Roman des BeinaheSteffen Roye
"Keine Gewissheiten bitte" steht am
Beginn des neuen Romans von Ulla Lenze in einer E-Mail der 18-jährigen
Marie an Ganto. Der ist Sektenberater mit eigener esoterischer
Erfahrung und soll sie davon abhalten, nach Morgenstadt zu fahren,
dem Zentrum einer heilsverkündenden Kommune auf einer Tropeninsel,
vielleicht bei Thailand. Natürlich fährt sie trotzdem.
Der Roman erzählt auf zwei Ebenen von ihren Erlebnissen und
dem Verhältnis, das sich zwischen Marie und Ganto entwickelt.
Hier wie dort drohen die Dinge zu entglei- ten: Auf Archanu, der
Insel, eskalieren die Spannungen zwischen den Heilssuchern ("Menschen
mit ungeschnittenen Fuß- nägeln und gelber Hornhaut
vom langen Knien") und den Einheimischen, denn "auf
der ganzen Insel ist der Kolonialismus Vergangenheit", so
Ganto, "nur nicht in Morgenstadt, diesem etwas zu groß
ge- ratenen Bioladen, diesem Pseudo-Utopia, in dem das Morgen
ungestört am Gestern hängen kann". Und Marie fühlt
sich von Ganto angezogen, auch wenn sie erst auf Seite 202 (von
235) das Wort findet, "das so gut erklärte, warum Ganto
die Macht hatte, mich zu verletzen: Liebe." Selten wird Marie
so konkret. Keine Gewissheiten bitte - das ist jedoch nicht nur
ihr Problem. Und so ist Archanu auch ein Roman des Beinahe.
Lenze schreibt aus der Sicht eines Teenagers und wendet einen
Kniff an, um sich trotzdem komplex artikulieren zu dürfen.
Maries Eltern sind Spezialisten für antike Philosophie. "Daher
meine Neunmalklugheit." Und der Sektenberater ist ein Deal.
"Sonst gebe es kein Geld für die Reise." Auf diese
Art werden beiläufig Verbindungen geknüpft, die anderswo
bemüht wirken. Das ist es, was mir an dem klug komponierten
Roman besonders gefällt: Hier entsteht eine komplexe Geschichte
aus sich selbst. Und Marie behält trotzdem das Jugendliche,
das Suchen und Irren, die Unsicherheit, das möglichst Unverbindliche:
"Ich würde mich nie trauen, Endgültigkeiten zu
stiften, ich lasse mir lieber so viele Türen offen wie möglich."
Auffallend ist, dass die Personen um Marie meist Männer sind.
Ihr Freund Simon ist dabei der am wenigsten Plastische; warum
sie mit ihm zusammen ist, erschließt sich nicht. Neben Ganto
nehmen ihr Soziologielehrer (sic!) Reich und später, in Morgenstadt,
vor allem der Journalist Aidan sowie Toskim, einer der Lenker
der Enklave, und schließlich der etwa gleichaltrige Post-Hippie
Hendrik viel Raum ein. Nicht nur die (eigentlich rein "geschäftsmäßige")
Beziehung zu Ganto, auch die zu Aidan und Hendrik ist stark sexuell
aufgeladen, doch die Autorin nutzt - selten genug in der modernen
Literatur! - die Gelegenheit nie zu Schlüpfrigkeiten. Es
bleibt beim Ätherischen, beim Möglichen: keine Gewissheiten
bitte.
Gern habe ich Lenzes Roman auch deshalb gelesen, weil die Sprache
- abgesehen von den etwas einfältig wirkenden Namen für
Insel und Sektenstadt - frisch und aufregend ist: Sie erzählt
von "Frauen wie verlassene Häuser" oder von Haaren,
"auftoupiert wie geschlagene Sahne"; sie beschreibt
"eine geschlossene Sänfte, die auf mich zuschwebt wie
ein Walfisch über Land", und lässt ihren Lehrer
in seiner Tasche wühlen "wie in einem Topf mit Losen,
aber heraus holt er stets Brille und Buch, die Nieten seiner Zunft".
Ulla Lenze erzählt leichthändig, unterhaltsam, konsequent.
Und obwohl Marie immer wieder betont, dass sie nur "aus Spaß
den Ton einer bereits Gehirngewaschenen anschlage", ist sie
natürlich doch weit infiltrierter, als ihr lieb ist, und
so endet der Roman offen und ganz in Maries Sinn: "Fang du
an" - eine Aufforderung zu allem Möglichen. Nur keine
Gewissheiten, bitte.
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