Justice for Ringo
Wenzel Herzig
Was für ein glückliches Timing! Erst bringt Ringo Starr mit Look Up ein neues Album auf den Markt, das – dank mitreißender Bluegrass-Gitarren und feinen countryesken Kompositionen von T Bone Burnett – durchaus hörenswert ist. Und dann kürt Rainer Wieczorek auch noch den ewigen Beatles-Drummer und wohl größten Glückspilz der Musikgeschichte zum Helden seiner neuen Novelle Ringo-Variationen. Eine erfreuliche Publikation, denn Bücher über und mit Ringo sind rar. Zu Unrecht. Denn Ringo Starr war mehr als nur der Schlagzeuger, er war "das Herz der Beatles", wie John Lennon einmal sagte. Ein Herz, das sich spielerisch zurücknahm, weil es vor allem für den Gesang schlug, aber auch mit ungewöhnlichen Verzögerungen und "silly drum fills" virtuos ausbrach. Auch textlich war Ringo prägend: Seine Malapropismen bilden die Basis unvergesslicher Songs wie "A Hard Day's Night", "Eight Days A Week" oder "Tomorrow Never Knows". Die frühe Solokarriere ist ebenfalls bemerkenswert: Die ersten beiden Alben boten außergewöhnliche musikalische Ausflüge nach Nashville und in die Schlager seiner Kindheit. Eine oft belächelte Idee, die dann jedoch viele Nachahmer fand, von Harry Nilsson über Rod Stewart und Bryan Ferry bis hin zu Bob Dylan. Bevor Ringos musikalische Karriere Ende der 1970er ins Stocken geriet, verkauften sich seine Platten sogar besser als die von John und Paul. Ringo schauspielerte und heiratete das Bond-Girl Barbara Bach, mit dem er für den Film Caveman vor der Kamera stand. Gleichzeitig war er aber auch der Beatle mit den langwierigsten Suchtproblemen: Bis in die späten 1980er hinein war er harter Trinker, entwickelte sich dann aber nach einem abstoßenden Gewaltausbruch zum meditierenden Gesundheitsapostel und Friedensaktivisten. Ein facettenreiches Leben also, das üppigen literarischen Stoff bereithält. Und was macht Wieczoreks Novelle daraus? Sie lässt Ringo erzählen. In einfachen, kurzen Sätzen erfahren wir, wie das kränkelnde Arbeiterkind aus prekären Verhältnissen in Liverpool zum Schlagzeuger wurde, mit dem Sänger Rory Storm nach Hamburg ging, dort die Beatles kennenlernte und mit ihnen die Welt eroberte. Er erzählt von der Arbeit in den Abbey Road Studios, bei der ihm als dem "Unkreativen" der Beatles meist die passive Rolle des Zuschauers zukommt. Wir erfahren vom Tod des Bandmanagers Brian Epstein, aber auch vom Auseinanderbrechen der Band, von ersten Soloarbeiten der anderen Pilzköpfe und vom Mord an John Lennon. Dabei gelingt dem Autor mit vielen exzellent recherchierten Details eine trügerische Faktizität, die in einen fiktionalen Clou mündet: Ringos zufälliger Begegnung mit Bachs Goldberg-Variationen in der Einspielung von Glenn Gould. Die in einem Hotelzimmer vorgefundene Schallplatte lässt den Beatle nicht mehr los. Beim Hören des Klavierstücks fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben "gemeint". Und George Martin, der Beatles-Produzent, musikalische Mentor und Bach-Kenner, führt seinen Schützling immer tiefer in die Komposition und Interpretation der Goldberg-Variationen ein. Spätestens jetzt wird klar, dass die Novelle dem erläuterten Aufbau der Goldberg-Variationen folgt: Eine Aria rahmt dreißig Variationen, mit einer groben Gruppierung von zweimal fünfzehn Variationen. Die sechzehnte dient als Ouvertüre der zweiten Gruppe, insgesamt also zweiunddreißig Kapitel. Ringo findet sich in der Einsamkeit des kauzigen Pianisten wieder, der mehr und mehr zu einer Analogie der Beatles aufgebaut wird. Schließlich stellt Gould mit seiner Interpretation der Goldberg-Variationen "die Konzertwelt in ähnlichem Maß auf den Kopf, wie das heute die Beatles tun", weiß George Martin. Zudem drehte er wie die Beatles Filme, um die Öffentlichkeit zu bedienen, und gab wie sie, entnervt vom unkonzentrierten und unruhigen Publikum, die Konzertkarriere auf, um nur noch im Aufnahmestudio zu wirken. Denn Musik, so George Martin, "ist stets nur der eine Teil von etwas Unbeschreiblichem, dessen anderer Teil die Stille ist, vergleichbar dem Weiß um die Buchstaben". Genau diese Stille wird Ringo immer wichtiger. Martin stellt die These auf, die Goldberg-Variationen seien in Ringo eingedrungen. "Wie sie einst in Glenn Gould eingedrungen waren" und ihn weiter abgekapselt haben, "weiter noch, als er ohnehin schon abgekapselt war". Als hätte die Begegnung mit Gould nicht schon Folgen genug, entdeckt Ringo auch noch Psychoanalyse und Literatur für sich. Er liest Alan Sillitoe, Harold Pinter, Peter Shaffer, W.G. Sebald – und zieht sich mehr und mehr aus seinem alten Leben zurück. Am Ende der Erzählung sinniert Ringo darüber, wie sein Leben ohne Bach, Glenn Gould, die Psychoanalyse und die Literatur verlaufen wäre. Die erschütternde Antwort: "Ich hätte auf mein erstes Solo-Album ein zweites folgen lassen, ein drittes, ein viertes. Hätte meinen Erfolg an dem anderer Beatles gemessen. Mich mit Beratern und Prominenten umgeben, weitere Filme gedreht, nur um die Erfahrung zu machen, dass sich immer weniger Leute für mich interessierten." Am Ende von Wieczoreks durchaus faszinierendem literarischem Experiment blickt sein Protagonist also kritisch, fast naserümpfend auf das Leben des realen Ringo herab. Ringo ist zum Rotwein trinkenden Bildungsbürger geworden. Was für eine Verkehrung! Gut, dass der echte Ringo bisher wenig Interesse für die Goldberg-Variationen gezeigt hat. Denn das neue Album ist – wie bereits gesagt – gar nicht übel. |