Am Erker 88

Imke Müller-Hellmann: Der Zug der Mauersegler

 
Rezensionen

Imke Müller-Hellmann: Der Zug der Mauersegler
 

Unterwegs zwischen Kontinenten
Andreas Heckmann

Zwei eindringliche Bücher hat Imke Müller-Hellmann schon veröffentlicht, zum einen Verschwunden in Deutschland (2014), wo sie an das Schicksal der im Außenlager Engerhafe in Ostfriesland 1944 ums Leben gekommenen KZ-Häftlinge erinnert und in ganz Europa Menschen besucht hat, deren Gatten, Brüder, Väter, Großväter elf dieser 188 Männer waren; zum anderen Leute machen Kleider (2017), eine Recherche dort, wo die zwölf liebsten Kleidungs­stücke der Autorin produziert wurden, von der Schwäbischen Alb bis Bangladesh und China. Für 2022 war der Band geplant, der jetzt erst erscheinen konnte: Der Zug der Mauersegler.
Die drei Bücher eint ihre Empathie, ihre politische und moralische Parteinahme für die Ausgebeuteten und Entrechteten, ihr Appell und Glaube an die Vernunft. Nie wird dabei der Zeigefinger geschwungen, Parolen und Losungen sind die Sache der Autorin nicht, wohl aber Haltung, kompromisslos und durch die eigene Lebensführung beglaubigt.
Stets nehmen die Texte ihren Ausgang im Persönlichen: bei der Harthörigkeit der geliebten ostfriesischen Großmutter in Engerhafe, die doch persönlich mitbekommen haben muss, was da im Lager und um das Lager herum geschehen ist, davon aber im Gespräch mit der Enkelin nichts wissen will; beim Blick in den Kleiderschrank; beim Blick aus dem Fenster, vom Balkon, von der Terrasse des Milchladen­hauses in der "Straße Helgoland" im Bremer Stadtteil Walle auf die über den Himmel zischenden Mauersegler, diesen Inbegriff einer luftigen Existenz.
Der Wille zum Wissen, der die Autorin schon zu schwierigen Reisen inspiriert hat, er waltet auch diesmal. Ausgangspunkt ist ihre langjährige Faszination für Vögel, die sich im Zuge der Arbeit an diesem Buch noch mal enorm steigert. Und sie lässt uns teilhaben an ihrer Begeisterung - durch farbige Schilderungen der Vögel und des Glücks, das sie auf ornithologischer Pirsch in den Überschwemmungs­wiesen der Lesum empfindet, beim Wiederhören bestimmter Vogelrufe etwa, wenn die Tiere im Frühjahr zurückkehren. Doch ihr Plan, dem Zug der Mauersegler aus Walle bis Tansania zu folgen, scheitert gleich mehrfach: Zum einen gibt es kein entsprechendes Forschungsprojekt, das in Bremen angesiedelt ist und in dessen Rahmen die Vögel mit kleinen, sehr leichten Sendern ausgestattet werden; deshalb muss die knapp achtzig Kilometer entfernte Gemeinde Gehrde im Landkreis Osnabrück, bei Bersenbrück nahe der Hase im Artland gelegen, als Ausgangsort der Recherche dienen. Dann aber stellen sich noch ganz andere Probleme der Reiselust in den Weg: die Corona-Epidemie, die die für März 2020 geplante Reise nach Liberia unmöglich macht, später eine PostCovid-Erkrankung, die zur LongCovid-Erkrankung wird und die tatkräftige, lebensmutige Autorin ans Bett fesselt und mit dauernder schwerer Erschöpfung schlägt, sodass sie ihr Manuskript nur unter großen Mühen sehr langsam beenden konnte.
Das ist umso tragischer, als ihr Buch auch ein Beitrag zur seit Jahren zunehmend heftiger geführten Migrations­debatte ist, da Müller-Hellmann den Flug der Vögel übers Meer, über Wüsten und tropische Wälder um eine gegenläufige Schilderung ergänzt, die von der Migration von Menschen aus Afrika nach Europa handelt, die oft tödlich endet, nicht erst im Mittelmeer, sondern schon auf dem Weg dorthin, in der Sahara oder auf den vielen überaus gefährlichen (und für Frauen noch gefährlicheren) Zwischen­stationen. Auch hier greift das Buch auf die Lebenswelt der Autorin zurück, die in einer Frauen-Groß-WG lebt, in der rund um die Uhr ein ehrenamt­liches Alarm-Phone erreichbar ist, bei dem in Seenot geratene Geflüchtete anrufen können: praktizierte Solidarität statt wohlfeiler Betroffenheits­bekundungen (oder gar menschen­verachtender Hetze gegen Geflüchtete).
Sicher, man mag sich fragen, ob die Thematisierung der tiefdunklen deutschen Kolonial­geschichte zumal in Namibia, aber auch in "Deutsch-Ostafrika" nötig war, aber wer über Migration schreibt und dieses Thema nicht auf Zugvögel beschränkt, tut gut daran, auch über die Ursachen der Wanderungs­bewegungen zu schreiben, zu denen allemal Kolonialismus, Imperialismus und die fortgesetzte wirtschaftliche Ausbeutung des afrikanischen Kontinents gehören. Und Imke Müller-Hellmann ist an einem ganzheitlichen Blick gelegen: Sie verknüpft scheinbar getrennte Elemente der Lebenswelt, fragt nach Abhängigkeiten und Inter­dependenzen und deren Folgen für alle Seiten. So kann Leute machen Kleider auch als Plädoyer für fairere Lebens- und Arbeits­bedingungen weltweit gelten, zu denen ganz praktisch etwa das vielgescholtene Lieferketten­gesetz gehört. Wer Leute machen Kleider gelesen hat, weiß, wie sinnvoll und richtig dieses Gesetz ist, auch wenn es im Detail Reformbedarf geben mag.
Der Zug der Mauersegler ist erneut eine mitreißende, hochengagierte literarische Großreportage: Sich in Gehrde abseits des Schützenfests von Russlanddeutschen ihre Migrations­geschichte erzählen zu lassen, gehört mit der Beschreibung von Nistkästen und Vogelberingung zusammen; wer sich an der Rückkehr der Zugvögel auf die Nasswiesen in Wesernähe freut, sollte nicht verschweigen, dass der Bremer Afrikaforscher Gerhard Rohlfs, in Vegesack beerdigt, in seinen späten Jahren Erfüllungsgehilfe der deutschen Kolonialpolitik im Osten Afrikas war, dem bevorzugten Überwinterungs­gebiet der Segler; und wer mit deutschem Pass und deutschem Geld mühelos im Flugzeug die Sahara überfliegt, sollte von denen nicht schweigen, die unter größten Opfern und Leiden teils mehrere Jahre am Boden in Gegenrichtung unterwegs sind, um womöglich trotzdem zu scheitern und vielleicht im Mittelmeer zu ertrinken.
Dass es Imke Müller-Hellmann gelingt, die Balance zwischen spannender Reportage, detaillierten, stets plastischen Natur­schilderungen und der Darlegung eklatanter Missstände in Vergangenheit und Gegenwart zu halten und obendrein mitunter Ironie, ein Augenzwinkern, eine mauersegler­gleiche Leichtigkeit walten zu lassen, darf, wenn nicht als Wunder, so doch als große Kunst bezeichnet werden. Und die letzten Kapitel über ihre trotz Corona und Covid doch noch stattgefundene Reise nach Sansibar (genauer: auf die Hauptinseln Unguja und Pemba) sind ein Musterbeispiel einer achtsamen Reise­reportage, die sich auf Land, Leute und Natur einlässt, letztlich aber auch ein Gefühl der Fremdheit zulässt. Was ich hier beschreibe, kann ich deuten, ich kann mich einfühlen, aber letztlich stehe ich als Touristin davor, als eine Frau, die hundert Worte Swahili kann und mit der Gefährtin reist, letztlich aber von draußen auf diese Welt schaut. Man wird diese Haltung als demütig beschreiben dürfen, als demütig und doch radikal unversöhnt.
Vielleicht ist es nicht falsch, Imke Müller-Hellmann aus dem Westen und ihre Generationsgenossin Manja Präkels aus dem Osten zusammen­zusehen. Beide nähern sich der Welt mit durchaus ähnlicher Empathie und Emphase. Während Manja Präkels aber unter Zurück­stellung der Arbeit an ihrem zweiten Roman in den letzten Jahren als politisch denkende Autorin gegen das Erstarken der AfD zumal im Osten gekämpft hat, war die Reisende Imke Müller-Hellmann ans Bett oder an den Lehnstuhl gefesselt. Beide dürften mit großer Sorge beobachten, wohin die Welt gerade teils driftet, teils galoppiert.

 

Imke Müller-Hellmann: Der Zug der Mauersegler. Unterwegs zwischen Kontinenten. 268 Seiten. Osburg. Hamburg 2025. € 26,00.