Texte
Am Erker 45, Münster, Juni 2003
 

Eleonora Hummel
Winter

Sonntag ist bei Großmutter Enkelkindertag. Das Enkelkind bin ich.
Ich ziehe mich warm an. Pelz, Handschuhe, Filzstiefel. Alles ist mir viel zu groß. Mutter kauft immer Sachen, die mir noch in fünf Jahren passen sollen. Ich bin eingemummt wie in einen Kokon. Meine Mütze rutscht mir in die Augen. Ich schiebe sie mit dem Handschuh hoch.
Den Weg kenne ich, tausendmal gelaufen. Geradeaus, über die Straße, dann nach links. Hinter der Ampel hört die Stadt zusammen mit dem Pflaster auf. Ich bleibe kurz stehen, atme die Luft in kleinen Schlückchen. Sie schmeckt wie Eiswürfel, die an der Innenwand meiner Luftröhre kratzen.
Ab hier sind es noch hundert Schritte. Mein Atem setzt sich auf dem Schal ab und gefriert zu Tröpfchen. Die Filzstiefel machen aus mir einen Stelzenläufer.
Neunzig Schritte auf zu Granit gefrorenem Boden. Großvater hat sicher längst den Ofen geheizt. In den Wintern, seit er zurückgekommen ist, heizt er den Ofen bis zur Rotglut. Das Thermometer darf nicht unter 24 Grad sinken, sonst friert er.
Ich mag es, mit Großvater vor dem Ofen auf der Bank zu sitzen. Später, wenn die Luft über der Herdplatte nicht mehr vor Hitze vibriert. Er wärmt seinen Rücken, raucht filterlose Zigaretten und sieht glücklich aus. Er redet kaum mit mir. Mir ist es recht.
Noch achtzig Schritte. Ich kenne den Weg. Ich gehe ihn jeden Sonntag. Immer um dieselbe Zeit. Großvater will pünktlich essen. Vorsuppe, Hauptgang und siedend heißen Tee zum Dessert. Heiß muss alles sein, siedend heiß. Ich verbrühe mir an seinem Tee die Zunge. Aber er lächelt und trinkt.
Seit er zurückgekommen ist, arbeitet Großvater im Haus. Er heizt den Ofen, versorgt die Tiere, gräbt im Garten. Bei Frost geht er kaum vor die Tür.
Noch acht, sieben, sechs Schritte. Ich bin da. Dem Hund ist es zu kalt zum Bellen. Er hat sich in seine Hütte verkrochen und schaut mich träge an. Seine Kette rasselt nicht, als er den Kopf bewegt. Sie ist festgefroren.
Großvater öffnet die Tür. Er drückt mich herzlich, viel zu fest. Im Flur riecht es nach frisch gehacktem Holz. Wärme umfängt mich. Tut gut.
Seit er zurückgekommen ist, redet mein Großvater nicht viel. Er raucht viel. Billige Zigaretten ohne Filter Marke Belomorkanal. Seine Stimme klingt rau vom Rauch, sein Lachen auch. Er schenkt mir Quecksilberkugeln aus einem kaputten Thermometer zum Spielen. Er hat sie in einer Streichholzschachtel aufgefangen und zeigt mir, wie lustig sie hin und her rollen. Ich versuche, sie auf eine Nadel aufzuspießen und mir daraus eine Perlenkette zu machen.
Nach dem Essen hält Großvater seine Mittagsruhe. Im Ofen knistern die Holzscheite. Ich lasse die Quecksilberkugeln über meine Handfläche rollen. Eine ist mir entwischt. Sie ist in die Küche gerollt und unter der Fußbodenleiste verschwunden. Ich versuche sie mit einem Messer herauszuholen, aber sie spaltet sich in viele kleine Kugeln, die mir wieder davon rollen.
"Kind, was treibst du für Unsinn!" sagt Großmutter. "Geh, mach dich nützlich. Du kannst die Betten frisch beziehen."
Ich gehe in die Wäschekammer und hole saubere Bettbezüge. Sie knistern steif vor Stärke. Über Großmutters Bett hängt ein vergilbtes Foto, das sie und Großvater zeigt als sie zwanzig Jahre jünger waren. Das war die Zeit, als Großvater zurückkam. Aus den Jahren davor gibt es kein Bild. Außer einem. Es ist nichts besonderes darauf. Fünf Männer, die barfuß auf einer Waldlichtung sitzen, jeder eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand. Einer davon ist Großvater. Er lacht. Die Zähne blitzen weiß im schmutzigen Gesicht. Das Bild hat etwas vom Frieden eines Spätsommertages. Ich höre fast die Mücken summen. Es muss irgendwo weit weg sein, denn wir haben keinen Wald hier. Nicht so hohe Tannen. Ich stelle mir vor, dass die Männer auf einem Angelausflug sind. Sie haben ihre Angeln ausgeworfen und warten auf den Fang. Einer hat einen Witz erzählt und die anderen lachen darüber. So könnte es gewesen sein. Denke ich.
Aber irgendwie wusste ich schon bevor ich Großmutter fragte, dass es kein Angelausflug ist. Das ist eine Raucherpause im Gulag, du dummes Kind, hat sie gesagt, und über ihrer Nase wölbte sich eine Falte, wo sonst keine war. Ich habe nicht weiter gefragt.
Ich werfe die alten Bezüge in den Wäschekorb. Unter Großvaters Kopfkissen blitzt etwas. Ich hebe es auf. Ein Küchenmesser, klein, scharf, glanzpoliert. Ich bringe es zu Großmutter in die Küche.
"Ich bringe das Messer zurück", sage ich.
"Welches Messer?" fragt sie.
"Das unter Großvaters Kopfkissen lag."
"Lass es dort liegen. Es gehört nicht in die Küche."
Großmutters Falten zittern ein wenig. Ihre Hände kneten den Teig, als träfe ihn eine Schuld.
"Warum nicht?" frage ich.
"Großvater braucht es. Es ist gut gegen seine Krankheit."
"Welche Krankheit?" frage ich.
"Dreizehn Winter in Sibirien", sagt Großmutter.