Am Erker 75

 

 
Texte
Am Erker 75, Münster, Juni 2018
 

Reinhard Ammer
Erinnerungen an Erich

Je länger eine Zeit oder ein Ereignis zurückliegt, umso kleiner ist die Zahl der Bilder, die uns das Gedächtnis auf Anhieb davon liefert. Erinnerungen aber, die diesen Ausleseprozess überstehen, sind wie in Stein gemeißelt und trotzen allen Bilderfluten, die nachmalige Erlebnisse in uns hinterlassen.
Wenn ich an meinen Schulfreund Erich denke, ergeht es mir nicht anders. Eine bleibende Erinnerung ist jene Schrecksekunde, da die von Erichs Turnbeutel getroffene großbauchige Lampe am Boden zerschellte, die noch eine halbe Sekunde zuvor würdig und scheinbar unerschütterlich an der Decke eines Korridors im Humanistischen Gymnasium Leopoldinum zu Passau gehangen hatte. Wir hatten uns auf dem Weg von der Turnhalle zum Klassenzimmer gegenseitig die Säcklein mit den Turnsachen zugeworfen und dabei das von den antiken Altvorderen überkommene und dankbar übernommene Prinzip des Citius-Altius-Fortius mit wachsender Begeisterung in die Tat umgesetzt. Der entscheidende Wurf von Erich war perfekt. Er traf die fette Gymnasialfunzel direkt unterhalb der messingnen Halterungsscheibe, so dass sie sich wie eine reife Birne, deren Zeit gekommen ist, löste und in vorbildlicher Haltung einer der glattgelatschten Marmorplatten entgegenfiel, die sich heute noch glücklich schätzen kann, erlebt zu haben, wie ein formvollendeter Leuchtkörper dank ihrer Ataraxie in tausend Splitter zerbrach. Über die Scherbengerichte, die seitens der Schule und im jeweiligen Elternhaus über Erich und mich abgehalten wurden, will ich mich ausschweigen, sie sind mir auch nur noch verschwommen erinnerlich.
Hell und klar ist mir jedoch heute noch gegenwärtig, wie Erich und ich es den Fischen gleichtaten und kilometerweit die malzbraune Ilz hinabschwammen. Dieser schöne Fluss entspringt im hintersten Bayerischen Wald und mündet in Passau in die Donau. Wir waren lange flussaufwärts gelaufen und schließlich ins Wasser gestiegen. Die Strömung war streckenweise stark, aber nicht gefährlich, es gab auch immer wieder ruhige Passagen mit tieferem Wasser. Dichte, steil aufsteigende Wälder bildeten beiderseits des Flusses eine grüne Schere, die mal mehr, mal weniger in den Himmel schnitt. Die Sonne schien hemmungslos, musste aber hin und wieder hinter einer Barriere von Baumwipfeln verschwinden. Dann trieben wir in verschattetem Gewässer, von Libellen und Schmetterlingen umflogen, bis uns Wellengeglitz anzeigte, dass wir wieder ins Sonnige kamen. Wir glitten über algenbewachsenes, rundgewaschenes Gestein, ließen Wasserpflanzen unsere Körper befingern, klammerten uns an Felsen und boten Wasserschwällen die Stirn, sahen Fische und versuchten, welche zu fangen, schwammen mit den Beinen voraus oder mit dem Kopf voran. Erich war die treibende Kraft, er war an diesem Fluss und auch mittendrin aufgewachsen. Ich dagegen war seit frühester Kindheit ein Anrainer der Donau, die mich mit ihren mächtigen Wasserarmen zweimal beinahe zu sich geholt hatte. Hier aber in der Ilz, neben meinem Leitfisch Erich, fühlte ich mich sicher, und zwei Stunden lang war ich eine glückliche Forelle.
Meine nachhaltigste Erinnerung an Erich jedoch bezieht sich auf einen Vorfall während einer Turnstunde. Wir waren wohl siebzehn Jahre alt, es mag in der elften Klasse geschehen sein. Wir mussten alle zum Aufwärmen im Kreis laufen, der Innenraum der Turnhalle blieb leer. Runde um Runde wurde getrabt, einer hinter dem anderen, ab und zu überholte man oder wurde überholt. Plötzlich drehte einer der Kreisläufer um und schwamm gegen den Strom, mir entgegen. Es war Erich. Wir stoppten und blieben kurz stehen. Während es links und rechts an uns vorbeischlurfte, -trabte und -galoppierte, schaute mich Erich heiter an und sagte: "Du, es gibt keinen Gott!" Heute, da knapp fünfzig Jahre seit diesem Ausspruch meines Schulfreundes vergangen sind, kann ich sagen: Wenn ich jemals in meinem Leben eine Erleuchtung hatte, dann in diesem Moment! Zwar war mir schon bewusst, dass man glauben oder auch nicht glauben konnte, aber wie auch immer man diese Frage beantworten mochte - die Existenz Gottes, so hatte man es uns eingetrichtert, war unhinterfragbar, er war ein für allemal da, auch wenn man nicht an ihn glaubte, und drohte mit Fegefeuer und Hölle nach dem Tod und mit unsäglichen inneren Qualen noch zu Lebzeiten. Man konnte ihm einfach nicht auskommen! Da nun kam Erich daher und sagte: "Es gibt keinen Gott!" Dafür, dass mir mein Schulfreund diesen Gedanken geradezu beiläufig schenkte, werde ich ihm immer dankbar sein.
Dies sind meine in Stein gehauenen Erinnerungen an Erich, den ich seit der Schulzeit nicht mehr gesehen habe und auch nie mehr sehen werde. Zwei Jahre nach dem Abitur hat er sich das Leben genommen.