Romanbiographie
Matthias Kehle
Kann es gut gehen, wenn ein betagter Lyriker,
der seit vielen Jahren nicht mehr zur ersten Garde gehört,
eine Autobiografie schreibt? Und ob das gut gehen kann, denn Werner
Dürrson - ein vor allem in den 70er und 80er Jahren hoch
geschätzter Dichter aus Oberschwaben - hat etwas zu erzählen,
und er tut es mit Bedacht. Dürrson weiß, dass autobiografisches
Schreiben immer auch Fiktion ist, nennt seinen Erzähler Thomas
Lohmann, untertitelt den Band mit "Eine romaneske Biographie"
und fragt seinen imaginierten Leser immer wieder zögerlich:
"Soll ich weitererzählen?"
Lohmann wächst in der Provinz auf unter einfachen Menschen.
"Ich solle es einmal besser haben als er", erinnert
er sich. "Er", das ist der Vater Lohmanns, ein Vater,
"der riesengroß blieb", der ihn maßregelte,
zusammenbrüllte und prügelte, bis dem weinerlichen,
sensiblen Muttersöhnchen "der Urin lief". Ein Vater,
der in den Krieg zieht und nicht als geschlagener Soldat, sondern
als Held heimkehrt und weitermacht wie bisher. Dürrson erzählt
eine schmerzlich-anrührende Vater-Sohn-Geschichte und die
Geschichte von einem, der sich aufmacht, die Musik, die Kunst,
die Literatur und vor allem sich selbst zu finden.
Nach dem Krieg wird Lohmann zunächst Mundharmonika-Virtuose,
eigenwilliger "Weltmeister" gar des "Goschenhobels",
der, Bach interpretierend, auf internationale Tournee geht und
sogar mit dem amerikanischen Präsidenten im Weißen
Haus um die Wette spielt. Dürrson erzählt eine pralle,
detailreiche Nachkriegsgeschichte am Beispiel eines jungen Künstlers,
der, von Hermann Hesse gefördert, mit reichlich Talent auch
für scheiternde Liebschaften ausgestattet, in Tübingen
studiert, später an einer französischen Universität
Literatur unterrichtet sowie internationale Künstler und
Schriftsteller kennen lernt und schließlich eine engagierte
Literatur schreibt. Mit seinen Altersgenossen der 68er- Generation
begehrt er gegen die Väter auf, die nach Auschwitz wieder
die Macht übernommen und Deutschland erneut bewaffnet haben.
Mit seinem eigenen Vater überwirft sich Lohmann regelmäßig,
zuletzt enterbt dieser ihn, weil er eine lyrisch-sanfte Rede am
Grab der Mutter gehalten hat.
Hoch musikalisch ist Dürrsons Sprache. Mal erzählt er
in knappem Stakkato, mal in großen Bögen, gegen Ende
synkopisch verkürzt, fast aphoristisch, wenn Lohmann mit
dem lange verstorbenen Vater spricht: "Gereizt warst du oft.
Jedoch wo waren deine Verletzungen?... Sag doch was. Du sollst
endlich ganz offen zu Wort kommen bei mir. Ungern lasse ich meine
Bezichtigungen auf dir sitzen."
Lohmann oder Die Kunst sich das Leben zu nehmen ist einer
der ganz großen Vater- Sohn-Romane, ein wenig an Peter Härtlings
"Nachgetragene Liebe" erinnernd. Vielleicht ist es tragisch,
vielleicht nur konsequent, wenn Werner Dürrsons Autobiografie
überdauern wird und seine Gedichte - leider - Fußnoten
bleiben werden.
|