Am Erker 60

F. W. Bernstein am Berliner Alten Museum

F. W. Bernstein auf dem Berliner Garnisonsfriedhof

F. W. Bernstein und Andreas Verstappen auf dem Berliner Garnisonsfriedhof
F. W. Bernstein und Andreas Verstappen in Berlin 2010.
Alle Bilder lassen sich durch Anklicken vergrößern.
 
F. W. Bernstein an VerstAnd, 1987
F. W. Bernsteins gezeichneter Gruß an Andreas Verstappen zum bestandenen Magister 1987

 

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F. W. Bernstein

 
Fritz Weigle (F. W. Bernstein)

Im Gespräch mit Andreas Verstappen (VerstAnd)

Am Erker Nr. 60, Münster, Dezember 2010

"Keine Definitionen jetzt!"
Ein Gespräch mit dem Zeichner und Dichter über Sein und Schein in der Hochkultur.

 

Fritz Weigle, Künstlername F. W. Bernstein, wurde 1938 in Göppingen geboren. Er ist nach dem Tode Robert Gernhardts und F. K. Waechters der letzte Überlebende des harten Kerns der Neuen Frankfurter Schule, der einflussreichsten Satiregruppe der Bonner Republik, und Mitarbeiter resp. Begründer der Zeitschriften pardon und Titanic. In Disziplinen wie der Zeichen- und der komischen Dichtkunst genießt er höchste Reputation. Zudem erhielt er als Deutschlands bislang einziger Professor für Karikatur und Bildergeschichte auch akademische Weihen. Aktuell erschienen von ihm, beide in Münster, die Illustrationen zu zwei sehr empfehlenswerten Büchern: dem Kinderbuch Knut Großmut, der Raubtierbändiger - Eine Zaubergeschichte für Kinder mit starken Nerven von Klaus Cäsar Zehrer (Monsenstein & Vannerdat) und Stadt Land Russ' (Oktober Verlag), einer hochkomischen Sammlung satirischer Anekdoten aus der fränkischen Schweiz, dem letzten vollendeten Werk des 2007 verstorbenen Michael Rudolf. Rudolfs Pamphletsammlung Schrumpft die Bundesrepublik! erschien, ergänzt um Texte von Jürgen Roth und Bilder von F. W. Bernstein, bei Zweitausendeins.
Als Satiriker per definitionem Randständiger im Kulturbetrieb, ist F. W. Bernstein prädestiniert, Sein und Schein der Hochkultur auszuleuchten. Dazu besuchte ihn Andreas Verstappen an einem heißen Julitag des Jahres 2010 in Berlin.

Die Fotos (von Andreas Verstappen) entstanden am Alten Museum und auf dem alten Garnisonsfriedhof in Berlin-Mitte.

 

Am Erker: Für ein Gespräch über Hochkultur hätten wir keinen besseren Ort finden können als den, an dem wir hier gerade sitzen ...

Weigle: ... auf der Freitreppe am Alten Museum in Berlin am Lustgarten mit Blick auf den Ort, wo mal der Palast der Republik gestanden hat.

Am Erker: Bei mir Fritz Weigle alias F. W. Bernstein, der sich ja an der Hochkultur immer schon die Nase ... eingerannt hat? Oder besser: plattgedrückt hat?

Weigle: Plattgedrückt ... Geguckt am Schaufenster, und was mir gefallen hat, ist natürlich Hochkultur.

Am Erker: Hat sich die Hochkultur selbst denn davon beeinflussen lassen? Sieht sie anders aus als vor einem Vierteljahrhundert?

Weigle: Ja, aber das tut sie auch ohne mein Zutun. Sie ist durch und durch kommerzialisiert, und was da nun gerade in dieser Hitparade in die Top Ten kommt, das hängt natürlich auch von den Medien und vom Geld ab. Ich bin trotzdem für die Hochkultur - gerade, da wir hier vor dem alten Museum sitzen -, aber keine Definitionen jetzt! Ich wüsste auch gar keine.
Also: Wo fängt die Hochkultur an, und wo hört die Höchstkultur auf? Jetzt müssen Namen auf den Tisch.

Am Erker: Aber vorher müssen wir uns einigen, über welche Bereiche der Kultur wir reden wollen.

Weigle: Beginnen wir doch einfach mit der Grafik, der Zeichnerei, so eng würde ich es erst mal fassen ... Und die Malerei. Dann so das, was an den Kunstakademien gelehrt wird: Musik, Filme, Architektur. Den ganzen Installationskram würde ich weglassen, da bin ich ein Reaktionär.

Am Erker: Also die Zeichnerei.

Weigle: Unter den ersten fünf wären bei mir Picasso, F. K. Waechter, Horst Janssen, der Zeichner Karl Hubbuch aus den Zwanziger Jahren. Die kämen in mein imaginäres Museum. Kriterium ist das persönliche Wohlgefallen.

Am Erker: Wie sieht's mit komischen Künstlern aus? Rattelschneck zum Beispiel. Oder schadet Komik der Zeichnerei?

Weigle: Da sprechen Sie was an. Nun, sie schadet gar nicht. Die Arte Povera von Rattelschneck - da steckt ja vor allem Marcus Weimer, ein sehr kluger Kopf und immer wohlinformiert, dahinter - ist auf jeden Fall hohe Kunst. Da würde ich auch gleich noch einen Virtuosen und Supertechniker nennen, nämlich Ernst Kahl.

Am Erker: Doppeltalente des Malens und Zeichnens? Michael Sowa?

Weigle: Ernst Kahl, Michael Sowa, Rudi Hurzlmeier ..., die auch zusammen Ausstellungen machen und zur Zeit in Kassel eine Sommerakademie bestreiten, um dort komische Zeichnung zu lehren und weiterzuentwickeln.

Am Erker: Gibt es auch komplett unkomische Zeichner, die erwähnt werden müssen?

Weigle: Unter den Zeichnern aus der Hochkunst, die nicht komisch sind, ist Max Beckmann ein Großer. Die Bilder haben einen grafischen Wohllaut. Es gibt auch einen spätmittelalterlichen Zeichner aus dem fünfzehnten Jahrhundert, den Hausbuchmeister. Der hat das Hausbuch eines Fürsten illustriert, also Realitäten abgebildet: einen Bauernhof, das Turnier, ein paar halballegorische Sachen. Der konnte aber auch komische Figuren zeichnen. Seine Staffagefiguren - Prinzen, Ritter und Bettler - haben die besondere Qualität, dass sie unter sich agieren, Kontakt aufnehmen, beweglich sind. Dass hier der Beginn der Figurenkomik liegt, war ihm wohl selbst bewusst. Später gibt es dann die Groteskzeichner, Hieronymus Bosch zum Beispiel, von dessen Zeichnungen aber nur wenige erhalten sind. Der Hausbuchmeister aber wollte gar nicht komisch sein. Er meint es realistisch.
Die Kunstgeschichte hat ihn übrigens nicht vergessen, weil sein komplettes Oeuvre erhalten ist.

Am Erker: Wie steht es um die Gründerväter des Comics? Wilhelm Busch etwa?

Fritz Weigle: Busch war ein ganz großer Meister, in den Bildgeschichten selbst, aber auch in seinen Skizzenbüchern und in seinen Porträts. Er und Menzel waren die Großmeister des neunzehnten Jahrhunderts. Sie haben bis nach Amerika gewirkt. Rudolph Dirks' 1897 erstmals erschienener Zeitungsstrip The Katzenjammer Kids wäre ohne Wilhelm Busch nicht denkbar. Auch Lyonel Feininger hat als Comicmann angefangen, um dann aber leider in einer strohdummen Salongotik zu landen.

Am Erker: Rodolphe Toepffer?

Fritz Weigle: Unbedingt! Toepffer hatte allerdings die Theorie, dass man nicht akademisch korrekt zeichnen können müsse, um Szenen zu entwickeln, Geschichten zu erzählen und komisch zu sein.

Am Erker: Hatte er denn Unrecht damit?

Weigle: Er hat sich selbst nicht als Künstler gesehen. Ich bin bloß ein Faxenmacher, hat er immer gesagt. Aber immerhin erläutert er (in seinem Essai de Physiognomie), wie man Figuren grafisch in Bewegung versetzt, indem man ein abgekürztes Zeichensystem nimmt. Das wiederum ist eine künstlerische Leistung, eine Reduktion der Mittel. Vorher hat man immer viel zu viel gestrichelt. Sehen Sie, über uns die Krähen ... fliegen schon nach Süden!

Am Erker: Eher nach Norden ...

Weigle: Über die skandinavischen Zeichner wissen wir zu wenig. Aber Olaf Gulbransson gehört unbedingt in unsere Hitparade. Sein Stammblatt, der alte Simplicissimus, hielt vor dem Ersten Weltkrieg gleich mit mehreren Zeichnern das höchste grafische Niveau im neunzehnten Jahrhundert. In den sechziger und siebziger Jahren bei pardon war es dann hauptsächlich F. K. Waechter, der, allerdings unerkannt, dieses Höchstniveau erreicht hat.

Am Erker: Von Waechter aus fällt der Sprung zur Literatur nicht schwer, zumal es da auch Überschneidungen gibt. Hat es ein Literat leichter, in die Sphären der Hochkultur zu gelangen? Schreiben kann schließlich jeder, zeichnen nicht.

Weigle: Im neunzehnten Jahrhundert konnte jeder zeichnen - aber zu schreiben, abgesehen von Briefen und Tagebüchern, das hat sich nicht jeder zugetraut. Zeichnen ging leichter von der Hand und wurde in der Schule gelehrt, Schreiben nicht. Ich glaube, der Respekt vor den Profischreibern, den Dichtern, war so groß, dass nur diejenigen etwas veröffentlichten, die davon leben mussten. Ein interessantes Beispiel ist Fontane, der als Journalist angefangen hat und erst viel später Romane schrieb. Aber es gab ja auch Universalbegabungen. Goethe konnte so ziemlich alles, bloß keine Prosa schreiben. Außer dem Werther und der Italienischen Reise ist das alles ziemlich langweilig.

Am Erker: Konnte Goethe Komik?

Weigle: Er konnte immer mal wieder. Aber eher selten. Nur ein paar komische Sachen und ein bisschen Schweinkram hat er gemacht ...

Am Erker: ... im Gegensatz etwa zu Büchner, der ja oft sehr komisch ist ...

Weigle: Ja, unbedingt. Auch Schiller konnte. Denken Sie an die Balladen. Ein wirkliches Universaltalent war allerdings der Kammergerichtsrat Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, eine regelrechte Dreifachbegabung. Er konnte hervorragend zeichnen, er konnte Musik machen und dichten und schreiben. Das war eigentlich der Supermann des neunzehnten Jahrhunderts.

Am Erker: Und hat er ein Pendant im zwanzigsten Jahrhundert?

Weigle: Das ist natürlich Volker Kriegel, der alles konnte, was er nicht gelernt hatte. Gelernt hatte er nur Soziologie bei Adorno. Aber das wiederum - Mehrfachtalent sein - ist kein Kriterium für mein Wohlgefallen oder für Kunst überhaupt. Hölderlin hat nur gedichtet und nicht gezeichnet, Rilke hat auch nicht gezeichnet.

Am Erker: Kommen wir zu den Grenzfällen der Hochkultur. Karl May?

Weigle: Da halt ich's mit Arno Schmidt: Drei Bücher von Karl May sind Weltliteratur. Zum Beispiel die Phantasmagorie Ardistan und Dschinnistan. Ich gehörte noch zu einer Generation, die unbedingt all seine Werke - damals waren es siebzig - lesen wollte. Ich bin nur auf fünfundzwanzig gekommen. Dann hört's irgendwann von selber auf. Aber Winnetous Tod geht mir heute noch nahe. Das ist Kitsch und Quatsch und auch wieder nicht. Der Junge hatte schon literarische Potenz. Ich hab ihn gelesen wie nix Gutes, und er hat mir weitergeholfen im Leben.

Am Erker: Kästner?

Weigle: Ja, zweifellos, unbedingt. Also die ganze Mannschaft: Kästner, Tucholsky, Walter Mehring. Ich würde auch noch einen hinzunehmen, nämlich den Komödienautor Curt Goetz. Ich hab sie gerade wieder auf dem Nachttisch, Dr. med. Hiob Praetorius, Das Haus in Montevideo, Hokuspokus ... Das ist manchmal etwas zu betulich, es geht immer gut aus, aber so wie er es selber gespielt hat, so haben es die anderen nicht erreicht. Da war immer noch etwas Bissiges mit drin. Wenn natürlich irgendein Heinz Rühmann die Rolle übernahm - entsetzlich.
Curt Goetz ist ein Gegengift zu dem, was heute auf den Bühnen zu sehen ist: Man muss kein Stück schreiben, man muss kein Stück schreiben können, man muss überhaupt nicht schreiben können - der Regisseur macht schon irgendwas draus.

Am Erker: Gibt es einen Curt Goetz der Gegenwart?

Weigle: Ich wüsste nicht. Vielleicht früher beim Ohnsorg-Theater. Im Fernsehen gibt es sehr komische Krimifolgen, der Münster-Tatort mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers zum Beispiel - das sind prima besetzte Komödien.

Am Erker: Gehört Tatort zur Hochkultur?

Weigle: Weltkulturerbe! Da ziehe ich das Fernsehen der Bühne, wo momentan doch vor allem diese Finsterlinge gefragt sind, auf jeden Fall vor.

Am Erker: Versperrt die Absicht, Komisches zu produzieren, automatisch den Zugang zur Hochkultur?

Am Erker: Das würde ich nicht sagen. Oft ist es die Ignoranz des Publikums. Ich kenne Theaterleute, die rollen verzückt die Augen, wenn man Curt Goetz sagt, weil sie einen Blick für dramatisches und dramaturgisches Können haben.
Komik ist, glaube ich, nicht rufschädigend. Gehen wir davon aus, dass wir es mit einem intelligenten Publikum zu tun haben und jetzt nicht noch offene Türen einrennen müssen und sagen: Herrschaften, auch Komik ist Kunst.

Am Erker: Was sagen wir zu Loriot? Loriot und Literatur – die Worte hört man selten zusammen.

Weigle: Von mir haben Sie's schon immer gehört, dass Loriot und Literatur zusammengehören. Sogar schriftlich. Seine Filmscripts und seine Reden sind Literatur. Die Filme noch am ehesten. Aber gut, Kino müssten wir sowieso noch mal extra abhandeln ... Aber er hat ein literarisches Oeuvre, das wird alles bei Diogenes ganz prima gepflegt, er hat eine Autobiografie geschrieben, die sich ansehen lassen kann, Möpse und Menschen.

Am Erker: Gibt es auch Künstler, die vollkommen zu Unrecht fraglos der Hochkultur zugerechnet werden?

Weigle: Vielleicht kann man einfach unterscheiden zwischen miserabler Hochkultur und guter Hochkultur. Ich würde auch bei schlechten Malern nicht sagen: raus aus der Malerei. Es gab einen Berliner Maler, Karl Hofer, einen aufrechten Antifaschisten, der nach dem Krieg zu Recht der erste Rektor der Hochschule hier geworden ist. Der konnte halt nicht gut malen. Picasso konnte auch nicht malen, aber der konnte zeichnen. Das ist mittelmäßige Hochkultur; aber ich würde keinen Qualitätsbegriff draus machen wollen. Man wird milde im Alter und schaltet dann eher gleich ab.

Am Erker: Vielleicht blenden wir dann etwas zurück. Hatten Sie, bevor Sie im akademischen Betrieb gelandet sind, Vorbehalte gegen das, was da als Hochkultur verkauft wurde?

Weigle: Nee, gar nicht. Im Gegenteil. Ich war ein sehr bildungshungriger Arbeitersohn, der sich im Gymnasium sehr wohlgefühlt hat, auch immer Klassenprimus war und gelernt hat, was er von zu Hause nicht hatte. Unser Bücherregal war sehr klein: Kochbuch, Sparbuch, Bibel.

Am Erker: Wilhelm Busch?

Weigle: Nein, den brachte ich dann an. Ich konnte auch nie richtig mithalten, als dann '68 der Kampf gegen die Eltern losging. Ich hatte immer das sichere Gefühl, den Erwachsenen alles zu verdanken. Wenn in der Volkshochschule ein Vortrag war über Bert Brecht, ging ich da hin, und bei den alten Zauseln war's mir egal, was die im Krieg gemacht hatten. Ich war eher kulturfromm und hochkunstfromm und unkritisch: Das ist eine höhere Welt, ein Tempel, und da will ich auf einer hinteren Bank sitzen. Ich dachte: Das sind große Künstler, und ich bin der kleine Weigles Fritz. Was zum Künstler gehört, nämlich dass er sich Vorbilder nimmt, die er nachahmt, das hab ich mich nie getraut.

Am Erker: Sprüche wie "Zwischentöne sind nur Krampf / im Klassenkampf" hatten für Sie nie eine Bedeutung?

Weigle: Das hat Degenhardt selbst später zurückgenommen, das sei seine fundamentalistische Phase gewesen. So dachte ich nie. Im Gegenteil. Ich konnte die Beethoven-Symphonien von vorne und von hinten hersummen. Die Musik war für mich sowieso das Höchste. Ich war ein guter Klavierstundenjünger. So bin ich zum Bildungsbürger geworden und habe mit der Zeit alle geborenen Bildungsbürger überholt. Und dann habe ich gemerkt, dass man sich auch darüber lustig machen kann.
Das habe ich vor allem Gernhardt zu verdanken, der von Anfang an die Gabe hatte, Kritik und Komik zu verbinden. Sonst wäre ich ein sehr frommer Feuilletonist geworden. Es war eine Erlösung zu sehen, wie man Kritik auch so bringen konnte: nicht empört, sondern indem man die Lächerlichkeit von Posen zeigt. Das wirkt erledigender, als wenn man sich empört.
Robert Neumann und andere Parodisten, die haben's virtuos gemacht und haben die Leute erledigt durch Nachahmung. Karl Kraus, der Name muss natürlich auch noch fallen. Kennt den überhaupt noch jemand? Die letzten Tage der Menschheit ist eines der größten Stücke des letzten Jahrhunderts überhaupt.

Am Erker: Hochkulturkritik kann also auch Hochkultur sein?

Weigle: Bei Karl Kraus auf jeden Fall. Es gibt ja die hochkulturelle Gattung der Polemik und der Kritik und der Satire. Nehmen wir mal einen, der ein guter Essayist war, ein guter Literaturwissenschaftler, aber sonst eigentlich nix konnte: Martin Walser. Entsetzlich, was er schreibt. Dann ist er noch so dreist und doof, dass er sein Tagebuch veröffentlicht, wo er ständig darüber jammert, dass er falsch verstanden wird von Reich-Ranicki und anderen. Ich bitte Sie. Aber er war ein hervorragender Journalist und Essayist und verstand was von Literatur.

Am Erker: Vor rund zehn Jahren hat sich Gerd Haffmans in einem Interview mal ordentlich über Klagenfurt beklagt.

Weigle: Warum denn? Das ist doch ein prima Zirkus, wenn die da auftreten und ihre Sachen vorlesen. Peter Wawerzinek, der in diesem Sommer gewonnen hat, ist ein guter Mann. Den hatte ich vorher auch schon immer wieder auf der Liste. So ein anarchischer Grotesk-Mann und Schlagetot, der zu diesen Prenzlauer-Berg-Poeten gehört. Das Buch will ich mir rasch beschaffen. Auch einen wie Burkhard Spinnen, der jetzt in der Jury ist, und die Sibylle Lewitscharoff schätze ich sehr. Die kann komisch schreiben. Ihr erstes Buch, mit dem sie auch in Klagenfurt gewesen ist, ist so ein halbirrer Roman, Pong hieß er: ein Stück komische Literatur. Zudem kommt sie auch aus Schwaben.

Am Erker: Zur Musik: Wir hatten das Faible für Klassik angesprochen. Und sonst? Adorno sagte ja mal sinngemäß, Jazz sei scheiße.

Weigle: Da hat ihn der Volker Kriegel aber auch schon abgebürstet; das war Dummzeug. Er hat keine Ahnung gehabt. Er war gegen kommerzielle triviale Musik, aber da kannte er sich nicht aus. Volker Kriegel hat ihn ganz sauber und ordentlich zurechtgewiesen. Adorno hat alles in einen Topf geworfen, Jazz, Pop und was es damals so alles gab.

Am Erker: Gibt es, außer der volkstümlichen Musik, eine Gattung, die sich per se ausschließt aus der Diskussion um Hochkultur?

Weigle: Diese Krachmusik Techno. Damit kann ich nichts anfangen, obwohl ich Leute kenne, die darauf abfahren. Aber wir wollen ja subjektiv bleiben, streng subjektiv - und da schalte ich ab. Der deutsche Schlager, na, der wird ja inzwischen zur Popmusik gerechnet.

Am Erker: Die Rolling Stones - Hochkultur?

Weigle: Natürlich. Ich würde aber eher die Beatles nehmen. In meiner Generation war man entweder Beatle oder Rolling Stone, und ich war bei der Happy Music, bei den Beatles. Die Rolling Stones waren die Aggressiveren, natürlich. Was bleibt einem jungen Mann heute übrig, als Rock 'n' Roll zu machen, "Street Fighting Man" und so. Dann sah ich irgendwann in den siebziger Jahren ein großes Foto der Stones in Monaco, irgendwo auf einer Galerie sitzend, ich dachte an "Street Fighting Man" und war empört. Gut, es war mein Irrtum. Ich habe die für Straßenkämpfer gehalten, aber es waren natürlich Rock-'n'-Roll- und Pop-Leute. Also Künstler, für die das eine Pose war, und die hab ich ernster genommen als sie sich selber.

Am Erker: Gehen wir noch weiter in die Randbereiche. Was ist mit Fußball?

Weigle: Der geniale Beckenbauer ... hat einen guten Fußball gespielt ... nee, nee, da müssten wir ein paar intellektuelle Definitionsklimmzüge unternehmen.

Am Erker: Wird ja gemacht. In der Zeitschrift 11 Freunde wird seitenlang über Bananenflanken doziert.

Weigle: Gut, dann rechnen wir's auch zur Hochkunst. Tut niemandem weh, bringt Genuss, und ein schönes Kombinationsspiel, das mit einem Tor endet, hat eine ähnlich starke Wirkung. Mit dem Unterschied, dass man sich bei den Künsten nicht so recht traut, auch so zu jubeln; außer wenn einer virtuos spielt und die Leute am Ende endlich klatschen und aufstehen dürfen ...
Die Wirkung ist bei mir auch ähnlich. Was zum Fußball aber auch gehört und was ich unbedingt zu den Künsten rechnen würde, ist die Fankultur. Da gibt's die wunderbaren Beschimpfungen des Gegners. Als zum Beispiel Bayern gegen Fortuna Düsseldorf spielte - das ist natürlich lange her - und das Publikum bei der Vorstellung jeden Namen der gegnerischen Mannschaft kommentierte: "Im Tor: Sepp Maier" - "Na und?"

Am Erker: Jetzt haben wir, glaube ich, alle relevanten Bereiche durchgeackert.

Weigle: Noch lange nicht. Die Rhetorik zum Beispiel ...

Am Erker: Nun, wenn wir die traditionellen freien Künste dazunehmen, müssten wir aber auch die Mathematik berücksichtigen ...

Weigle: Und die Astronomie ... Nehmen wir einfach alle dazu.

Am Erker: Gut, schließen wir einfach mit sechs Namen: denen der drei wichtigsten verstorbenen und denen der drei wichtigsten lebenden Hochkünstler jeweils aller Gattungen.

Weigle: Die drei Verstorbenen: Gustav Mahler, der Maler Giorgione im alten Venedig, und - bei Architekten kenn ich mich kaum aus, die fallen ganz raus - nehmen wir noch einen Klaviervirtuosen, Horowitz. Übermorgen würde ich Ihnen ganz andere sagen. Jetzt die Lebenden: der englische Karikaturist Gerald Scarfe, der gerade in Hannover eine Ausstellung hatte, der amerikanische Maler Alex Katz, und, wenn's ein Musiker sollt, da gibt's genügend zeitgenössische, die ich nicht mitkriege. Aber vor wem ich großen Respekt habe und wen ich ganz prima fand, ist Hans Werner Henze. Aber den würde ich nur in Klammern nehmen, weil ich da nicht die ganz reine Wonne verspüre. Also lieber Randy Newman, der ist es.

Am Erker: Genau, wir wollten ja subjektiv bleiben ...

Weigle: Der ist objektiv der Größte.

Am Erker: Dann danke ich sehr herzlich für das Gespräch.