Am Erker 56

Paul Nizon, März 2008
Paul Nizon, März 2008

Paul Nizon, März 2008
Paul Nizon, März 2008

Paul Nizon: Im Bauch des Wals

Paul Nizon: Die Zettel des Kuriers

Paul Nizon: Die Innenseite des Mantels

Paul Nizon: Das Jahr der Liebe

Links:

Paul Nizon

 
Paul Nizon

Alfons Huckebrink sprach mit Paul Nizon in dessen Pariser Wohnung.

Am Erker Nr. 56, Münster, Dezember 2008
Auch als Download im doc-Format zu lesen

"Bei einem richtigen Künstler geht es um den ganzen Einsatz."

Paul Nizon wird 1929 in Bern geboren. Sein Vater, ein Chemiker und Erfinder, war aus Riga in die Schweiz emigriert. Seine Mutter ist Bernerin. Nach dem Studium der Kunstgeschichte promoviert er 1957 über Vincent van Gogh. (Für die Arbeit an der Dissertation sucht er die Klausur im Spessart.) Für kurze Zeit arbeitet er als Kunstkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Schon früh jedoch entscheidet er sich jedoch für den Berufswunsch Schriftsteller, macht 1960 in Zürich die Bekanntschaft mit Max Frisch und verbringt ein Jahr als Stipendiat in Rom. 1963 erscheint der Canto, eine Verarbeitung des Rom-Aufenthalts sowie eine Auseinandersetzung mit der Gestalt des früh verstorbenen Vaters. Nachdem das Buch bei der Kritik durchfällt, arbeitet Nizon wieder als Kunstkritiker. Erst 1971 erscheint Im Hause enden die Geschichten. Seinen Spessart-Aufenthalt verarbeitet er im Roman Stolz (1975), dessen Protagonist im Winterwald verloren geht und erfriert. 1977 siedelt Nizon nach Paris über. 1980 heiratet er dort seine dritte Frau Odile, eine Freundin seiner Tochter Valérie. 1981 erscheint sein großer Paris-Roman Das Jahr der Liebe, in dem die Erlebnisse der Jahre 1977/78 verarbeitet werden. Das Buch macht ihn in Frankreich berühmt. 1984 wird er Gastdozent für Poetik an  der Uni Frankfurt und veröffentlicht 1985 Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen. Weitere wichtige Bücher sind Im Bauch des Wals (1989) sowie 1998 das lange liegen gebliebene Hund. Beichte am Mittag. Im Jahr darauf erscheinen Gesammelte Werke in sieben Bänden. Seit 1994 (Das Auge des Kuriers) werden die Journalbände veröffentlicht, 2006 erscheint sein bislang letzter Roman Das Fell der Forelle.
Kritiker rühmen an Nizons Prosa eine durchgehende Musikalität, ihre subtile Orchestrierung. Le Monde nennt ihn einen "Verzauberer". Soeben erschien Nizons neuer Journalband Die Zettel des Kuriers, der die 90er Jahre abdeckt.

 

Am Erker: Sie leben seit 1977 in Paris. Eine "unerschöpfliche Metropole", wie Sie einst formuliert haben. "Höhenflieger und Bruchpiloten" ist das Thema dieser Ausgabe von Am Erker. Bietet Paris den "Höhenfliegern" günstige Bedingungen?

Nizon: Wenn ich an Paris denke, kommt mir überhaupt kein Flugbild in den Sinn, es sei denn das aus meinem letzten Buch Das Fell der Forelle, nein, Paris ist eine absolut irdische Stadt, obwohl sie einen vollkommen schönen Himmel hat. Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass der Himmel eine Erfindung des Unten ist. Manche Leute sagen, Landschaften, Städte und Länder wechseln, aber der Himmel bleibt immer derselbe. Das ist in Wirklichkeit überhaupt nicht so. Unfug. Aber Höhenflieger? Nein.

Am Erker: Kann das Schreiben einen zum Höhenflieger machen? Ist der Schriftsteller, ein Künstler, gezwungen zum entscheidenden Anlauf, zum großen Wurf, aber auch zum Wagnis des Abhebens?

Nizon: Er wühlt zunächst in der Menge seiner Erfahrungen und Bedingungen. Aber der Wunsch, die Passion, besteht eindeutig im Abheben in eine andere Dimension. Früher hätte man gesagt, in eine geistige oder spirituelle Dimension. In eine Vision, eine Lebensvision. Die ganzen Bücher sind eben nicht nur Interpretationen gelebten Lebens, sondern auch Konstruktionen von Vorstellungswelten und Kosmen. Mir kommt beim Wort "Höhenflug" selbstverständlich gleich ein Bild in den Sinn. Das ist der Hochflug der Seele: aus den Niederungen, den Quälereien, einer Traurigkeit, sich emporzuschwingen in eine andere Dimension, sei es eine Glücksdimension oder eine Art Himmel. Das ist die einzige Vorstellung, die ich mit dem Reizwort "Flug" verbinden kann. Literarisch gilt etwas ganz anderes, nämlich die Obsession, ein Kunstwerk zu machen. Dass Literatur nicht etwa eine Mitteilungsmaschine ist, sondern ein Kunstding herstellt, das mit der Gabe der Unvergänglichkeit ausgestattet ist. Mit der Dichte an sich, die Überlebensdichte sein soll. Literatur als Medium einer Verkündigung zu missbrauchen, das liegt nicht in meiner Natur. Bei mir ist die Ambition altmodisch, eine künstlerische.

Am Erker: Warum bezeichnen Sie diese Einstellung als altmodisch?

Nizon: Weil ich den Eindruck habe, dass diese Art von Literatur oder von Kunstwollen, wie man das für die Bildende Kunst genannt hat, überhaupt nicht mehr existiert. Ich höre jedenfalls nie davon. Andererseits bin ich vom deutschen Literaturbetrieb ziemlich abgekoppelt. Ich lese selten deutschsprachige Zeitungen und höre kein deutsches Radio, stecke nicht unbedingt im Diskurs. Aber auch hier höre ich nur selten vom künstlerischen Anspruch der Literatur reden. Meistens geht es um das Geschichtenmaterial oder die Aktualität des Inhaltlichen, was für mich vollkommen idiotisch ist, denn das Inhaltliche strömt doch aus dieser Sprachtiefe heraus. Natürlich hat ein Buch seinen Gegenstand, sagen wir einen autobiografischen Gegenstand, sagen wir einen fiktiven, aber dieser wird verwandelt in ein künstlerisches Sprachgebilde, aus dem ihm Dimensionen zufließen, unter- wie oberirdische. Das ist wie in der Musik. Der Bedeutungsreichtum, die Bedeutungstiefe strömen aus den künstlerischen Strukturen des literarischen Werks, was das gemeine kolportierte Ding, wenn es noch so aktuell ist, nicht mitbringen kann. Für mich ist das Kolportierende flach, selbst wenn seine Saga, sein Plot, noch so erschreckend ist. Mit der einen Lesetour hat's sein Bewenden, gleich hat man's wieder vergessen, während wirklich dichterische Bücher eingehen, einen unterwandern und im eigenen Wesen zirkulieren. Das macht die künstlerische Dimension aus, etwas anderes interessiert mich an Literatur nicht. Wenn man mal vom Markt und solchen Dingen absieht, weil Bücher ja auch reine Marktartikel sind.

Am Erker: Interessiert Sie der Leser?

Nizon: Beim Schreiben interessiert mich der Leser - sagen wir - nicht besonders ... oder ... doch, ich wende mich natürlich auch an einen Leser. Klar. Aber ich denke nicht an ihn, jedenfalls sehr lange habe ich beim Schreiben an keinen Leser gedacht. Aber da meine Bücher irgendwie auf dem Hintergrund eines bekennenden monologischen Systems aufgebaut sind, richtet sich das Bekennerische, dieses Lebensbekennerische nämlich, auch an ein Publikum, das heißt an ein Du. Ich denke nicht an ein Publikum, aber an ein Du, natürlich.

Am Erker: An mancher Stelle, zum Beispiel im "Diskurs in der Enge" 1970, haben Sie sich über die Beschränktheit Ihres Landes, seine Selbstbezogenheit beklagt. Nun hat die Schweiz vielleicht, in Relation zur Bevölkerungszahl, erstaunlich viele bedeutsame Autoren herausgebracht. Unlängst äußerte der frühere Suhrkamp-Lektor und Verleger Rainer Weiss in der Neuen Zürcher Zeitung den Wunsch, im nächsten Leben ein Schweizer zu sein. Muss man wohl, um der Enge zu entgehen, sich schreibend zu erheben, vom Naturell her ein Höhenflieger sein?

Nizon: Ich weiß gar nicht, ob so viele bedeutsame Autoren aus der Schweiz kommen. Mag sein. Ich habe dazu eine kleine Hausfrauenrechnung aufgemacht, die ich aber nie überprüft habe. Ich denke, dass Krisensituationen oder -gesellschaften oder Nationen in einem krisenhaften Zustand fruchtbar sind für die Kunst oder die Schriftsteller, und ausgewogene, gelingende Gesellschaften vielleicht weniger. Wenn ich also sage, die Schweiz hat einen großen Reichtum an Schriftstellern, was vielleicht wirklich der Fall ist, dann darum, weil einem empfindsamen Menschen fast gar nichts anderes übrig bleibt in dem Land, als via künstlerische Tätigkeit abzuheben, sich abzusetzen oder abzufliegen, um in Ihren Termini zu bleiben, weil es sonst erstickend eng und - zumindest damals war es so - erstickend materialistisch eng war, dass für das Geistige, für den Höhenflug oder für das Zarte wenig Raum blieb. Alles war ohne Bewegung, denn es ging meist um das Verwalten, Ordnen, Musealisieren des Erworbenen, aber nicht um das Entdecken, Entwerfen, Verändern. Das wiederum sind Bedingungen, die für künstlerische Leute schwer zu ertragen sind, so dass sie abheben müssen.

Am Erker: Mit dem Faust-Zitat "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" zum Begriff des "Bruchpiloten". Gehört auch diese Figur, verstanden als Metapher für das Scheitern, zur psychischen Grundausstattung eines Schriftstellers?

Nizon: Bei einem richtigen Schriftsteller oder Künstler geht es zunächst mal um den ganzen Einsatz, und der bedingt einfach das Wagnis und die Gefahr des Absturzes. Für mich stand niemals, nicht einmal in meinem frühesten künstlerischen Leben, meine Begabung infrage. Von der war ich überzeugt, aber eine riesige Frage war für mich: Werd ich es fertigbringen können, mich zu realisieren? Das rauszuholen, was in mir steckt. Etwas, an dem ich nicht zweifle. Aber das Herausholen, das Umsetzen, war für mich eine derart quälende Frage, damit verbunden natürlich auch das Misslingen, das Kaputtgehen, und zwar weil ich auf gar nichts anderes gesetzt hatte und setzen konnte vom Innersten her. So war die Frage des Scheiterns stets präsent. Sie hat mich begleitet, nicht als Nebenfrage, sondern als zentrale, existenzielle Katastrophenfrage.

Am Erker: Das Risiko bleibt immer dabei? Niemals kann man sagen: Jetzt habe ich es geschafft?

Nizon: Ja.

Am Erker: Höhenflieger in der Kunst, Bruchpilot im Leben. Ich meine, dieser Widerspruch wird von Ihnen künstlerisch dargestellt im Roman Hund. Beichte am Mittag. Der Ich-Erzähler, ein Streuner, erscheint mir als Bruchpilot des Lebens, als jemand, der gescheitert ist.

Nizon: Gescheitert ist? Ja, vollkommen.

Am Erker: Im Hintergrund der Schriftsteller mit der wallenden Löwenmähne, der ihn zunehmend begleitet, sein alter ego offenbar, ein anderer Entwurf von ihm und angelegt als Höhenflieger in der Kunst, um eine Möglichkeit anzudeuten, wie er sich hätte herausholen können. Ist diese Sichtweise plausibel?

Nizon: In dem Buch ist die Umkehrung wichtig. Der Erzähler im Hund ist eine Figur aus dem vorangegangenen Buch Im Bauch des Wals. Und diese Erfindung wird Autor, und der Künstler, der Schriftsteller, der in dem Buch auftritt, wird Nebenfigur. Von diesem Erzähler, einem Clochard, weiß man nicht genau, was sein Vorleben war, aber es muss ein gewisses anständiges und vielleicht sogar bedeutendes Vorleben sein, was aus seinen Allüren hervorgeht. Er hat Stil, er bettelt nicht. Er biedert sich nicht an, er spricht eigentlich auch nicht, er säuft nicht. Aber er ist ein Runtergekommener, ein Gescheiterter, ein aus den Maschen der Gesellschaft gefallenes Wesen. Der andere, der Schriftsteller, seinen Weg kreuzend, hat ein schlechtes Gewissen gegenüber diesem Ausgestellten, dieser Randfigur. Und er merkt auch, dass die Randfigur ihn, den Schriftsteller, hämisch betrachtet. Zunächst mal hämisch, weil als Angeber. Künstler sind Angeber in den Augen des Herumstehers. Er weiß zunächst nicht, dass es ein Schriftsteller ist. Aber als er es weiß, packt ihn die Angst, dass dieser ihn fangen, ihn in eine Geschichte einbringen und diese engführen könnte, so dass ihm praktisch sein Leben gestohlen würde. Das ist seine Angst. Deshalb flieht er vor diesem Schriftsteller. Es ist natürlich eine Aufwertung des Gescheiterten in eine Dimension, von der man nicht wissen kann - das ist nicht ausgeführt -, ob es eine mystische oder höhere Dimension sein könnte. In meinen Augen liegt in der Vorstellung des Herunterkommens - nicht für jedermann, aber als höchste Möglichkeit - die Läuterung, das Abwerfen alles Miesen, des miesepetrigen Specks der Lebensinteressen, im Sinne einer Gesundmagerung, fast einer Vergeistigung. Und wiederum beim Künstler ist die Gefahr, dass er durch den Erfolg ...

Am Erker: ... korrumpiert wird?

Nizon: Ja, genau.

Am Erker: Offensichtlich braucht es für die Entwicklung zum Schriftsteller und Künstler Identifikations- oder, wie Sie im Hinblick auf Robert Walser und Vincent van Gogh formuliert haben, "Zündfiguren". Über van Gogh haben Sie 1957 promoviert.

Nizon: Van Gogh war für mich das totalste künstlerische Entflammtsein, der höchste Einsatz und auch die Vorstellung oder die Ahnung - damals war ich noch sehr jung -, dass der einzige Zugang zum Leben durch den Weg der künstlerischen Arbeit gegeben ist. Es gibt keinen anderen, nicht für Leute wie mich. Es hat mich unglaublich beeindruckt zu sehen, wie dieser Mann aus einer menschlich-psychologisch sehr schwierigen Konstellation heraus, künstlerisch am Anfang vollkommen unbegabt, sich mit dem Werkzeug der Kunst der Wirklichkeit, dem Dasein eingeschrieben, genähert hat. Dieses Stufenprogramm, dieser Kampf des Leben-an-sich-Bringens, dieser zähe Prozess! Dann der totale Einsatz, die denkbar radikalste Hingabe an die Arbeit des Künstlers. Ebenso die Passion, am Anfang noch mit religiösen Vorstellungen - er kam aus einem Pfarrhaus - vermischt, von denen er sich befreite und zur schrankenlosen Menschenliebe und Daseinszugewandtheit, zur Leichtigkeit und Transparenz gelangte. Er konnte so wunderbare Sachen sagen: "Wie wir den Zug nehmen, um von Marseille nach Perpignan zu fahren, so nehmen wir den Tod, um unter die Sterne zu gehen." Und dieses Größte und gleichzeitig im menschlichen Schicksal so Einfache, das tägliche manuelle Arbeiten, dass er mit seiner Staffelei auf dem Buckel rausgeht an die Natur, dieses Aufgeladensein und Verbrennen, das hat mich unglaublich fasziniert. Diese Hingabe an die Kunst, das war das reine Künstlerbild, meines, andere haben andere Vorstellungen gehabt. Etwas Ähnliches, wenn auch typenmäßig völlig verschieden, verkörperte Robert Walser, der alles auf das Schreiben gesetzt hatte. Beide haben natürlich den Preis der Einsamkeit, den Preis der Frauenlosigkeit bezahlt, was bei mir nicht der Fall ist. Bei beiden auch dieses materiell vollkommen Unspekulative. Bei beiden auch dieses Scheitern zu Lebzeiten, wobei beide triumphieren nach dem Tode. Bei van Gogh war's unmittelbar nach dem Tode. Die höchsten je bezahlten Preise wurden in Auktionen erzielt. Und bei Walser zwanzig, dreißig Jahre nach dem Tod ein unglaublicher Triumph.

Am Erker: Ich erinnere mich, dass Sie in Bezug auf Walser leicht schaudernd von einer "Hölderlinexistenz" sprechen, da er nach seiner Schreibphase mehr als zwanzig Jahre unproduktiv in der Psychiatrie gelebt hat.

Nizon: Gescheitert! Wenn man das den beiden gesagt hätte! Beide wussten, dass sie irgendwie gescheitert sind, und Walser hat es ausgesprochen, wenn man ihn in seinem Verrücktenasyl besucht hat: Ich will nicht auf meine Literatur angesprochen werden. Er hätte gesagt, ich bin ein gescheiterter Schriftsteller. Der andere, der nie ein Bild verkaufen konnte mit Ausnahme eines einzigen, hätte auch gesagt: Ich bin gescheitert oder ich genüge nicht. Aber beide hatten eine hohe Meinung von der Kunst und eine unglaubliche Passion, in diesem Gebiet an etwas zu rühren. Man kann sich kaum vorstellen, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie Erfolg gehabt hätten.

Am Erker: Sie haben 1977 Van Gogh in seinen Briefen herausgegeben. Im Nachwort zitieren Sie ihn: "Ich scheine mir immer ein Wanderer zu sein, der ein Stück Weges zieht, zu irgendeiner Bestimmung. Wenn ich mir sage, das Gewisse, die Bestimmung, das gibt es gar nicht, so scheint mir das nicht unwahrscheinlich." Wird so die Künstlerexistenz definiert?

Nizon: Ohne Garantie.

Am Erker: Beginnt sie stets in der Verzweiflung?

Nizon: Ja, sie bricht eher aus einer Verzweiflung oder aus einem Mangel hervor, aus einer Vertreibung, einem Querstehen, einer Unangepasstheit. Aus solchen Dingen. Ein glücklicher und angepasster Erdenbürger und Gesellschaftsbürger wird nicht unbedingt und natürlicherweise auf diese Schiene geschoben. Es sei denn, er wird ein Propagandist von etwas oder ein Lobredner, meinetwegen auch von etwas, das ihm sehr gefällt. Aber das Querstehen und das Nichtgenügen, das Unglücklichsein stehen am Beginn künstlerischer Tätigkeit.

Am Erker: Die Künstlerexistenz wäre also nur auf Leben und Tod zu haben. Im Zusammenhang mit van Gogh sprachen Sie einmal von dessen "eruptiver Produktivität". Sie selbst haben in dem kurzen Text "Was ich zum Schreiben brauche", verfasst anlässlich der "Nizon-Nacht" im schweizerischen Kulturinstitut in Paris 1999, "Mangel oder Überfluss" als Bedingung genannt. Oder beides zusammen und gleichzeitig?

Nizon: Bei mir sind beide Bedingungen in Aktion gewesen, sind es noch. Aus einer Niederung, einer Bedrückung, einer Mangelsituation sich herausschreiben, aber ich kenne auch das Schreiben aus dem Überschwang, dass so viel da ist, um es loszuwerden, damit ich nicht zerplatze. Beides, das Zuviel und das Zuwenig, das Entbehren. In Das Jahr der Liebe etwa habe ich über zwanzig Seiten diese Busfahrt durch Paris, ohne Strich und Komma, so hingedonnert und dabei gedacht, entweder es ist Quatsch, oder es ist genial. Und es war dann eher genial (lacht).

Am Erker: Woraus ist die Energie bei diesem Schreiben? Ist es die Liebe, die ein zentrales Thema Ihres Œuvres ist? Beflügelt die Sie? Ist sie Voraussetzung?

Nizon: Beim Schreibakt entsteht ein Zu-mir-Kommen. Ich habe selten das Gefühl des Vorhandenseins, weil ich stets abdrifte. Im Schreiben gibt es diese Konzentration des Zu-sich-Kommens und auch eine Zentrierung des Lebendigseins, es ist gleichzeitig eine Ich-Werdung, ein intensives Kommunizieren und Welt-Ergreifen. Begreifen. Und das muss eigentlich jeden Tag passieren, weil man sonst verblödet, oder? Weil ich eben davon ausgehe, dass ein nicht geschriebener ein verlorener Tag ist, weil ein grauer, ein nicht an mich gebrachter Tag. Leben ist Schreiben.

Am Erker: Noch einmal zur Liebe. Es fällt auf, dass etliche Ihrer Figuren, zum Beispiel Ivan Stolz aus Stolz (, Frank Stolp aus dem Fell der Forelle oder der Ich-Erzähler in Hund. Beichte am Mittag sich in der Liebe schwer tun.

Nizon: (lacht)

Am Erker: Stolp sagt ja: "Die Liebe ist kaum auszuhalten". Er fordert diesen ultimativen Beweis von Carmen, die er in einer Bar aufgegabelt hat. Sein Insistieren: "Sag es mir, sag es mir jetzt." Ich glaube, Louis Aragon meinte einmal: "So viel der Mensch auch noch erforscht und dazulernt, er wird sich nie sicher sein, dass er geliebt wird." Ist es das vielleicht, was Ihre Figuren umtreibt?

Nizon: Bei meinen Figuren ist die Liebe eine Schubkraft, die zu einem gesteigerten Daseinsgefühl führt, eine Schubkraft ohnegleichen. Bei mir ist es immer so - wenn ich sage "bei mir", meine ich "in meinen Büchern" -, das Liebeswesen muss weitergehen, weil das Lämpchen sonst nicht mehr glüht, es muss weitergehen. Andererseits kann es auch fürchterlicher Raubbau sein, weil man auf den Wogen der Liebe und ihrer möglichen Enttäuschungen treibt. Weil vielleicht die Angst mächtig wird, verstoßen zu werden in eine platte düstere Entbehrenshölle. Und ein Garant soll die Liebe auch sein, und dann setzen daran die Zweifel ein ... also eine ganz komplizierte Rechnung. Aber es stimmt, die Liebesthematik gehört bei mir dazu, ein Anzünden, das dann gleich in eine Art Weltliebe übergeht. Das Ganze ist sehr brüchig.

Am Erker: An einer Stelle gebrauchen Sie das schöne Bild: Wenn man nicht geliebt wird, ist es so, als wäre man gleichsam vom Kraftstrom des Lebens abgetrennt, abgekoppelt.

Nizon: Genauso ist es.

Am Erker: Wird Ehrgeiz heute bei vielen Menschen zum Ersatz für Liebe?

Nizon: Ich weiß nicht, ob Ersatz das richtige Wort ist, doch Ersatz, könnte sein ... Ehrgeiz, Wohlstand sammeln, doch, es stimmt, dass der Ungeliebte, na ja, das könnte sein.

Am Erker: Aber Ehrgeiz hat zumindest eine Unverträglichkeit mit Liebe.

Nizon: Ja.

Am Erker: Eine biografische Notiz. Sie sind Jahrgang 1929, werden im kommenden Jahr achtzig, derselbe Jahrgang wie Enzensberger und Rühmkorf. Im Rückblick: War der Canto, in dem Ihr Rom-Aufenthalt von 1960 und die Figur des Vaters Sie zu einem bis dato nicht gehörten Gesang inspirierten, im Sinne dieser Höhenflug-Metapher Ihr weitesttragendes Werk? Le Monde sprach später von einem Kultbuch, das "seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war". Also war der Schub vom Canto vielleicht am größten für Sie?

Nizon: Doch, absolut, das größte Wagnis, in einer unglaublichen Entweder-oder-Situation geschrieben, aber auch die größte Enttäuschung.

Am Erker: Inwiefern? Weil das Buch von der Kritik kaum gewürdigt wurde?

Nizon: Es wurde sehr lange nicht verstanden. Ich habe mir manches Mal die Frage gestellt, wie ich weitergemacht hätte, wenn dieses Buch damals Erfolg gehabt hätte. Mein Verleger, Siegfried Unseld vom Suhrkamp Verlag, der hat mir mit dem Buch einen Welterfolg versprochen, sozusagen garantiert. Für ihn war sein Misserfolg eine ebenso große Enttäuschung. Natürlich ist der Canto inzwischen in zig Auflagen und Ausgaben herausgekommen. Ich glaube schon, dass es eines der kühnsten Bücher ist. Vor allem gibt es kein vergleichbares Buch in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Das ist das Merkwürdige, es gibt kein vergleichbares Buch. Müssen Sie auch zugeben, oder?

Am Erker: Soweit ich den Überblick habe, mag ich Ihnen zustimmen.

Nizon: Da war die Schubkraft gewaltig, kam sehr viel zusammen. Zunächst mal war ich schon ein geborener Schriftsteller, was heißt, dass ich sehr früh angefangen habe zu schreiben, aber erst spät, mich zu realisieren, zu publizieren. Ich hatte so viel auf die Karte Rom gesetzt, mit einem privaten Stipendium, das Paul Hofer, ein befreundeter Professor bei Industriellen zusammengetrommelt hatte, für diesen Platz im Schweizer Institut in Rom. Zum ersten Mal ein Jahr Freiheit - und dann gar nichts getan in diesem Jahr! Nichts! Ich kam zurück wie ein Schiffbrüchiger, wie ein Verräter, weil ich auch diese Leute enttäuscht hatte. Dann ging's los. Da war der Anspruch, mich zu beweisen, alles, was in mir steckte, jetzt gleich auf Papier zu werfen, mir und den meinen zu beweisen, dass ich eben kein verkommenes Subjekt bin, dass ich sie nicht enttäuscht habe. Das alles kam zusammen. Also Privates und auch der Stau - es gab diesen Stau, nach so langer Zeit, in der es mir nicht gelungen war, wirklich meinen Ton zu finden. Danach die riesige Enttäuschung. Von daher kommt eine in mir stecken gebliebene Abwehrhaltung - kein Hass - gegenüber den Deutschen, den Kritikern. Diese Kerle, die haben mich damals - verraten, in der eigenen Sprache, mir böse mitgespielt. Es kam hinzu, ich war erstmals verheiratet, mit einer deutschen Frau, einer Pfarrerstochter, die mit lauter Pfarrhäusern verwandt war (lacht). Aber wirklich, ich kann nicht anders, als den Deutschen nachzutragen, dass sie meinen Canto nicht angenommen haben. Ich habe nichts verbrochen, wollte ihnen das Beste reichen und kriegte praktisch ein paar in die Schnauze. Ist doch fürchterlich, oder? (lacht)

Am Erker: Sie haben dann auch sieben Jahre lang, was Erzählungen angeht, geschwiegen. Noch einmal zum Jahr der Liebe. Lässt sich behaupten, dass dieser große Stadtroman über Paris, in dem Sie die Facetten dieser unvergleichlichen Metropole beleuchten, Ihr wichtigstes Werk ist, auch eine Eintrittskarte in Ihre neue Existenz als Künstler in dieser Stadt?

Nizon: Genau, das alles und eben auch der Prozess der Reanimation - so hat's mal einer genannt -, der hier stattfindet. Weil ich das Buch aus einer schrecklichen Lebenskrise heraus geschrieben habe. Ich habe den Verdacht gehabt, dass dieses Stolzsche Syndrom, das Lethargische, das Dahindämmern bis an die Grenze des Wahnsinns, mich dann selber erreicht hat nach dem Stolz-Buch. Eigentlich komisch, weil man denkt, man hat sich etwas vom Leib geschrieben, auch eine Gefahr vom Leib geschrieben - und dann hab ich mich mit dem Jahr der Liebe wieder ins Leben hineingeschrieben, ins Schriftstellerleben in der wunderbaren Stadt Paris, und ich wurde dann auch mit unglaublich viel Zustimmung bedacht.

Am Erker: Das Buch wurde gefeiert.

Nizon: Gefeiert - als einer der schönsten Paris-Romane. Für mich das schönste Kompliment, weil es so schwer ist, für eine Stadt, die so viel beschrieben, besungen, befilmt worden ist, etwas Eigenes hervorzubringen oder daneben zu stellen, das nicht Klischee ist. Dass mir das offenbar gelungen ist, hat mich sehr berührt. Es ist vielleicht das schönste Buch, auch das meistverbreitete, aber es gibt Leute, die sagen, mein bestes sei der Bauch des Wals.

Am Erker: Meinen Sie, wegen der Form, dieser, eine musikalische Formensprache aufgreifenden, Caprichos?

Nizon: Es ist nicht nur eine Sammlung von Caprichos, sie gehören zusammen, weil dieselben Figuren auch in den verschiedenen Caprichos vorkommen. Natürlich auch die Form, aber ich glaube, es ist mir vor allem gelungen, mit einer sprachlichen Leichtigkeit gravierende Dinge zu jonglieren, mit künstlerischer Leichtigkeit schwerwiegende Dinge zumindest anzutasten. Ich glaube, das macht den magischen Akt aus.

Am Erker: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie ein Werk abgeschlossen haben?

Nizon: Zunächst im Niemandsland, in einem Loch und - ja - verwirrt. Verwirrt und heimatlos eine Zeit lang, weil man natürlich in der Welt, die das Buch entwirft, auch zuhause ist, und dann verliert man diese Heimat, das Buch ist weg, und man ist im Leeren. Wenn ich mir nur vorstelle, wie glücklich ich war beim Schreiben von Das Fell der Forelle, weil ich dort oben im alten Quartier, wo ich ganz zu Anfang gewohnt hatte, wieder ein Atelier hatte. Jeden Tag, wenn ich mit dem Bus hineinfuhr, hatte ich das Gefühl, in meine eigene Literatur hineinzufahren, also in eine wunderbare Fiktion, nicht vom Inhalt her, sondern in die Wunderbarkeit der eigenen Schöpfung. Wenn das Ding erst abgenabelt ist, dann ist es aus.

Am Erker: "Ich staune über mein Leben. Über die Traurigkeit und die verzweifelte Sucht, es zu gewinnen" heißt es im Journalband Das Drehbuch der Liebe. Im kommenden Jahr werden es fünfzig Jahre her sein, dass Die gleitenden Plätze, Ihr Erstling, erschienen ist. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf Ihr Gesamtwerk zurück? Wären Sie Musiker oder Schauspieler, wären Sie wohl aussichtsreicher Anwärter auf irgendeinen 'Preis für das Lebenswerk'. Was sehen Sie in der Rückschau?

Nizon: Hmm.

Am Erker: Ist da Stolz?

Nizon: Also, ich bin gar nicht unzufrieden. Sagen wir's so, ich bin erstaunt darüber, was rausgekommen ist, ich finde die Landschaft dieser Produktion erstens sympathisch. Zweitens kann ich fast nicht glauben, alles geschafft zu haben, weil ich einfach immer noch weiß, wie schwierig es war, das Zeug herauszubringen, auch die Wartezeiten zu überstehen, was ich mit dem Wort des Inkubierens bezeichne; was es mich in jeder Beziehung, auch materiell, gekostet hat, das durchzustehen. Diese ganzen Werke hervorzubringen, das zu finanzieren. Auch wenn man von Stiftungen oder Preisen unterstützt wird, man muss es durchtragen. Ich denke, was in mir steckte, hab ich doch zu einem größeren Teil rausholen können.

Am Erker: Sie haben oft gesagt, Ihre Bücher erzählten keine Geschichten. Es geht immer um Sprache, die 'matière', Sie reden von Schreibpassion, andererseits ...

Nizon: Aber es sind viele Minigeschichten drin, es ist viel Aktion. Es gibt nur keinen Plot, weil ich einfach denke, das Leben ist nicht mit einer Geschichte abzugelten, es ist so vielspurig. Wenn man das versucht, Leben nach einem Plot, dann fällt man flach, man banalisiert. Das ist meine größte Angst. Das Banalisieren ist für mich wie ein Verrat an der Wirklichkeit.

Am Erker: Vielleicht noch zu Frank Stolp, dem Protagonisten aus dem Fell der Forelle, diesem Abkömmling einer Akrobatenfamilie, der mir der Prototyp eines Höhenfliegers zu sein scheint. Am Ende wird er von Sacré-Coeur abheben, und vorher bringt er dieses wunderbare Bild von der ultimativen Luftnummer, bei der ein Trapezkünstler weder fällt noch gefangen wird, sondern im Himmel verschwindet. Ist Stolp ein Höhenflieger?

Nizon: Für mich steht bei diesem Buch die Befreiung, der Befreiungsflug im Mittelpunkt. Stolp hebt ab, aber in eine Art Wahn. Er ist dann nicht mehr von dieser Welt, irgendwie war ihm die Welt schwer erträglich. Natürlich hat der Liebesschmerz auch das ausgelöst, aber an sich ist er ...

Am Erker: Auch eine Art Rausch, den er erlebt?

Nizon: Hm, ja.

Am Erker: Sehen Sie den Stolp als manischen Gegenentwurf zum Ivan Stolz, der Titelfigur des Romans von 1975, der mir eher depressiv ausgestattet zu sein scheint und im kalten Winterwald-Spessart erfriert. Auch dies ein aussagekräftiges Bild. Also, beide Figuren unterschiedliche Stile einer Persönlichkeit?

Nizon: (lacht) Irgendwie. Aber ich habe schon einmal bei einem Abendgespräch auf der Bühne meinen Gesprächspartner sitzen lassen. Der wollte genau diese Sache besprechen, ich hab das abgewürgt. Mir ist schon aufgefallen, dass die beiden miteinander verwandt sind. Der Stolz ist eigentlich ein Lebensverweigerer. Er will nicht ins Mannesalter kommen, will sich nicht entwickeln, will nicht aufwachen, will einfach dösen. Vielleicht kann man sagen, er hat diese Oblomowsche Krankheit - der Oblomow von Gontscharow -, ohne dass er dessen Traum hat, er hat eigentlich keinen Traum. Er hat auch wahnsinnig wenige Interessen, auch für sich selbst interessiert er sich nicht. Er ist wie ein geschlossenes Buch. Der andere, Stolp, ist einfach einer, der sich schwertut im Leben und es sich auch leisten kann, da er nicht arbeitet. Das ist auch charakteristisch. Er hat keine Arbeit und keinen Beruf. Er hat eine kleine Rente und tut sich schwer. Es gibt diese Figur noch und noch in der Literatur.

Am Erker: Eine Frage zum Autobiografischen. Sie selbst sprechen vom Schürfen in Ablagerungen, vom Finden zum Erfinden, zur Fiktion. Entsteht also Literatur als neue Bewusstseinsform, oder ist Literatur eine andere Art von Bewusstsein und insofern der Schlüssel zum besichtigten Leben?

Nizon: Absolut, ja.

Am Erker: Sie haben bereits viele Preise und Auszeichnungen erhalten. Liebäugeln Sie mit dem Nobelpreis?

Nizon: (lacht) Das klingt völlig idiotisch, aber was mich neuerdings erstaunt, ist, dass mir diese Frage öfter gestellt wird, sodass ich mir fast vorstellen kann, plötzlich ereilt mich dieser verdammte Preis noch. Denn was vorstellbar ist, wird stattfinden, oder? Nein, ich glaube, nicht. Was mich ärgert, ist, dass ich den 'Büchner' nicht bekommen hab. Der Unseld kam in den Siebzigerjahren hier angereist und sagte: Jetzt kriegst du den 'Büchner'. Und weiß Gott, der konnte mitmischen. Ich hab auch gedacht, dass ich den verdient hätte. Und ich hab ihn nie gekriegt, das hat mich geärgert. Und ich wusste, die Elisabeth Borchers, die Lyrikerin, meine Lektorin bei Suhrkamp, die war lange, lange, lange in der Jury und hat gesagt: Immer wieder warst du auf dem Tapet, immer wieder wurdest du abgewählt, du hast so viele Feinde.

Am Erker: Feinde?

Nizon: In der Jury, ja ... Na, glauben Sie denn, ich hätte die Statur für den Nobelpreis?

Am Erker: Ja, durchaus.