Petrischale, Totenbett
Rolf Birkholz
Hier geht's direkt ins Labor zur Wesensneugestaltung. "In der Petrischale wird es früher Tag" heißt der erste Abschnitt des neuen Gedichtbands Organische Portraits von Silke Andrea Schuemmer. Er versammelt vierzehn ganz unterschiedlich lange Zyklen aus den Jahren 1997 bis 2021.
"Der Urknall zündelt kaum er ploppt nur" - gleich scheint sich ein lockerer Ton einzustellen. Der Versfluss reißt zudem sofort mit. Aber obwohl die Autorin den Ernst einer beflissenen Laborassistentin meidet, obwohl das lyrische Subjekt da einen Astronauten im Einmachglas zu erkennen meint, dort Fehlversuche mit Lehm und Silikon und in Richtung des Laboranten "Wer hat Angst vorm weißen Mann niemand" sagt, schwingt dennoch mit, dass derlei Petri-Jünger eigentlich keinen Spaß machen. "Wird man uns jemals sagen welche Art wir sind", bleibt eine offene Frage, nicht nur an die Zellenzüchter.
Anderes werde schon irgendwann wieder an die Oberfläche kommen, ist weiteren Gedichten zu entnehmen. Im Unterkapitel "Vom Dorf" wird "das schlecht Gesagte das Rausgesagte / Verworfenes Verlachtes auch" nicht begraben, man "hebt es bodenunter". Der Pflug wird nächstes, übernächstes Jahr an ihm zerbrechen. Oft streift die Autorin durch die Natur, beobachtet Veränderungen. "So viele Lieschen voller Fleiß / doch nur gebrochen passen sie ins Vasenloch / Fast alle Dornen in der Zucht verlorn / der Rest beschämt bloß als Kompost taugen wir noch".
Und sie bewegt sich sehr körpernah: "Die Reise war weit / von der Ferse ging sie / hinauf bis zum Spann / Eine Ader wurde überquert / und im Knöchelüberhang / war es fast vorbei". Als würde auf Gulliver herumgeklettert. Aber so dicht ist Silke Andrea Schuemmer an ihren Themen, so tief taucht sie in deren Welten ein, mischt sie die Sphären zwischen Wissenschaft und Märchenland. Eine gewisse Lust am Morbiden scheint viele Verse zu durchziehen, verleidet indes das Lesen nicht.
Auch das popkulturelle angebliche Seelengewicht von 21 Gramm wird einen Zyklus lang poetisch abgewogen, kleine Schockmomente inklusive: "erzählen von den jahren die ungeatmet ungehört verglühn / jetzt wärst du elf dein blick wächst hoch du kommst zurück / es klappert die mühle von knochen singt kein kinderlied". Auf einmal klingt der Buchbeginn ein wenig auch wie Petrischalenspielerei. Doch das dürfte Programm sein.
Zu diesem gehören auch Touren ins "ebensodeutsche Bermudadreieck / Das soll es geben zwischen Berlin und Pausin" ("Kaperfahrt"), ins "Stiefland" geht es, in "die Pechmark". Zum Abschluss kommen alle durch Körperlandschaften und andere Naturgebiete führenden Reisen dieses Bandes intensiver Poesie, der - und so soll es sein - mehr Fragen stellt als beantwortet, im Endgedicht, am Totenbett, das an die Anfangsszene anknüpft, sie relativiert: "Wenn Augen brechen, wie man sagt, wird der letzte Blick / als Reliquie verwahrt". Und: "Man erwartet Wundertätiges, und niemand / wechselt jemals mehr das Tuch." Da ploppt dann nichts mehr. |