Texte
Am Erker 50, Münster, November 2005
 

Tanja Dückers
Kennen Sie Pößneck?

Kennen Sie Pößneck? Keine Sorge, ich bis vor Kurzem auch nicht. Einmal erhielt ich jedoch eine Einladung zu einer Lesung in diesem Pößneck. Der Rahmen schien interessant, das Honorar stimmte und der Zusatz "liegt in Thüringen" ließ keine allzu ewige Fahrt vermuten - und der Veranstalter versprach, pünktlich um 19.05 am Bahnhof zu sein. Wunderbar, Schokoriegel und Lektüre eingepackt, und ab mit der Bahn.
Ich kam zwar nicht um 19.05 Uhr in Pößneck an, sondern um 19.45 Uhr - für zwei Lokschäden und einen "Stellwerkschaden" fand ich vierzig Minuten Verspätung jedoch noch sehr akzeptabel, meine Laune war also kaum getrübt. Zum Glück hatte man mir seitens des Veranstalters per SMS bestätigt, daß man auf dem Bahnsteig auf mich warten würde.
Der Bahnsteig in Pößneck entpuppte sich als ein nicht-überdachter Bretterverschlag an einer Schnellstraße. Es schneite. Es hagelte. Es graupelte. Es war schneidend kalt. Ich blickte mich um. Weit und breit war niemand auf dem "Bahnsteig", der so aussah - Lodenmantel, Nickelbrille, Rollkragen - wie Literaturveranstalter gemeinhin so aussehen. Denn wie wir alle wissen: Klischees gibt es nicht schließlich umsonst. Im Gegenteil: Sicher leiten sie einen durch den zwielichten Dschungel des Daseins, besonders auf Reisen und in der Fremde.
Ich griff zum Handy. Selten habe ich meine frühere Ablehnung der Mobiltelekommunikation so unverständlich gefunden wie in diesem Moment, wo LKW-Fahrer von der Schnellstraße an den Randstreifen fuhren, mich von oben aus ihren Fahrerkabinen mit blitzenden Goldzähnen anlächelten und zweideutige Gesten machten. Da stand ich in meinem roten Mantel, mit hochgesteckten Haaren und den neuen Ohrringen; Hagelkörner fielen dutzendweise auf meinem Kopf.
Es wurde dunkler. Es schneite stärker. Ich guckte zu, wie die Schneeflocken auf meinem Mantel viele kleine Pfützen bildeten. Wie die Pfützen miteinander verschmolzen und in ein großes, rotes Meer zusammenflossen. Meine Lesung würde genau jetzt anfangen. Endlich klingelte mein Handy: "Wo-sind-Sie-denn, Frau Dückers?"
Auch auf Stimmen treffen oft Klischees zu. Diese war jungenhaft, nervös und hoch - und doch würde sie zu einem Mittvierziger mit Lodenmantel gehören.
Nun erfuhr ich von dieser gehetzten hellen Stimme, daß ich am Nordbahnhof statt am Südbahnhof stehen würde.
"Ich hab vergessen, Ihnen das zu sagen, tut mir leid ... in fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen!" Sprach's und legte auf.
Nach dieser überraschenden Erweiterung meines geographischen Horizonts - Pößneck in Thüringen hat zwei Bahnhöfe! - sollten jedoch noch weitere denkwürdige und des schriftlichen Festhaltens würdige Lese-Reisen mit der Deutschen Bahn folgen:
Für meine nächste Lesung hatte ich praktischerweise meine Karten telefonisch vorreserviert. Besser als die stets überfüllte Schlange am "Express-Schalter" am Ostbahnhof, hatte ich mir gedacht.
Als der Schaffner die Karten kontrollierte, las ich weiter friedlich in meinem Buch.
"Da ham Se aba falsche Kaaten", wurde ich angeraunzt. Ich schaute aus meiner Szymborska-Lektüre auf, eine Welt stiller und geheimnisvoll leuchtender Gedichte hinter mir lassend. Die Worte "Dit Daatum is vakeehrt. Heute is der 24.!" katapultierten mich wieder ins das Hier und Jetzt meiner Lesungsreise. Ich guckte auf mein Ticket. Der Urberliner mit dem Faible für kurze und klare Sätzen hatte recht: Die elektronische Kartenverkäuferin hatte mir mein Ticket für den falschen Tag ausgestellt. Ich hatte aber, meinen Kalender direkt vor mir, bestimmt das richtige Datum genannt. Außerdem bin ich, was Geld, Zahlen und Fakten angeht, grundsätzlich schrecklich pingelig. Als ich freundlich versuchte, den Sachverhalt zu erklären - vielleicht in einer noch von der Lyrik der Szymborska gefärbten, etwas zu poetischen und daher für den Schaffner irgendwie provozierenden, lächerlichen Sprache - wurde ich angeherrscht: "Wollen Se mich va-arschen? Wir sind hier nich uffm orientalischen Basar! Dat könnense bei denen vasuchen, mich übas Ohr zu hauen, ja, uffm orientalischen Basar, da jehörn Se hin! Aba hier bei de Bahn müssen Se `n neues Ticket kofen! Und zwar sofoart."
Und ich wurde - was mir natürlich kein Veranstalter erstattete - doppelt abkassiert.
Der von der Bahn für solche Fälle wärmstens empfohlene "Kundendialog" beschied mir nur: "Leider können wir nicht mehr rückverfolgen, bei welcher Dame Sie das Ticket bestellt haben. Da sind Sie dann selbst für verantwortlich."
Diese Zugfahrt war zwar von ungerechter Kapitalaneignung seitens der Deutschen Bahn gesprägt, aber den Verlust vom schnöden Mammon kann man sicherlich noch eher verkraften als menschliche Verluste oder Dramen:
Einmal saß ich im ICE, als eine ältere Frau aufgeregt auf mich zustürmte: "Ach, Sie erkenne ich doch ... seitdem mein Sohn Ihren komischen Roman gelesen hat ... diese ... 'Spielwiese' ... 'Spielwiese' heißt der doch ... also seitdem ... ", ihre Stimme wurde leiser und nahm einen drohenden Klang an: "ist-er-bisexuell!"
Gutmütig wie ich bin, bestellte ich der aufgebrachten Dame einen Kaffee und erklärte ihr, warum, selbst für den Fall, dass ihr Sohn sich als homosexuell outen würde, die Welt noch die Welt und Kaffee noch Kaffee bleiben würde. Doch kaum hatte die Dame mich plötzlich ins Herz geschlossen, hielt der Wagen mit einem krachenden Rumpeln sehr abrupt an. Eine Weile lang passierte nichts. Dann ertönte über den Lautsprecher: "Leider haben wir einen Personenschaden. Weiterfahrt vorerst unmöglich." Da fasste mich die Dame am Arm und murmelte: "Das ist heute schon der zweite Selbstmord, immer an den Adventssonntagen springen die jungen Leute alle vor die Bahn. Die Jungen wollen heute nicht mehr leben. Entweder sie sind lebensmüde oder kriegen keine Kinder mehr, weil sie schwul sind. So ist das. Bekomme ich noch Ihr Autogramm?"