Gerald Funk
Einer der wenigen Gegenstände, die mir mein
Großvater hinterlassen hat, ist ein alter nachfüllbarer
Füller. Kein Markenfüller von Parker oder Pelikan, daher
besitzt er auch keinen großen Sammlerwert, sondern ein namenloses
Produkt der zwanziger oder dreißiger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts. Ich habe ihm eine neue Goldfeder einsetzen und das
Gummisäckchen in dem altertümlichen Ansaugmechanismus
austauschen lassen. So war er wieder funktionsfähig. Allerdings
nicht lange. Ich habe ihn zu selten benutzt. Die Tinte trocknete
ein, das Gummi wurde spröde und riß. Jetzt liegt er
wieder dekorativ und leicht erhöht auf einem Wandbrett vor
meinen Augen, wenn ich am Schreibtisch sitze.
Schwarz und perlmutt schimmert er. Mal etwas mehr, mal etwas weniger,
je nach Lichteinfall. In etwa millimeterdicken Schichten sind
die beiden Materialien - der industriell hergestellte Kunststoff
und die gewachsene innere Schicht der Muschelschale - aufeinander
geleimt. Das ergibt einen ganz speziellen Effekt: der Füller
bindet Helligkeit und zieht damit auch den Blick auf sich, scheint
optisch zu vibrieren, als ginge von ihm eine Energie aus, die
Licht in jedes Dunkel bringen könnte. Zudem besitzt er noch
eine weitere Besonderheit, der aber habe ich lange Jahre keine
größere Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat einen Namen.
Ja, in winzigen Buchstaben, kaum erkennbar, weil von der Zeit
bereits teilweise abgeschliffen, ist unterhalb der Rillenfräsung,
mit der die Kappe aufgeschraubt werden kann, ein Name eingraviert.
Es ist nicht der Name meines Großvaters, es ist überhaupt
kein deutscher Name, sondern ein englischer oder amerikanischer:
F. Henderson steht dort. Mehr nicht.
Da mein Großvater den Füller aus dem Zweiten Weltkrieg
mit nach Hause brachte, muß er wohl irgendeinem englischen
oder amerikanischen Soldaten gehört haben. Wie ist er in
den Besitz meines Großvaters gelangt? Welche Geschichte
steckt dahinter? Daß mein Großvater im Krieg war,
wußte ich. Ich wußte auch, daß er das Angebot
der Übernahme eines Bauernhofes irgendwo im Osten im Dienst
der großdeutschen Expansionsbemühungen ausgeschlagen
hatte. Er war Sanitäter geworden und im südlichen Griechenland
stationiert, dort, wo auf manchen Landkarten bis heute das Wort
Arkadien zu lesen ist. Die Namen Patras und Peloponnes aber, die
noch in meinen Ohren klingen, weil er sie wie ein Stück bitterer
Schokolade auf der Zunge zergehen ließ, bevor er sie aussprach,
verbinden sich in meiner Erinnerung nicht mit Milch und Honig,
nicht mit kaum bekleideten Nymphen und Satyren an glucksenden
Quellen, sie verbinden sich mit ausgetrockneten Hügeln unter
gleißender Sonne, mit Staub, der sich wie eine weiße
Schimmelschicht auf die Kleidung legt und alle Farbe nimmt.
Bruchstücke einer Geschichte werden sichtbar: verwundete
Soldaten, Schmerzenslaute aus zerschundenen Körpern, dazwischen
eine junge Griechin, die im Lager der Deutschen kleinere Arbeiten
verrichtete. Sie taucht immer wieder auf, spielt eine wichtige
Rolle. Sie hatte wohl Kontakt zu Einheimischen, die den Deutschen
nicht wohlgesonnen waren, die irgendetwas im Schilde führten.
Aber man konnte ihr nichts nachweisen. So wurde sie ausspioniert.
Sie war jedoch bei den einfachen Soldaten sehr beliebt, und es
kam zu einer geheimen Aktion, in der man das Mädchen aus
dem Lager schaffte und vor dem Zugriff irgendwo in den Bergen
versteckte. Mein Großvater war wohl daran beteiligt und
war seitdem von jeder Beförderung ausgeschlossen. Ich besitze
ein kleines Schwarzweißbild, da steht er vor der Akropolis,
die sich im Hintergrund vor dem etwas dunkleren Himmel abzeichnet.
Immer wieder schaue ich auf das Bild. Er steht dort eingehakt
mit zwei Freunden und lacht. Es ist ein Lachen, wie ich es mir
- wenn ich daran denke, daß zu gleicher Zeit ein nicht geringer
Teil der Welt verbrannte - bis heute nicht erklären kann.
Ein Lachen, das weltlos ist und frei. Zuweilen verschwimmen die
Gesichter vor meinen Augen, und ich sehe dann nicht mehr das Gesicht
meines Großvaters, sondern das einer jungen, schönen
Griechin mit schwarzen, im Wind wehenden Haaren. Sie lehnt ihren
Kopf an die Schulter eines der beiden Männer. Aber nur kurz
sehe ich das, dann ist das Bild verschwunden.
Andere Teile der Geschichte, die mein Großvater erzählte,
bestehen in meiner Erinnerung nur noch aus völlig unzusammenhängenden
kurzen Szenen - eine mattgelb im Wind klatschende Zeltleinwand,
vor der ein grau-uniformierter deutscher Hordenführer eine
Strafaktion ankündigt, Blut, im Sandboden versickernd - kaum
mehr. An eine, in der ein amerikanischer oder englischer Soldat
eine Rolle spielte, kann ich mich trotz intensiven Nachdenkens
nicht erinnern. Auch die wenigen anderen Bilder, die noch verfügbar
sind, werden zunehmend konturlos, verlieren ihre Schärfe
und Farbe, so als hätten sie zu lange in der Schaufensterauslage
eines längst aufgegebenen Geschäftes gelegen.
Ich habe nicht oder nur mit halbem Ohr zugehört damals, als
mein Großvater meist nach dem Abendbrot anfing zu erzählen.
Anderes, Eigenes war wichtiger. Nachdem er vor wenigen Jahren
starb, kann ich ihn nicht mehr fragen. So wie er im Sarg lag,
mit schlecht durch Wachs geschlossenen Lidern und einem
bitteren Zug um seine Lippen, als schmecke er noch immer die Worte
Patras und Peloponnes, konnte und kann er nichts mehr erzählen.
Seine Geschichten sind sprachlos.
Es bleiben die Dinge, die wenigen Dinge, die er hinterließ.
Zu ihnen gehört mein Füller. Sie binden auf irgendeine
kaum nachvollziehbare magische Weise das vergangene Erleben, sie
scheinen saugfähig zu sein, ihre Formen und Materialien sind
offensichtlich permeabel, sie filtern Partikel aus dem großen
Strom. Manchmal jedoch können wir die darin geborgenen Geschichten
nicht mehr herauslösen. Sie sind da, wir aber verstehen ihre
Sprache nicht mehr. Die Dinge entziehen sich uns, sie werden spröde
und mißtrauisch. Vielleicht ist der Schmerz darüber
unsere einzige Entschuldigung.
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