Am Erker 80

Nadja Küchenmeister: Im Glasberg

 
Rezensionen

Nadja Küchenmeister: Im Glasberg
 

Während ich näherkam
Rolf Birkholz

Sie hat den Schlüssel gefunden, befindet sich schon am schwer zugänglichen Ort. Wenn Nadja Küchenmeister einen Ge­dichtband nach dieser märchenhaften Er­hebung Im Glasberg benennt, sich auf die Grimms beruft ("Wenn du das Bein­chen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschließen") und die Sammlung gleich mit dem Titelgedicht eröffnet, liegt es nahe, dass hier auch ein Märchenlicht die Dinge ins Wirkliche taucht.
Und bereits der erste Vers, "die sonne ist der mond", weist auf geänderte Lichtver­hältnisse, während der zweite, "mein auge ist ein stern unter sternen", auf den Schlüssel zeigt, den im Märchen Die sie­ben Raben ein Stern gibt. An anderer Stelle, im verblüffend treffenden Mondge­dicht "früher mond", bei einem Nachtspa­ziergang: "ständig änderte ich die rich­tung, oder / war er es, der die richtung änderte für mich / ecken, um die er mich lotste, sich auszuruhen // vor meinem blick". Und "während ich näherkam, kam / der mond, kam sichtbar, sichtbar nicht näher."
Dann wieder erscheint der Mond als "gleißendes sonnenlicht" ("die helle seite des mondes") oder "die sonne wird dunk­ler an ihrem rand." In Anspielung auf den Sonnengesang des Franz von Assisi wer­den Sonne und Mond zu Geschwistern; auch der Mönch selbst tritt einmal in Ge­stalt eines modernen Bettlers als "der or­densmann" auf.
Überhaupt werden in den endreimlosen, oft aus Terzinen gefügten Gedichten so­wohl Erinnerungen an die Kindheit, ans frühere Zuhause, als auch Gegenwärti­ges klar benannt, scharf konturiert und zugleich wie in jenem Märchenschein be­trachtet. Von den fernen Himmelskörpern richtet sich der Blick immer wieder auf alltägliche Umgebungen, dringt die Glas­bergbesucherin ("mein ring mein herz­stück") geradezu kardiologisch bis ins Herz vor.
Wie mit den Augen tastend bewegt sich das Subjekt dieser Verse durch (Erinne­rungs-) Räume, "an der garderobe / hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel / ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht // nach hause gehen".
Eine abgebrochene "antenne sucht noch immer nach signalen // an die sich nie­mand mehr erinnern kann".
In "wurzeln", nach denen hier auch ge­forscht wird, steht die Frage: "was zeigt / ein foto, wenn es niemand mehr betrach­tet?" Auch solch nicht Gesehenem sucht Nadja Küchenmeister nachzuspüren. Dem lesend zu folgen, ist vielleicht etwas anstrengender als die Lektüre ihrer beiden herausragenden vorherigen Bände, lohnt aber unbedingt.

 

Nadja Küchenmeister: Im Glasberg. Gedichte. 110 Seiten. Schöffling & Co. Frankfurt am Main. 2020. € 20,00.