Am Erker 76

Akzente 3/2018

Edit 75

Krachkultur 19

poetin 25

 
Zeitschriftenschau 76
Andreas Heckmann
 

"Autorschaft und Elternschaft", darum geht's in der Jubel-poetin 25, und der stattliche Band enthält sehr gelungene Texte. Der "Lieber M." betitelte Essay von Kerstin Preiwuß beginnt arg strukturiert, aber nur, um formal einzulösen, wovon er handelt: wie das Schreiben sich durch den Alltag mit Kindern verändert, weil die als essentiell vorausgesetzte Ruhe unrettbar dahin ist. "Es gibt Ein- und Ausschreibphasen", heißt es. Und gleich darauf: "Das ist vorbei. Ich breche immer ab." Aber: "Man gewöhnt sich daran. Man lernt sogar dazu." Und: "Ich kann, weil es bedeutungslos geworden ist, stets ins Schreiben zurückkehren, an welchem Ort, mit welchem Gerät auch immer. Nur besitzt es keine Ästhetik mehr." Je kürzer und widersprüchlicher die Sätze werden, je impulsgesteuerter sie anmuten, desto schonungsloser wird der Text, und die Autorin macht sich erstaunlich verletzbar. Denn könnte man Beobachtungen wie diese nicht auch gegen sie wenden (ein Schuft, wer es täte): "Es ist eine andere Schreibkompetenz, flüchtiger, über die ich nicht nachdenke. Deswegen kommt mir auch das Reden darüber wie eine sinnlose rhetorische Geste vor, wenn man doch nur die Zeit hat, den Text zu schreiben, sonst nichts. Auch das mag damit zusammenhängen, dass mir das Gefühl der Selbstwirksamkeit völlig abhanden gekommen ist. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen. Ist es denn so schlimm, wenn man zu müde für sein eigenes Lamento ist?"
Anke Stelling, deren unbedingt lesenswerter Roman Schäfchen im Trockenen bei Verbrecher erschienen ist (vgl. die Rezension in diesem Heft), sagt zu den Klischees der komplett autonomen Künstler- und der komplett fremdbestimmten Mutterfigur: "Die Radikalität, mit der ich als Künstlerin meine Perspektive, meine Weltsicht absolut setze, beißt sich mit meinem Bild einer sich liebevoll zurücknehmenden, alle Bedürfnisse und Perspektiven gleichermaßen berücksichtigenden Mutter. Schreiben hat etwas Brutales. Mir wurde das klar, als ich mich mit dem Bild der literarischen 'Zuspitzung' beschäftigt habe. Ich schnitze da Waffen, die andern eventuell wehtun werden. Virginia Woolf hat das so ausgedrückt: Um zu schreiben, müsse man "den Engel im Haus töten". Sanftmut, Ausgewogenheit und allumfängliches Verständnis helfen dem Text in der Regel nicht weiter, der braucht Zuspitzung, Schärfe und Entschiedenheit, und die muss man sich erstmal erlauben. Die trifft im Ernstfall auch die eigenen Liebsten."
Wunderbar auch, der so lässigen wie entschiedenen Christiane Rösinger zu lauschen (wirklich, man glaubt, ihre Stimme zu hören), wenn sie aus ihrem ziemlich abgefahrenen Leben als Mutter im Badischen und im Kreuzberg der 80er und 90er berichtet. Da zur Elternschaft auch Väter gehören, seien Björn Kuhligks Miniaturen aus dem Familienleben gepriesen, die sich mit Arztbesuchen, Eisessen, Zugfahrten befassen und zu einem Kaleidoskop des Alltags mit Kindern zusammentreten dürften. Und Miriam Zedelius sei einmal mehr für ihr Cover gedankt, das einen Mann zeigt, den es nicht länger auf der Lesecouch hält (das Buch liegt aufgeklappt da) und der stattdessen mit Bauklötzchen spielt, ohne dass Turm und Kind (nur im Schnuller am Boden anwesend) in den Blick geraten, all das vor einem Hintergrund in Hello Kitty-Rosa.
Zerschossene Träume hat die Jubel-Edit 75 zum Thema, doch der verheißungsvolle Romanauszug "Vier halbe Amerikaner" von Carsten Tabel beglückt wie eine literarische Wunscherfüllung. So wortkarg wie bildstark berichtet der Erzähler von sich und drei Kameraden in einer hessischen Kleinstadt, allesamt von schwarzen Vätern stammend, die als GIs über alle Berge sind. Lakonisch und doch voll intensiver Gefühle ist dieser Text, der vaterlose, gesellschaftlich geschnittene Kinder vorstellt, in Familie, Schule, Vereinsleben verortet, nein: Ihre Ortlosigkeit auslotet. Starke Prosa, die vom ersten Satz an aufhorchen lässt. Gut möglich, dass Tabel, *1978 in Friedberg/Hessen, bildender Künstler, Musiker, Autor, bald in einer Liga mit Andreas Maier aus Bad Nauheim nebenan spielt.
Dem angenehm schrulligen Thema "Lebensweisheiten" widmen sich die Akzente 3/2018, und man merkt manchem Autor ein Fremdeln mit seinem Gegenstand an. Nicht so Jan Böttcher, auch wenn es zu "Ein jegliches hat seine Zeit" eine relativierende Vorbemerkung gibt. Dann aber erzählt er von der Großmutter, vom Telefonat mit der 86-Jährigen, von den Irritationen, dem Nachdenken, das ihr Bibelzitat bei ihm ausgelöst hat. In Suchbewegungen nähert sich Böttcher dem Leben seiner Oma und der eigenen Kindheit darin. Und schreibt so schöne Dinge wie: "Meine Großmutter arbeitete fünfunddreißig Jahre lang in der Fußgängerzone. Sie schenkte Kaffee aus. Sie öffnete den Laden, bevor die ersten Arbeiter zur Arbeit gingen, alle tranken hier ihren ersten Kaffee, rauchten ihre erste Zigarette des Tages. Sie mahlte Kaffee unter der blauen Farbe des Zigarettenqualms, die sechziger und siebziger und achtziger Jahre hindurch, nonstop, nur ich tauchte unter dem Rauch durch, wenn ich mir zwischen den Beinen der Erwachsenen den Weg zum Tresen bahnte." Und nun ist sie auf Föhr im Urlaub, ohne Telefon, weswegen sie dem Enkel erstmals eine Reise ankündigt. Man kann nur mit ihm hoffen, dass sie so munter wie stets zurückkehrt.
Zurückgekehrt ist auch Rupprecht Mayer, *1946, der einmal mehr mit Prosaminiaturen vertreten ist, in denen jeder Satz auf wunderbar verquere Weise das Zeug zur Lebensweisheit hat. So heißt es in "Wie man mit Terminen umgeht": "Wichtige Termine verfolgen einen ja. Gehen Sie manchmal ins Ausland, um herauszufinden, ob ein Termin es ernst mit Ihnen meint? Ich selber konnte früher gar nicht genug Termine einhalten. Jetzt werden sie mir zunehmend fremd."
"wenn eine die Heimat verlässt um ganz bei sich / zu sein überfährt der Bauer im Suff eine Kuh", heißt es in dem Gedicht "Land" von Stan Lafleur, auch das eine Lebensweisheit von erschlagender Allgemeingültigkeit, die sich allerdings in Krachkultur 19 findet, die als "Das Deutschland-Heft" daherkommt. Nun, es hat schon bessere Krachkulturen gegeben, mag am Thema liegen. Immerhin schließt die dick geratene Ausgabe mit dem inspirierten Essay "Bleibt ja unter uns" von Matthias Politycki, in dem der Verfasser - oft viele Monate fern von Deutschland - sein Befremden über das sich verändernde Land in verschiedenen Varianten vorführt, durchspielt, problematisiert. Und gewiss hat Politycki Recht: "Vor der Jahrtausendwende war Deutschland ein freieres Land - jedenfalls für den heterosexuellen Mainstream der Bevölkerung. Keiner von denen, die es erlebt und genossen haben, wird ernsthaft glauben, dass er sich vor seinem Lebensende noch einmal so frei und voller Zukunftshoffnung fühlen wird wie damals."

 

Akzente 3/2018: Lebensweisheiten. € 9,60.

Edit 75: Zerschossene Träume. € 7,00.

Krachkultur 19: Das Deutschland-Heft. € 14,00.

Poetin 25: Autorschaft und Elternschaft. € 9,80.