Der Verfall der akademischen Ethik
Stefan Nienhaus
Wer in den siebziger Jahren etwas über die Uni Münster in der Zeit der Studentenrevolte erfahren wollte, las Hermann Kinders Schlüsselroman Der Schleiftrog. Das Buch des am 27. August 2021 verstorbenen Autors wurde 1977 erstveröffentlicht, mehrmals wiederaufgelegt und ist heute leider vergriffen. Es trägt den Untertitel "Ein Erziehungsroman" und erzählt vor allem von den Nöten des Subjekts, das daran leidet, wie fern das verkopfte Studium den Fakten der ungerechten sozialen Verhältnisse ist. Vor allem aber ringt der zwischen Selbstzweifeln und Überheblichkeit schwankende Held mit den Anforderungen der akademischen Institution an eine Dissertation, von der man "tief durchdachte, hieb- und stichfest abgesicherte Argumentationen in einer klaren, kompakten Sprache" erwartet. Die Uni von damals mag wohl verstaubt und weltfern gewesen sein, doch erscheint sie aus heutiger milderer Sicht zugleich immerhin bemüht selbstkritisch und insgesamt guten Willens, ihrer Bildungsaufgabe gerecht zu werden. Kinders mit Goethe- und Schiller-Zitaten gespicktes Buch war nun nicht unbedingt eine Werbung für eine akademische Karriere als Literaturwissenschaftler, es war aber genauso wenig eine radikale Warnung davor. Der Autor selbst lehrte ab 1974 bis zu seiner Pensionierung 2008 Germanistik und Literatursoziologie an der Uni Konstanz.
Etwas weiter nördlich, in Tübingen, leitete Gert Ueding bis 2009 das von Walter Jens gegründete Seminar für Allgemeine Rhetorik, wo er u.a. mit dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik ein wissenschaftliches Jahrhundertprojekt realisierte. Nach einem höchst interessanten Erinnerungsbuch über seine Erlebnisse mit Ernst Bloch hat Ueding nun einen Roman mit dem enigmatischen Titel Herbarium. Giftgrün vorgelegt, in dem er sich sein Leiden am offenbar unaufhaltsamen Verfall der akademischen Ethik von der Seele schreibt. Das Bild, das er im Abstand von fast einem halben Jahrhundert von der Germanistik, den Geisteswissenschaften und der Universität insgesamt zeichnet, ist erheblich dunkler und hoffnungsloser als das von Kinder. Schon die Gattungswahl zeigt deutlich die radikale Veränderung: In Uedings Buch wird die akademische Realität als Kriminalroman geschildert, Bildungs- oder Erziehungsgeschichten scheinen einer fernen, längst begrabenen Vergangenheit anzugehören, nun geht es auch an der Alma Mater nur noch ums "Erlisten, Erraffen", um skrupelloses Profitstreben, schnelles Geld - und um das leichte Einsacken der "credit points" für den möglichst schnellen Studienabschluss. Ursprung des akademischen Sittenverfalls ist laut Ueding die immer stärker werdende Abhängigkeit der Universität von sogenannten Drittmitteln, d.h. nicht von staatlicher Förderung, die nur noch ein absolutes Minimum der Kosten abdeckt, sondern von privater Forschungsförderung und vom Gewinn der halb-privat wirtschaftenden Unternehmen, die die Uni selbst gründet bzw. als lukrative Forschungsverwertung auslagert. Die in dieser akademischen Grauzone kursierenden Geldmillionen stellen eine auf Dauer zu starke Versuchung dar, die nach und nach auch die realitäts-, nein wirtschaftsfernen Geisteswissenschaften erreicht. Etwa indem man, einer in den Naturwissenschaften schon lange geübten Praxis nacheifernd, sog. "Fake-Verlage" gründet, in denen der dem Publikationszwang unterliegende Karrierenachwuchs seine Beiträge für teures Geld, aber dafür ungeprüft veröffentlichen kann. Eine durch und durch verkommene Gesellschaft, in der auch kein Platz für eine kritische Haltung bleibt, schon gar nicht in der Studentenschaft, die sich perfekt und unter Auslöschung jedweder moralischer Hemmung in das System einpasst. Immerhin kommt die präziseste Analyse aus dem Mund des germanistischen Dekans: "Das sind die Auswüchse einer umfassenden Korruption, die die Geisteswissenschaften um so mehr beherrscht, je bedeutungsloser sie werden. Wie jede andere Korruption, ob politisch oder wirtschaftlich, fängt sie im Kopf an, untergräbt die Moral und endet im Verbrechen."
Uedings brandmarkende Erzählung liest sich spannend und unterhaltsam, und gerade dies scheint ihre Anklage noch zu verschärfen. |