Am Erker 64

 
Texte
Am Erker 64, Münster, Dezember 2012
 

Achim Stegmüller
Über König Ludwig II. und meinen Vater

Auf seine alten Tage hörte Vater nicht mehr auf seinen bisherigen Namen. Er behauptete, König Ludwig II. von Bayern zu sein, reagierte nur noch auf Eure Exzellenz oder auf Eure Exzellenz König Ludwig. Ein besonderes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, wenn ich ihn Kini rief. Ansonsten wurde er mir gegenüber skeptisch und misstrauisch:
"Ich lebe, wie ich es mag! Du wirst mich nicht davon abhalten, meine Schlösser zu bauen!"
Seine Schlösser waren Sandburgen im Garten. Im Sandkasten, wo meine Kinder schon längst nicht mehr spielten, verbrachte er mit Vorliebe seine Zeit. Einmal baute er ein Schloss, das reichte ihm bis zur Brust. Und er hätte es bestimmt noch höher gebaut, wenn nicht dieser schwere Sommerregen herniedergeprasselt wäre. Wie er da fluchte, wie er da polterte, mich beschimpfte, weil ich nichts unternommen hatte, seinen atemberaubenden Bau zu retten und zu schützen.
"Ich werde mir das Bauen nicht verbieten lassen, nicht von den Kräften der Natur, und nicht von meiner Familie. Ich bin wachsam, ich habe aus meinem vorherigen Leben gelernt! Gegen Intrigen und Verrat bin ich gefeit! So einfach kriegt ihr mich nicht noch einmal unter die Erde!"
Auf diese Weise und ähnlich pflegte er im Sandkasten zu fluchen. Und abends hörte er Wagner. Meine Frau konnte es kaum noch ertragen. Ich versuchte, sie zu beschwichtigen, denn es hatte keinen Sinn, ihm etwas zu verbieten. Er war der König.