Dekonstruierte DekonstruktionOliver Uschmann
Wer behauptet, die Schriften des Poststrukturalismus,
der Dekonstruktion sowie der Kritischen Theorie erschöpfend
und abschließend verstanden zu haben, lügt nicht nur,
sondern verrät im Grunde auch, was er verstanden haben will.
Denn was Deleuze, Derrida, Lacan, Lyotard, Adorno und Co. so von
sich gaben, wollte ja gerade nicht leicht "auf den Begriff"
gebracht werden können. Vielmehr ging es darum, "Sinn"
immer wieder wie die Karotte vor dem Kaninchen einen Schritt ins
Unerreichbare zu schieben, den "Äquivalenzzwang"
zu unterlaufen und alles aufzulösen, was sich auflösen
lässt. Das handelnde Subjekt, den Willen, das "Ich",
die Rationalität. Es zu ersetzen durch obskure, "tierische"
Begehren und Antriebe; sich zu "deterritorialisieren"
und zu verflüssigen. Wie das alles genau gehen soll, weiß
bis heute eigentlich keiner, und genau deshalb lässt Sebastian
Ingenhoff es in seiner Novelle Rubikon auch drei Kinder
durchspielen. Die Achtjährigen Lars, Lukacs und Sebastian
sind nämlich mehr als neunmalklug. Sie sind "Poststrukturalisten"
in einem zutiefst bürgerlichen Örtchen, in dem es in
der Tat noch eine Menge zu dekonstruieren gibt, wie jeder weiß,
der die deutsche Provinz kennt. Hier ist die praktische wie symbolische
Ordnung noch intakt, man geht zum Schützenfest, isst Fleisch
und codiert das Leben als ordnungsgemäßen Ablauf von
Schule, Ausbildung, Beruf, Familiengründung und Rente. Die
kleinen Poststrukturalisten wollen da raus und setzen die hochtrabende
Theorie in praktisch weitaus weniger hochtrabende Aktionen um.
Tausende und Abertausende von Seiten philosophischer Theorie münden
hier darin, jeden Tag einen anderen Weg zur Schule zu wählen,
einen Buttersäureanschlag auf den örtlichen McDonald's
zu verüben, die Eingangstür der Bildungsanstalt über
Nacht fest zu verrammeln und am Ende mit einem mühsam erkämpften
Ticket für den einzigen Überlandbus tatsächlich
aus dem Gefängnis zu fliehen. Das ist einerseits ungewöhnlich,
weil der Autor hiermit keinen "Reifeprozess" hin zur
Überwindung der Hirngespinste inszeniert, sondern tatsächlich
noch an einen Ausweg glaubt, und andererseits nahezu spöttisch
im Umgang mit den (ehemals) revolutionären Theorien. Einerseits
fiebert man mit den kleinen Stöpseln mit; andererseits lässt
sich das Buch auch als bitterböse Satire lesen. Das soll
alles sein, worin es mündet? Ein paar lausbubenhafte Aktionen,
ein bisschen radikaler Aktionismus? Spätestens wenn Bettnässen
und das generelle Nicht-Kontrollieren aller Körperöffnungen
mit Deleuze zur anti-ödipalen Subversion aufgebrezelt wird
und der kleine Lars sich ständig von seinen Freunden an Po
und Schnute betatschen lassen muss, um seine erogenen Zonen zu
stimulieren, möchte man mit dem Dorfbürgermeister sagen:
"Meine Güte, Kinder, habt ihr eigentlich zu viel Zeit,
oder was?" Und wäre damit genau der Provokation aufgesessen,
die zeigt, dass diese "Satire" aus tiefer Kenntnis dieser
Theorien und einer großen Liebe für sie geschrieben
wurde.
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