Die Mutter der Moderne
Tobias Lehmkuhl
Als Gertrude Stein 1902, 28-jährig, mit
ihrem Bruder Leo nach Paris zog, in die legendäre Wohnung
27 rue de Fleurus, kannte sie noch niemand, und auch sie selbst
wusste damals nicht, wohin ihre vielen Begabungen und Interessen
sie treiben würden. Als sie 1946 starb, war sie zur wichtigsten
Schriftstellerin Amerikas geworden, zur Grand Old Lady der Avantgarde,
eine gefragte Vortragsreisende, Impulsgeberin der Literatur und
der Malerei, genialische Sprachenmeisterin.
Erstaunlich sind nicht nur ihre Werke, erstaunlich ist nicht nur
ihr Werdegang, erstaunlich ist auch die Wirkung, die sie mit ihrer
Person und ihren Schriften zeitigte und noch immer zeitigt. Traf
sich vor allem in den 20er Jahren eine illustre amerikanische
Exilantenschar in ihrer Wohnung, die zugleich Salon und Ausstellungsraum
war, suchten Leute wie Ezra Pound und Ernest Hemingway Rat bei
ihr, so begegnet sich heute die deutsche Dichterelite beim Übersetzen
ihrer Werke - allein innerhalb des letzten Jahres sind vier ihrer
Bücher in Deutschland heraus gekommen.
Zuerst aber sei ein bereits 2001 erschienenes Buch erwähnt,
The First Reader, eine Art Fibel, übersetzt von Ulrike
Draesner. In zwanzig Lektionen und drei noch kürzeren Theaterstücken,
allesamt amüsant illustriert von Günter Brus, präsentiert
Stein mit The First Reader eine Schule des Lesens. Durchaus
geeignet für Kinder, aber ebenso für Erwachsene, die
Sprachspielerisches schätzen, und zugleich um den Ernst wissen,
dass es keine Welt außerhalb der Sprache gibt. Das Sprachspiel
avanciert bei Stein zur Sprachkritik. Mit den Mitteln der Sprache
stellt sie das System der Sprache selbst in Frage: "Da ist
kein Stuhl", "Nein da ist kein Stuhl denn ich sitze
auf ihm", "Und da ist kein er denn ich sitze auf ihm".
Hier zeigt sich, dass es für Stein durchaus als möglich
gilt, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Man muss
eben nur genau sein. Doch lässt sich die Schraube leicht
eins weiter drehen: Dann tritt die Sprache als ganz und gar selbstreferenzielles
System in Erscheinung, als musikalisch-mathematisches Prinzip,
in dem Bedeutungen und Klänge frei flotieren.
So etwa in Reread Another. Die Übersetzung durch den
Grand Old Man der deutschen Lyrik, Oskar Pastior, macht schon
im Titel klar, wohin die Reise geht: Das Original "Reread
Another. A play. To be played indoors or out. I wish to be a school"
transformiert Pastior zu "Noch mal den Text ein anderer.
Quartier / Gestell. Überdacht oder im Freien. Meinetwegen
eine Schule". Das liest sich etwas spröde, vorgelesen,
gesprochen, gesungen von Pastior aber - dem Buch ist eine CD,
der CD ein Buch beigegeben - macht dieses Spiel / Play große
Freude. "Weniger was ein wort bedeutet als wie es bedeutet.
Wie es sich durch den satz bewegt, wie sich der satz durch es
bewegt." Diese Wort- und Wörterbewegung lässt sich
auch in Barbara Köhlers Neuübersetzung von Tender
Buttons nachvollziehen. Köhler bringt Stein auf zuweilen
rätselhafte Weise ins Deutsche, derart überbordend anspielungsreich
und verwickelt, dass das sinnliche Vergnügen auch ohne CD
enorm ist, denn hier knistert und klingelt es überall. Mag
einem auch die Hälfte der Referenzen und Reverenzen entgehen,
das ästhetische Empfinden wird beständig und auf vielfältigste
Weise angesprochen.
Sprache wird auf diesem Weg verdinglicht. Das einzelne Wort interessiert
in seinem gesamten Bedeutungsspektrum; es ist nicht nur Funktionselement
innerhalb eines Satzes, wo es auf einen bestimmten Bedeutungsbereich
begrenzt ist, sondern eine Welt für sich. Stein macht, schreibt
Ulf Stolterfoht, "die der Verweislast enthobenen Wörter
zu ihrem eigenen Gegenstand". Die stete Wiederholung einiger
weniger Wörter, die Variation und damit stete Neuschaffung
unterschiedlicher Konstellationen, in deren Zusammenhang die Wörter
ihre semantischen Möglichkeiten entfalten, ist das Prinzip
von Winning his way. wie man seine art gewinnt, einem "erzählgedicht
über dichtung", das Stolterfoht erstmalig ins Deutsche
gebracht hat. Dieser Text hält ein besonderes Schmankerl
parat: Die deutsche Ausgabe folgt im Seitenumbruch exakt der amerikanischen
Erstausgabe von 1956. So zeigt sich, dass die Wörter nicht
nur in ihrem syntaktischen Verhältnis zueinander betrachtet
werden können, sondern auch in jenem Verhältnis, das
der Drucksatz schafft.
Stolterfoht, Köhler, Pastior, Draesner - es ist ein Glück,
dass sich einige der lebendigsten deutschen Dichter gefunden haben,
vier Werke Gertrude Steins (neu) zu übersetzen. Schließlich
ist sie die Mutter der Moderne, ein Klassiker, und Klassiker wollen
immer aufs Neue und möglichst vollständig übersetzt
werden. Man kann nur hoffen, dass es so weitergeht: "das
problem löst sich von selbst. auf in dies. ob ein gedicht./
weitergeht. wegen. eines kusses. oder wegen. eines/ großartigen
schlusses. oder weil. es keinen grund / gibt."
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: Winning
his way. wie man seine art gewinnt. Übersetzt von
Ulf Stolterfoht. 128 Seiten. Urs Engeler. Basel 2005. € 19,00.
: Geld.
Übersetzt von Michael Mundhenk. 24 Seiten. Friedenauer Presse,
Berlin 2004. € 9,50.
: Tender
Buttons. Zarte knöpft. Übersetzt von Barbara
Köhler. 156 Seiten. Suhrkamp. Frankfurt 2004. € 19,80.
: Reread
Another. Nochmal den Text ein anderer. Übersetzt von
Oskar Pastior. 52 S. + 1 CD. Urs Engeler. Basel 2004. € 24,00.
: The
First Reader. Übersetzt von Ulrike Draesner. 126 Seiten.
Ritter. Klagenfurt 2001. € 20,00.
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