel Storchs Gespräch mit Martin
Büsser empfohlen. Auch sei auf Storchs Buch Der Bulldozer
Gottes hingewiesen, das im April im Ventil Verlag erschienen
ist.
Der hat nicht nur sein hundertstes
Heftjubiläum hinter sich, er kommt mit der 101., dem Thema
Streit gewidmeten Ausgabe auch auf Hochglanzpapier und weit aufgeräumter
daher als früher. Die Zeit des Wildwuchses scheint vorbei,
zumindest im Layout. Allzu umwerfend sind die Texte aber diesmal
nicht ausgefallen; beeindruckend ist eigentlich nur "Die
Kuh" von Hendrik Zinkant, eine Erzählung, in der ländliche
Underdogs ein heillos aus dem Ruder laufendes Saufgelage abhalten,
an dessen Ende sich der Erzähler mit einer munter kotenden
Kuh in seinem Zimmer vorfindet, was den Vermieter nicht erfreut.
Der Autor dieses skurrilen, einem anarchischen Humor verpflichteten
Texts stammt übrigens aus Hamm, wuchs bei Osnabrück
auf und hat in den Neunzigern in Münster Germanistik studiert.
Schön ist auch die Illustration seines Beitrags: eine mit
schlichtem Strich umrissene, leicht abgewandte Kuh in Seitenansicht,
die dem aufgeschlagen immerhin DIN A2-großen Text hinterlegt
ist.
Wer in der Pubertät zur Besänftigung des Trieblebens
lange Radfahrten ins Grüne unternahm, wird sich der Verlockungen
entsinnen, die im ländlichen Nirgendwo von Etablissements
ausgingen, die "Top Secret" oder "Privat Club B
69" hießen, an einer Kreisstraße zwischen zwei
Dörfern oder ein wenig abgerückt und hinter einer Mauer
von Rhododendren an der Bundesstraße standen und einen -
kaum hatte man sich in die Rolle des Pedalchampions fantasiert
- abrupt daran erinnerten, wovor man floh. "Ländliche
Puffs" heißt die herrlich krause S/W-Fotoserie von
Herbert Perl, deren wohl schönste Aufnahme auf dem pinkfarbenen
Cover der neuen
prangt, die der "Autofiktion" gewidmet ist ("keine
Ahnung, was damit gemeint ist", um an Errol Morris anzuknüpfen).
Stefan Ripplinger berichtet von den Zitatmontagen Uwe Nettelbecks
aus den sechziger und siebziger Jahren, die erst Attacke auf den
aufs Voneinanderabschreiben spezialisierten Kulturbetrieb, dann
subversives Projekt waren, sich der Entlarvung durch Wiederholung
oder irritierende Kombinationen verpflichtet wussten und ihr Material
in der TV-Unterhaltung, auf Plattenhüllen oder bei Karl Philipp
Moritz fanden. Sarah Schmidt schreibt über das intermediale
Bilderwerk "Leben? Oder Theater?" von Charlotte Salomon
(*1917), die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, in den zwei Jahren
zuvor aber ein aus 1325 Zeichnungen bestehendes Werk schuf, das
sie vor der Deportation mit den Worten: "Heben Sie das gut
auf, c'est toute ma vie", einem Arzt in Südfrankreich
gegeben hat. Auch enthält die neue Ausgabe unter dem Titel
"Die dunckle Finsterniß hatte hier allenthalben ihren
Schweins-Braten ausgestreuet" ein Gespräch mit Alexander
Rischer, der besonders im Oberhessischen, aber auch in Ostfalen
und Ostwestfalen - in Gegenden also, die Hans Jürgen von
der Wense wandernd zu durchstreifen pflegte - teils jahrhundertealte
Bauten fotografiert hat, die heute kurios anmutenden Zwecken dienten,
etwa das Nadelöhr im Kreis Bad Hersfeld, durch das es zu
kriechen galt, um in symbolischer Wiedergeburt eine Krankheit
abzustreifen, einen Taubenturm im Kreis Höxter, Außenkanzeln
auf Friedhöfen und bei Wallfahrtszielen oder Kirchenruinen
auf freiem Feld. Rischer gibt einlässlich Auskunft über
seine Obsession und wehrt eingangs die Vermutung ab, ein Becher-Schüler
eigener Art zu sein, der statt Sauerlandfachwerk und Zechentürmen
skurrile Relikte primär volkskundlich-ethnologischer Natur
dokumentiert. Beim Nadelöhr nahe Hersfeld hatte er übrigens
"eine sehr viel musealisiertere Interpretation des Objektes
(
) erwartet, aber das ist tatsächlich unfassbar peripher
und heruntergekommen an einem LKW-Parkplatz. Das ist auch irgendwo
typisch Hessen." Goldene Worte.
Die zweimal jährlich erscheinende Dresdner Zeitschrift
zieht es stets mit einem Exkurs in überschaubare Weiten.
Im Sommer 2007 wurde Literatur aus Mainz, im Winter 2008 aus Vorarlberg
präsentiert, letzten Sommer kamen gar - Doppelexkurs! - Kölner
Literaten und ungarndeutsche Literatur zum Zug, im Winter 2009
Schriftsteller aus St. Pölten, aus Niederösterreich
also. So mögen sich Netzwerke und regionale Vertriebswege
erschlossen haben. Herz und Stärke von Signum aber ist zweifellos
die Verankerung in der sächsischen, genauer: der Dresdner
Literaturszene. Die Stadt an der Elbe (um das Wort Elbflorenz
zu umschiffen) hat nicht nur herkunftsstolze Bewohner, sie hat
auch eine Reihe bekannter und weniger bekannter, aber bemerkenswerter
Autoren zu bieten, die sich in Signum erfreulich häufig zu
Wort melden. Autorenpflege wird dort also groß geschrieben.
So lässt Jens Wonneberger in "Zimmermann also"
(Heft 8/2) seinen Helden, einen kleinen Angestellten im Außendienst,
nach vielen Jahren wieder in die sächsische Provinz kommen.
Was ihm an gewendeter Dumpfheit, planierter Landschaft und aggressiver
Hoffnungslosigkeit entgegenschlägt, ist von jeder Elbtal-
und Elbsandsteingebirgsseligkeit so weit entfernt wie der Hades
von den elysischen Feldern; ein beklemmender Text, zumal der unsympathische
Zimmermann zum Retter des Erzählers aus fremdenfeindlicher
Bredouille wird, ohne dadurch im Mindesten sympathisch zu werden.
"Wie lange ist das her, dass die Nächte noch finster
waren und still?", lässt Wonneberger eine andere Figur
überlegen, die in "Alaunstraße, Freitagnacht"
(Heft 10/1) gedankenverloren durch Dresdens Äußere
Neustadt auf dem Heimweg ist und - frei von Nostalgie, aber den
Erinnerungen zur Treue verpflichtet - sich darüber wundert,
wie schrecklich weit die Stadt es in den letzten zwei Jahrzehnten
gebracht hat und wie die Menschen darauf reagieren: mit vorauseilender
Generalamnesie. Und plötzlich weiß der Erzähler
"nicht, was das bedeutet: deine Zeit. Ist sie abgelaufen,
bloß weil du die Dinge nicht brauchst, die der gut sortierte
Fachhandel in die Schaufenster stellt?"
Im gleichen Heft hält Jürgen Israel eine Eröffnungsrede
zum Thema "Sommerfrische". Diese Ausstellung hat es
nie gegeben, doch auch Am Erker 59 wird sich im Frühsommer
2010 diesem Thema widmen. Über der Sommerfrische, so Israel,
"liegt eine leicht erotische Atmosphäre. (
) Ich
will jetzt nicht darüber sprechen, was den modernen Urlaub
von der Sommerfrische früherer Jahre unterscheidet. Aber
ein wenig von der Kultur vergnügten und behutsamen Aufeinanderzugehens
bislang fremder Menschen, ein wenig von der Leichtigkeit des Lebens
während eines begrenzten Zeitabschnitts bekämen uns
gewiss gut."
Auch Erich Sobeslavsky wundert sich in seinem apart verstolperten
und dabei beschwingt melancholischen Impromptu "In den Zeiten
der Demonstrationen" (Heft 9/2) über einen Tausch, der
nicht eben vorteilhaft war: "(
) dann waren wir in San
Francisco gewesen am Pazifischen Ozean und auf den Spanischen
Inseln im Atlantik, der Wind wehte den Sand über die Inseln,
die Luft war völlig gelb, ja, orange in dem Wind, gleichzeitig
brachen die ein in unser geliebtes Land, ach, die Dörfer
(
)." Das Zerkrümeln der Wendeeuphorie und der
Beginn einer neuen bleiernen Zeit werden in große Bilder
und durch kalkulierte syntaktische Brüche kunstvoll ins Spröde
getriebene Sätze gefasst, die in der schwermütigen Beobachtung
gipfeln: "Auch die schönen jungen Frauen verschwanden,
die mit uns auf den Straßen gewesen waren in der Zeit der
Demonstrationen."
Ohnehin hat Norbert Weiß, der Herausgeber von Signum, ein
Händchen für melancholische Texte, wie die Landschaftsbeobachtungen
der 1929 in Sachsen geborenen, seit 1949 in Schweden lebenden
Christine Dahl zeigen, die in Uppsala Insektenkunde lehrte. In
"Bilder" (Heft 9/1) beschreibt sie Natur in wunderbaren
Sätzen: "Spätsonne vor Mitternacht, im Nordwesten
sammeln sich dünne Wolkenschleier mit Nachtgold zum Sonnenuntergang."
Zu den halbjährlichen Heften kommen sporadisch Sonderhefte;
das letzte - Sandstein macht hart - erschien 2006 zu Dresdens
achthundertjährigem Stadtjubiläum und enthält einige
schöne Prosastücke, Marcel Beyers "Binnenromantik.
Dresdner Bilder" beispielsweise, Jörg Bernigs "Ein
Leben in China", Wolfgang Hädeckes "Katja"
oder Thomas Rosenlöchers "Dresdens Besonderheit".
Auch Norbert Weiß zeigt in "Schwimmfest", wo sein
Alter Ego Pol morgens mit dem Rad zum Hallenbad fährt, um
seine Bahnen zu ziehen, dass er nicht nur Zeitschriftenmacher,
sondern auch ein veritabler Schriftsteller ist.
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