Herz sechs, Eselskrieg und Berggeist
Peter Drescher
Ludwig Bechsteins eher zufälliges Befassen mit Märchen machte ihn bekannt – bis heute. Aber seine bedeutsame Sammlertätigkeit im Bereich der Volkssage, die er selbst als Schwerpunkt seines rastlosen Schaffens sah, ist weitgehend vergessen. 2008 nun erschien eine tief schürfende, umfassende Arbeit, die diesem Manko begegnet. In der stattlichen Schrift (678 Seiten) der Hamburger Germanistin und bedeutenden Bechstein-Forscherin Susanne Schmidt-Knaebel werden detailliert Untersuchungen zu den Sagen Ludwig Bechsteins präsentiert. Dieser, 1801 in Weimar geboren, ein Adoptivkind, begann nach dem Besuch des Gymnasiums den Beruf des Apothekers zu erlernen. Warum nur ist er nicht bei den Pillen, Tinkturen und Pflastern geblieben? Gefielen ihm die Ausbildung und die Tätigkeit in den Thüringer Kleinstädten Arnstadt und Salzungen nicht? Jedenfalls muss ihm das Wischen und Kehren des Ladens, die Putzerei an Kesseln und Geräten, das Zermahlen von heilkräftigen Wurzeln und das Einrühren von Pulvern nicht behagt haben, denn er stellte seinen Brotberuf hinter die dichterisch-schriftstellerische Betätigung und veröffentlichte schon als Zweiundzwanzigjähriger ein kleines Bändchen mit Thüringer Volksmärchen. Als er dann seine "Sonettenkränze" herausgab, fand er die Aufmerksamkeit des Meininger Herzogs, der ihm das Studium der Geschichte, Philosophie und Literatur in Leipzig und München ermöglichte. Danach avancierte er zum Bibliothekar und Archivar, gründete den Hennebergischen altertumsforschenden Verein, wurde zum Meininger Hofrat befördert. Ein fleißiger Dichter und Literaturwissenschaftler, der Fachmann auf dem Gebiet der Sagen und der Sagenforschung. Weit vor den Brüdern Grimm. Die brachten es "nur" auf 746 diesbezügliche Arbeiten, während es bei Ludwig Bechstein 2532 waren.
Bechsteins Sagenbestände standen rezeptionsgeschichtlich bislang zu Unrecht im Schatten der Grimmschen Deutschen Sagen. Schmidt-Knaebel beleuchtet nun die Sagenformen Bechsteins, gibt Textanalysen, geht auf Quellschriften ein, deutet auf bewusst unterschiedliche Tempi und untersucht in "linguistischen Kommentaren" Gestaltungsprinzipien, wobei sie darauf hinweist, dass sich Bechstein bei Bearbeitungen stets um eine neue sprachliche Fassung und um Aktualität bemühte. Da blieb es nicht aus, dass er sich unsachgemäßer Kritiken und Plagiatsvorwürfe zu erwehren hatte. Bechstein schrieb jedoch, wie Schmidt-Knaebel nachweist, nichts ab.
In einem umfassenden Anhang werden in alphabetischer Reihenfolge 376 (!) Bechstein-Sagen analysiert. So widmet sich die Autorin beispielsweise einem recht merkwürdigen Wappen, das über der Eingangstür des Rathauses zu Tiefenort an der Werra prangt. Warum ist in dem Wappen eine "Coeur-Sechs" zu finden? Man sagt, der letzte Bewohner, ein Graf Beichlingen, sei eine Spielernatur gewesen, auch dem Humpen ergeben. In leichtfertiger Weise hatte er den Rest seines Besitzes auf eine Herz-Sechs gesetzt und verspielt. Seine einflussreichen Verwandten erreichten zwar, dass der Landesherr die Schulden bezahlte und ihm den Hof als unveräußerlich zurückgab, doch zur Strafe musste er in seinem Wappenschild die Herz-Sechs aufnehmen.
Trotz Formulierungen wie "alliterierende nominal-substantivische Variante" lohnt sich die Lektüre dieser Studie auch für den 'gewöhnlichen' Interessierten, für Ortschronisten und Heimatforscher. Nicht zuletzt ist sie ein Beleg dafür, dass Sagen oft einen realistischen Hintergrund aufweisen. Bräuche, ein Ereignis, bestimmte Persönlichkeiten, Landschaftliches, ein Kreuzstein, eine Salzsäule. Oder die Herz-Sechs in einem Wappen. |