Texte
Am Erker 45, Münster, Juni 2003
 

Sandra Niermeyer
Die Abweisung (Romanauszug)

Es störte sie, daß er auf ihrem Kopf herum lief. Es klang, als trüge er Holzschuhe oder schwedische Clogs. Er schien Spuren auf das Parkett zu laufen. Wenn sie seine Schritte nicht hörte, dann fuhr oder rollte er mit dem Schreibtischstuhl über den Holzfußboden, und das war noch lauter. Als er noch in ihrer Wohnung wohnte und im Bett neben ihr schlief, hatte sie ihn kaum bemerkt. Er lief auf Socken über den Teppich und sie vergaß, daß er da war. Aber oben lag kein Teppich, oben trug er Schuhe.
Die Toilettenspülung ging. Das Wasser rauschte durch die Leitung, durch die Wände, an ihrem Kopf vorbei. Direkt neben ihr flossen seine Exkremente durch die Wand und es ärgerte sie, das Geräusch und die Vorstellung, die paar Zentimeter Putz und Mörtel, die sie von seinem Abfall trennten.
Er will mich aus dem Haus treiben, dachte sie, durch seine Schuhe und seinen Schreibtischstuhl will er mich aus dem Haus treiben. Er geht zwanzig Mal am Tag auf die Toilette und zieht die Wasserspülung, nur um mich aus dem Haus zu treiben.
Sie drehte den kleinen Zettel in der Hand, den sie auf der Treppe gefunden hatte. Stell bitte nächste Woche die Biotonne an die Straße, ich werde für einige Tage weg sein. Ein Glück, dachte sie. Wo wirst du sein, schrieb sie auf die Rückseite, dann knüllte sie den Zettel zusammen und warf ihn zu den anderen in die Bodenvase.
Er war schmaler geworden, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er verhungert, er kann nicht kochen. Bald liegt er verhungert in der Wohnung und stinkt. Im Treppenhaus grüßten sie sich, ohne sich anzugucken. Sie sah nur seine Beine, die immer dünner wurden. Sie begegneten sich selten. Wenn sie seine Tür hörte, ging sie in ihre Wohnung zurück und wartete hinter der Tür ohne Spion, bis er das Haus verlassen hatte. Dann ging sie in den Keller und stopfte ihre Wäsche in die Maschine. Seine Socken stanken durch den ganzen Raum. Er kann nicht waschen. Er kann Waschmaschinen reparieren, aber nicht waschen. Der Sockenberg wurde jede Woche größer. Wie kann man so viele Socken haben. Er verpestet mit seinen Socken die Luft. In jeder Ecke lagen sie und stanken. Bald kann ich den Raum nicht mehr betreten, ohne in riesige Sockennester zu treten. Jedes Mal, wenn sie an den Bergen vorbeikam, nahm sie ein paar einzelne Socken und warf sie in den Müll. Wenn ich jeden Tag fünf Socken wegnehme, hat er in drei Wochen kein einziges Paar mehr, das zueinander paßt.
Sie ging im Dunkeln ins Bett, um die leere Betthälfte nicht sehen zu müssen, das aufgeschüttelte Federbett, sich wölbend wie ein dicker Bauch, das jeden Tag gleich aussah. Wenn sie ihr eigenes Bett bezog, bezog sie seines mit.
Kein Schnarchen mehr neben mir. Endlich Ruhe. Sie konnte nicht einschlafen. Wenn ich seine Seite absäge, bricht meine mit zusammen. Oben polterte es. Er ist vom Stuhl gefallen. Er ist mit Herzinfarkt vom Stuhl gefallen. Er ist im besten Alter für Herzinfarkte. Sie lauschte. Oben war alles still. Dann ratterten seine Rolläden herunter. Es war zwölf Uhr nachts. Was macht er so lange. Plötzlich drang das Geräusch von Schüssen durch die Decke. Sie fuhr hoch. Dann das Quietschen von Reifen. Ein Krimi. Er sieht einen Krimi. Durch die Decke dröhnten laute Männerstimmen. Seine war nicht dabei. Sie krabbelte im Dunkeln aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Sie zog die Programmzeitschrift aus dem Zeitschriftenständer. Tatort, sagte sie, er sieht Tatort. Sie las den kleinen Abschnitt über den Inhalt der Folge durch.
Die Rollen seines Schreibtischstuhles schleiften über den Boden. Zwei der Rollen klemmten. Er verkratzt den Fußboden. Das ist eine Wertminderung. Er mindert den Wert des Holzfußbodens. Die Heizungsrohre blubberten. Er hat die Heizung hochgedreht, um diese Uhrzeit. Sie ging im Nachthemd in den Keller und stellte sie niedriger.
Dann ging sie zurück ins Bett und lauschte auf die Geräusche des Krimis.

Hast du die Heizung heruntergedreht? stand am nächsten Morgen auf dem Zettel vor ihrer Tür. Und wenn? schrieb sie auf die Rückseite.
Sie wartete hinter der Tür, bis er den Zettel fand. Sie bückte sich und sah durch das Schlüsselloch, aber sie konnte nur seine Schuhe sehen. Die nächste Tür hat einen Spion.
Das mit der Heizung hat er herausbekommen. Das mit der Dusche bekam er nicht heraus. Immer, wenn er duschte, drehte sie die Sicherung für sein Badezimmer heraus, so daß der Durchlauferhitzer nicht ansprang und er kalt duschen mußte. Er hatte schon zweimal einen Klempner geholt. Aber der Klempner hatte nichts finden können. Der Durchlauferhitzer ist in Ordnung, sagte er.
Sie ging zum Briefkasten. Sie hatten zwei Briefkästen, einen mit Linda Schnee und einen mit Henri Schnee, aber der Briefträger warf trotzdem alle Briefe in seinen Schlitz. Er hatte die Trennung noch nicht mitbekommen. Henri legte ihre Post auf die Fensterbank neben der Haustür, nach Größe geordnet, die Werbung und größeren Briefe nach unten, die kleineren und Postkarten nach oben.
Sie nahm den Stapel und ging in ihre Wohnung zurück. Er war schon früher immer derjenige gewesen, der die Post aus dem Briefkasten geholt hatte. Einmal waren drei Geburtstagskarten für sie dabei gewesen, trotzdem hatte er an dem Tag ihren Geburtstag vergessen. Sie knallte die Post auf den Küchentisch. Oben fiel die Tür ins Schloß. Er drückte nie die Klinke. Er lauert mir auf, wie ich ihm auflauere. Wenn er meine Schritte auf der Treppe hört, bleibt er in seiner Wohnungstür stehen und wartet, genau wie ich es mache, wenn ich ihn höre. Er geht erst ins Treppenhaus oder in den Keller, wenn ich zurück in meiner Wohnung bin. Sie riß die Briefe auf. Wahrscheinlich traue ich ihm wieder mehr Gedanken zu, als er sich tatsächlich macht.
Die Zeitung teilten sie sich. Derjenige, der sie zuerst las, legte sie dem anderen hinterher auf die Treppe. Vor ein paar Tagen hatte er einen Artikel ausgeschnitten. Sie hatte sich nachher über das Loch in der Zeitung geärgert. Am nächsten Tag hatte sie den Zeitungsboten abgefangen, um die Zeitung als erste zu bekommen. Sie hatte zwei Artikel ausgeschnitten und die Zeitung dann auf die Treppe gelegt. Jetzt, eine Woche später, bestand die Zeitung fast nur noch aus ausgeschnittenen Fenstern. Sie mußte von demjenigen, der sie als zweiter las, vorsichtig von der Treppe genommen werden, damit sie nicht zerriß.
Die Wand bebte. Er schlägt die Fenster extra so laut zu, weil er weiß, daß ich es höre. Er will mich aus dem Haus treiben.
Neben dem Telefon im Wohnzimmer lag das aufgeschlagene Telefonbuch. Ihr Name unter seinem Namen. Sie hatte seinen Namen durchgestrichen. Sie sah sich die Seite jeden Tag an.
Sie ging zur Stereoanlage, drehte die Musik leiser und horchte ein paar Sekunden, was er machte. Er duschte. Heute lasse ich ihn warm duschen. Auf dem Teppich waren die Druckstellen des Sofas, das er mit nach oben genommen hatte. Sie dachte an den Tag, an dem sie ihn das letzte Mal umarmt hatte. Er stand vorm Spülbecken und wusch das Geschirr. Sie hatte ihn vom Wohnzimmer aus beobachtet, eine Weile, war dann in die Küche gekommen und hatte ihre Arme von hinten um ihn gelegt. Dabei hatte sie ihm versehentlich unters Kinn gestoßen. Au, pass doch auf, hatte er gesagt. Das war das letzte Mal.
Sie holte den zerknüllten Zettel aus der Bodenvase, strich ihn glatt und legte ihn auf die Treppe. Wo wirst du sein? Sie wartete hinter der Tür, bis er den Zettel fand. Auf Kreta, antwortete er. Alleine? Alleine auf Kreta? Sie schnippte den Zettel in die Bodenvase. Endlich Ruhe.

Er ging auf den Dachboden und holte seinen Koffer. Er öffnete Schranktüren und schlug sie zu, er zog Schubladen auf und schob sie zu. Dann polterte er mit seinem schweren Koffer die Treppe hinunter. Die Kofferrollen schleiften über die Stufen. Er sollte ihn tragen, auf der Treppe könnte er ihn wenigstens tragen. Er verkratzt die Stufen, jeden Tag werde ich die Schleifspuren sehen und mich ärgern. Die Tür fiel ins Schloß.

Sie fuhr die Biotonne an die Straße. Es regnete. Er ist auf Kreta und ich bin mit der Biotonne im Regen.
Sie setzte sich neben das Telefon und sah seinen durchgestrichenen Namen an. Ruhestörer. Endlich war es still. Sie setzte sich in den Sessel. Keine Sicherung herauszudrehen, keine Socken wegzuwerfen. Sie mußte sich nicht beeilen, die Zeitung als erste zu bekommen. Er könnte wenigstens anrufen, das wäre das Mindeste. Sie wartete auf den Anruf vom Hotel aus: Ich bin heile angekommen. Das wäre das Mindeste, was er sagen könnte, wir sind schließlich keine Unbekannten. Ich bin heile angekommen, dabei die Feindin im Hintergrund, die sie nicht hören konnte, weil er den Finger auf seine Lippen gelegt hatte. Das Telefon klingelte nicht. Es war still im Haus.
Sie schaltete den Videotext des Fernsehers an. Auf Kreta waren es 31 Grad.
Die Feindin hatte kein Gesicht. Sie hatte lange rote Fingernägel.

Sie ging auf den Dachboden und suchte nach dem Kretareiseführer. Er war von ihren Eltern. Von 1983. Auf fast jeder Seite war eine Katze abgebildet. Er haßt Katzen. Es wird ihm dort nicht gefallen. Die Katzen werden ihn nerven, jeden Tag werden sie ihn nerven. Er hat eine Katzenhaarallergie. Die Katzen werden in sein Bett springen. Morgens wird er mit Katzenhaaren im Gesicht aufwachen. Überall Katzenhaare, in seinen T-Shirts, seinen Hosen, seinen Schuhen. Sie werden ihn verrückt machen.

Morgens fuhr sie mit dem Finger über die Fensterbank neben dem Briefkasten. Die Fensterbank war leer. Karten können manchmal bis zu zehn Tagen brauchen. Eine Karte wäre das Mindeste. Er könnte mir wenigstens eine Karte schreiben. Es ist nicht so, daß wir Fremde sind. Wenn er Zettel schreiben kann, kann er auch eine Karte schreiben. Der Weg von ihrer Wohnung zum Briefkasten war ausgetreten.

Die Feindin war inzwischen aschblond und hatte hohe Wangenknochen. Auf jedem der langen Finger steckte ein Ring. Zwischen dem Zeigefinger und Mittelfinger klemmte eine Zigarette in einer Zigarettenspitze. Der Rauch kam aus rotgeschminkten Lippen.

Sie ging ins Badezimmer und knöpfte ihre Bluse auf. Die Adern auf ihrer Brust waren hellblau. Sie schlängelten sich wie kleine Rinnsale zur Brustwarze.

Die Feindin lachte mit entblößten Zähnen über einen seiner Witze.

Sie nahm das Telefon mit ins Bett und rief seinen Anrufbeantworter an. Ich bin leider nicht da, Nachrichten können nach dem Piepton hinterlassen werden. Sie wählte noch einmal. Ich bin leider nicht da, Nachrichten. Sie preßte die Hörmuschel ans Ohr.
Er beugte sich über die Feindin und sagte etwas Verliebtes.
Auf Kreta waren es immer noch 31 Grad.