Feridun Zaimoglu
  
              
              Am Erker 46, Münster, Herbst 2003 
              Existenzielle Geschichten aus einer dunklen Welt 
              : "Milch 
                und Honig" ist das Thema dieser Ausgabe von Am Erker. 
                Haben Sie eine persönliche Vorstellung von einem Land, in 
                dem Milch und Honig fließen, also von einem gelobten Land? 
                 
                : Für mich ist das die 
                Festung Europa oder konkret Deutschland. Das ist eine Art Versinnbildlichung 
                des alten gelobten Landes. Dazu muss man sich einen großen 
                Wall mit einem Diesseits und einem Jenseits vorstellen. Diesseits 
                der Grenzen wird die Seligkeit versprochen. Da kann man sich nicht 
                nur an Milch und Honig laben, denn dort wird vieles angeboten. 
                Der freie Markt des Nektarflusses. Andererseits: Was ist das gelobte 
                Land ohne die Hölle? Und da sind wir bei den Reformen, dem 
                neoliberalen Scheißdreck, mit Verlaub. Es gibt also auch 
                diesseits der Grenzen eine Hölle. In dieser Hölle lebt 
                der Trash, der Menschenmüll. Dieser soll bloß nicht 
                auf die Idee kommen, dass es einen Ausstieg aus der Hölle 
                geben könnte. Es wird aber immer mehr Menschen geben, die 
                in die Hölle einkehren.  
                 
                : Als Ihre Eltern Mitte der 
                Sechzigerjahre nach Deutschland kamen, erwarteten sie hier, wie Sie 
                in dem Text Kanak Attack: Rebellion der Minderheiten erzählen, 
                das verheißene Land. Hat sich für Ihre Eltern diese 
                Vorstellung bewahrheitet?  
                 
                : In dem Text, von dem Sie 
                sprechen, versuche ich Folgendes zu zeigen: Auch wenn meine Eltern 
                vom "verheißenen Land" sprachen, so sahen sie 
                Deutschland zunächst als eine Chance. Es ging ihnen nicht 
                darum, hier etwas anderes zu bekommen als das, was ihnen zustand. 
                Sie hatten eine ganz bestimmte Vorstellung von Fleiß und 
                Lohn. Mein Vater hat in der Lederfabrik, später in einer 
                Montagehalle hart gearbeitet. Als ungelernter Arbeiter, als Malocher 
                hat er immer sein Geld bekommen. Insofern hat Deutschland das 
                Versprechen eingelöst. Es war jedoch eine Illusion, dass 
                sie hier nur wenige Jahre zu arbeiten bräuchten und dann 
                zurückkehren könnten. Trotz der Entbehrungen, trotz 
                der Krankheiten, die sich eingestellt haben, sind sie hier glücklich 
                gewesen. Sie haben das gefunden, was sie gesucht haben. Jetzt 
                leben sie wieder in der Türkei.  
                 
                : Sie waren sieben Monate alt, 
                als Sie nach Deutschland kamen. Was waren für Sie - auch 
                im Hinblick auf Ihr späteres Schreiben - prägende Kindheitserlebnisse? 
                 
                 
                : Vor allem die gelähmte 
                Zunge. Man kommt in einen Klassenraum und sieht Jungen, die man 
                als Kumpel haben möchte, und Mädchen, die schön 
                sind und denen man mal einen Kuss auf die Wange drücken möchte. 
                Es geht aber nicht. Wieso geht es nicht? Nicht, weil man fremd 
                ist, sondern weil man den Klassenzimmerkodex nicht kennt. Ich 
                wusste nicht, wie ich mich benehmen sollte. Das größte 
                Handicap war jedoch, dass ich kaum ein Wort Deutsch konnte. Ich 
                konnte nicht mithalten, nicht mitreden. Nicht die anderen haben 
                sich über mich lustig gemacht, sondern ich habe mich lächerlich 
                gemacht wegen dieser Sprach-, dieser Zungenlähmung.  
                 
                : Konnten Sie diese Erfahrung 
                mit anderen teilen? 
                 
                : Nein, denn ich war der einzige 
                Schwarzkopf an der Schule. Natürlich waren die anderen auch 
                neugierig. Sie sind aber sehr schnell dahintergekommen, dass ich 
                nicht der nette Junge war, der sich rumschubsen ließ, der 
                den Klassennigger gemacht hätte. Es gab Klassennigger: ein 
                Rothaariger, ein Mädchen mit vielen Sommersprossen, ein Dicker. 
                Auch die waren Einzelgänger. Wir haben uns jedoch nicht zu 
                einer Clique zusammengeschlossen, denn jeder von uns hatte den 
                Ehrgeiz, sich dem Klassenverband anzuschließen. Ich möchte 
                diese Zeit nicht missen, denn es war eine kämpferische Zeit. 
                 
                 
                : Ihre Vorbilder waren damals 
                Pelé und Muhammad Ali. Warum gerade diese Sportler?  
                 
                : Die so genannten Gastarbeiter 
                sind zu fünfundneunzig Prozent eine eingewanderte Unterschicht. Wir waren 
                Bauernlümmel, der Trash. Wonach sollten wir Ausschau halten, 
                wenn nicht nach Helden unserer Abstammung, nach Kämpfern, 
                die wir nachahmen konnten, in den Momenten, in denen wir die Fäuste 
                geballt haben? Pelé und Muhammad Ali waren Menschen, die 
                aus der Unterschicht stammten und die aufgestiegen waren. Sie 
                haben dabei jedoch nie ihre Bodenhaftung verloren und sich ihren 
                Humor bewahrt. Sie haben nicht vergessen, woher sie kamen. Immer 
                haben sie versucht, ihren Job besonders gut zu machen. Ich bin 
                kein Fußballnarr. Aber wie Pelé am Ball gezaubert 
                hat, wie Muhammad Ali im Ring getänzelt und gebrüllt 
                hat, das war sehr lustig. Das hat mir imponiert. Ich habe beide 
                geliebt. 
                 
                : In dem erwähnten Text 
                erzählen Sie, wie Sie es nennen, von Ihrem "persönlichen 
                Damaskuserlebnis". Als Sie als Schüler nach Ihrem Berufswunsch 
                gefragt wurden, sprachen Sie von Ihrem Interesse an Bildender 
                Kunst und Literatur und der Vorstellung, später einmal in 
                diesen Bereichen zu arbeiten. Ihr Deutschlehrer meinte dazu, Sie 
                sollten sich nicht verheben und eine Kfz-Lehre machen. Wie erinnern 
                Sie heute diese Situation?  
                 
                : Für mich war das eine 
                Schamsituation. Solche Situationen habe ich immer wieder erlebt, 
                Momente, in denen ich mich plötzlich geschämt habe. 
                Ich habe mich dann gefragt: Wieso schäme ich mich? Wieso 
                werde ich rot? Ich habe das nicht verstanden. Ich wusste, dass 
                es falsch war: falsch, was er sagte, falsch, dass ich rot wurde 
                und nichts sagen konnte. Ich habe ihm damals nichts gesagt. Mein 
                Vater hat mich so erzogen. Ich sollte gegenüber Autoritätspersonen 
                nicht aufmucken. Das kam nicht in Frage. Ich blieb stumm.  
                 
                : War das Schreiben ein Mittel, 
                diese Stummheit abzulegen und sich zu artikulieren? 
                 
                : Zunächst kam das Lesen. 
                Ich habe Bücher gefressen. Vor allem Schund. Konsalik, Simmel, 
                Landser-Hefte, Krimis, Groschenhefte, Frauenmagazine. Ich habe 
                immer in die Grabbelkisten in den Kaufhäusern gegriffen. 
                Das war billiger Lesestoff. So etwas habe ich gelesen. Ich habe 
                eine Zeit lang nichts anderes gemacht. Der Trivialliteratur habe 
                ich meine Erweckung zu verdanken. Schließlich habe ich angefangen, 
                auch solche Groschenhefte zu schreiben. Mit Science-Fiction-Geschichten 
                begann es.  
                 
                : Kanak Sprak, Ihre 
                erste Veröffentlichung, markiert eine deutliche Abkehr von 
                der Trivialliteratur. Zum einen ist die Sprache der Texte, die 
                auf Interviews basieren, sehr stilisiert, stellenweise sogar poetisch. 
                Zum anderen schienen Sie Ihr Thema, nämlich die ungeschönte 
                Lebenswirklichkeit der zweiten und dritten Generation der Migranten, 
                gefunden zu haben. Warum haben Sie diese Texte als "Nachdichtungen" 
                bezeichnet? 
                 
                : Es sind insofern Nachdichtungen, 
                als ich versucht habe, das Material radikal zu kürzen und 
                zu strukturieren. Die Texte haben sich über die Begegnungen 
                und Gespräche mit türkischen Jugendlichen und Männern 
                entwickelt. Oft hatten sie es eilig, dann haben sie mich kurz 
                mitgenommen, und ich habe ihnen zugehört. Sie haben das eine 
                gesagt, das andere verschwiegen. Ich habe es dazugedichtet und 
                ihnen dann vorgelegt. Der eine oder andere hat darauf böse 
                reagiert und meinte, das habe er mir so nicht erzählt. Es 
                stimme zwar, er hätte jedoch seine Gründe gehabt, mir 
                das vorzuenthalten. Ich habe immer mehr Material gesammelt und 
                zu Hause aufgeschrieben und ständig bearbeitet. Zunächst 
                hatte ich noch nicht die Vorstellung, dass es ein Buch werden 
                könnte.  
                 
                : Kanak Sprak hat sehr 
                heftige, kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Auf der einen Seite 
                Lob wegen der schonungslosen Authentizität und der Musikalität 
                der Texte, auf der anderen Seite Kritik, beispielsweise weil Erfolge 
                der Integration bestritten und "Kanake" als Kampfbegriff 
                eingeführt wurde. Haben Sie die Heftigkeit der Resonanz vorhergesehen? 
                 
                : In dieser Form nicht. Kanak 
                Sprak erschien, und zwei Tage später hatte mein Verlag 
                über vierzig Anfragen für Lesungen. Dass ich öffentlich 
                aus dem Buch lesen sollte, damit habe ich nicht gerechnet. Die 
                Vorstellung, rauszugehen und zu lesen, hat mir zunächst Angst 
                gemacht.  
                Denn es gab, wie Sie richtig sagen, nicht nur positive Kritiken 
                im Feuilleton. Mir wurde auch Hass entgegengebracht. Die Texte 
                wollten ja auch provozieren. Ich habe mit diesen Reaktionen nicht 
                gerechnet. Ich hatte, als ich Kanak Sprak schrieb, keinen 
                Entwurf, kein Programm. 
                 
                : Dennoch haben Sie den Schritt 
                in die Öffentlichkeit nicht gescheut.  
                 
                : Plötzlich stellte ich 
                fest: Vorlesen - das ist ein geiler Rausch. Ich merkte sehr 
                schnell, dass ich das bin, was man eine Rampensau nennt. Ich las 
                in ausverkauften Sälen, machte Hunderte von Lesungen, an 
                manchen Tagen sogar zwei.  
                Je mehr Menschen, je mehr Kameras, desto mehr genoss ich das. 
                Und die Zuhörer gingen mit. Ich war aber auch immer der Bad 
                Guy, und es kamen auch Leute, die den Bösen sehen wollten, 
                den Malcolm X der Türken, den Rudi Dutschke der Deutschländer. 
                Erst nach dem dritten Buch habe ich begriffen, dass das Schreiben 
                mein Job sein wird. Davor habe ich das nicht ernst genommen.  
                 
                : Nach dem dritten Buch Koppstoff, 
                das als eine Art Fortsetzung von Kanak Sprak aus weiblicher 
                Perspektive bezeichnet werden kann, gibt es innerhalb Ihrer Werke 
                eine Zäsur. Mit Liebesmale, scharlachrot schreiben 
                Sie einen heiteren, sprachlich sehr virtuosen Liebesroman, der 
                an die Tradition des Briefromans und im Besonderen an Goethes 
                Die Leiden des jungen Werthers anknüpft. So wie Werther 
                an seinen Freund Wilhelm schreibt, so schreibt Ihr Protagonist 
                Serdar von der türkischen Ägäis Briefe an seinen 
                Freund Hakan in Kiel.  
                 
                : Dass ich mit Liebesmale, 
                scharlachrot formal an Goethes Briefroman Die Leiden des 
                jungen Werthers angeknüpft habe, war mir nicht klar. 
                Was mir keiner glaubt: Ich kannte den Roman nicht, habe ihn auch 
                später nie gelesen.  
                 
                : Die Parallelen gehen sogar 
                über die Form hinaus. Da ist zum Beispiel das Motiv der Flucht. 
                So wie Werther flieht, weil er in einer Frau Hoffnungen geweckt 
                hat, so flieht Serdar in die Türkei, um Beziehungsproblemen 
                aus dem Weg zu gehen. 
                 
                : Ich schwöre bei allem, 
                was mir heilig ist: Das wusste ich nicht. Ich kannte Goethes Werther 
                nicht.  
                Es ist viel einfacher gewesen: Meine Mutter hat lange Briefe in 
                die Türkei zu Verwandten geschrieben, um ihnen zu beschreiben, 
                wie es in Deutschland ist. Dann kamen lange Briefe mit vielen 
                Fragen zurück. Gibt es wirklich diese kleinen Brote, die 
                Brötchen heißen? An diese Briefkultur der ersten Generation 
                habe ich mit meinem Roman angeknüpft.  
                 
                : Sie hatten sich mit Ihren 
                ersten drei Büchern als "Kanakenchronist", wie 
                Sie einmal genannt wurden, etabliert. Ihre Texte provozierten. 
                Wollten Sie mit Liebesmale, scharlachrot diesen Texten 
                einen heiteren Roman gegenüberstellen?  
                 
                : Die ersten Bücher, Kanak 
                Sprak, Abschaum und Koppstoff, waren in der 
                Tat wesentlich härter, und ich hatte mich bei den vielen 
                Lesungen sehr verausgabt.  
                Jetzt wollte ich etwas Lustiges, etwas Artistisches schreiben. 
                Die Figuren sind jedoch immer noch türkischstämmig. 
                Ich wollte mich zudem nicht von meinen bisherigen Themen verabschieden. 
                Eine kleine Zäsur habe ich jedoch gesetzt. Umso größer 
                war die Freude, als man mir nachwies, dass ich an die Tradition 
                des Briefromans anknüpfte. 
                 
                : Sahen Sie nach Ihren ersten 
                drei Büchern nicht auch die Gefahr, dass Kanak Attack 
                zu einer albernen Pose werden könnte?  
                 
                : Ja. Zum Teil war ich in Posen 
                erstarrt. Ich habe plötzlich bemerkt, dass ich ins Verderben 
                renne. Ich habe festgestellt, wie einfach es mir fällt, auf 
                Knopfdruck eine Kanak-Geschichte zu schreiben. Man weiß 
                ja, dass auch bei den blödesten Zirkuspferdchen viele Leute 
                geneigt sind zu applaudieren.  
                Auch dem längst domestizierten Zirkusgaul Feridun Zaimoglu 
                wurde applaudiert. Es gab Ermunterung, Schulterklopfen, es gab 
                viel Geld, auch wenn das Finanzamt viel abgeschöpft hat. 
                Es hätte immer so weitergehen können. Aber nicht ewig. 
                Vielleicht noch einige Jahre im Rausch - doch dann wäre 
                ich abrupt aus diesem Blütentraum erwacht. Deshalb habe ich 
                mich zurückgenommen, habe Angebote abgelehnt, habe mich von 
                Kanak Attack wegbewegt. Ich habe gemerkt, dass ich einen 
                Neuanfang machen muss.  
                 
                : Ihr Roman German Amok, 
                der im letzten Jahr erschien, scheint eher noch in der Tradition 
                der frühen Texte zu stehen. Er spielt zwar im Milieu der 
                Berliner Kunst-Boheme, die Entlarvung dieser Szene, ihrer Dekadenz 
                und ihres hohlen Geredes geschieht indes sprachlich sehr drastisch. 
                Die Tiraden des Ich-Erzählers erinnern stellenweise an die 
                stilisierten Monologe aus Kanak Sprak.  
                 
                : German Amok ist die 
                Attacke einen Possenreißers. Aber unaufgeregte Literatur 
                ist etwas anderes. Sie können mir glauben: Ich habe zwei 
                harte Entzugsjahre hinter mir - kein Kanak-Shake mehr. Und 
                ständig ruft jemand an und erzählt mir, gerade jetzt 
                ist Kanak-Attack doch en vogue, gerade jetzt müssten 
                Sie sich doch zum Godfather der Kanak-Welle küren lassen. 
                Da gibt es sehr viel abzuschöpfen: Einladungen von RTL und 
                Sat 1, die mich auffordern, den Ethno-Komödianten zu machen. 
                Das will ich auf keinen Fall, auch wenn ich damit viel Geld hätte 
                verdienen können. Ich will viel verdienen, aber mit guter 
                Literatur. Deshalb musste ich mich verkriechen und jeden Tag schreiben, 
                überarbeiten, wegschmeißen, wieder schreiben. Keine 
                Effekte mehr, keine Klugschwätzereien mehr. Zwei Jahre lang 
                habe ich gelernt und immer wieder von vorn begonnen.  
                 
                : Häute, die Erzählung, 
                für die Sie in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 
                mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurden, scheint sowohl formal 
                als auch inhaltlich einen Neuansatz zu markieren. Sie erzählen 
                von einem Fremden in einem anatolischen Dorf, der bei einem "Antiquar" 
                ein blutbeflecktes Hochzeitslaken kaufen will. Nachdem sie sich 
                beim Preis nicht einig werden konnten, wird dem Protagonisten 
                die vierzehnjährige Enkelin zum Kauf angeboten. Wie kam es zu 
                dieser Erzählung?  
                 
                : Ich wusste, diese Masche, 
                Kanak Attack, hat sich ausgelaufen. Es wird kein Zurück 
                mehr geben. Was ich möchte, ist: Geschichten erzählen. 
                Der Geschichtenerzähler - und davon gibt es in meiner 
                Sippe viele - muss seine Zuhörer fesseln. Das ist meine 
                gewiss einfache Vorstellung von Literatur. Ich will nicht mehr 
                herumkaspern, sondern atmosphärisch dichte Geschichten erzählen, 
                die die Leser und Zuhörer bannen. Diese neuen Geschichten 
                habe ich an der Ägäis geschrieben. Es war sehr heiß. 
                Und ich habe gemerkt, dass ich diese Hitze brauche.  
                Ich saß an der Schreibmaschine und musste alle fünfzehn Minuten 
                ins Bad, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Hier trifft das 
                kitschige Bild von der Literatur als schweißtreibende Arbeit. 
                Es hat mir gut getan.  
                 
                : Der Titel Ihrer preisgekrönten 
                Erzählung ist ambivalent: Häute verweist zum 
                einen auf den Akt der Entjungferung und somit auf das blutbefleckte 
                Hochzeitslaken, das der Fremde kaufen will. Zum anderen ist auffällig, 
                dass die Frau des "Antiquars", die Patronin, und ihre 
                Enkelin im Gesicht tätowiert sind.  
                 
                : Es sind mystische Tätowierungen. 
                Nichts steht für das, was es ist. Das, was wir sehen, verbirgt 
                einen Hintergrund. Einen Blick auf diesen Hintergrund, auf die 
                Haut hinter dem Schleier zu werfen, ist essenziell. Hier wird 
                ein Blick hinter die dörfliche Idylle geworfen. Der Auswärtige 
                in dieser Geschichte rechnet nicht damit, dass die dörfliche 
                Idylle von einem Moment auf den anderen zerbricht. Plötzlich 
                geht es darum, dass die Haut der Enkelin verkauft wird.  
                 
                : In Häute wird 
                der Leser mit einer fremden, archaisch anmutenden Welt konfrontiert. 
                Ist das Ihr neues erzählerisches Terrain?  
                 
                : Zum Teil. Ich bin der Meinung, 
                dass wir in einem Zeitalter der Post-Barbarei leben. Die Aufklärung 
                ist auf halber Strecke verreckt. Das spiegelt sich in einigen 
                Geschichten wider. Wir sehen, wie plötzlich das Archaische 
                auch in unsere Welt eindringt. Man stößt auf fremde 
                Welten, auch vor der eigenen Haustür. Ich habe aber auch 
                Erzählungen von Männern und Frauen geschrieben, die 
                in Deutschland leben. Geschichten von Menschen in Situationen, 
                in denen sie sich nicht behaupten können. Das sind existenzielle 
                Geschichten. Ich setze nicht auf einen Popmodernismus, nicht auf 
                junge, dynamische, komödiantische Literatur, nicht auf Gekasper. 
                Ich setze auf das, worauf ich Lust habe. Und das ist eine dunkle 
                Welt, hier wie dort.  
                 
                : Ist das auch der Abschied 
                von dem Anspruch, sich dezidiert politisch zu äußern? 
                 
                 
                : Die neuen Geschichten werden 
                für sich sprechen. Ich habe meine Großmäuligkeit 
                satt. Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich mich nur 
                pseudopolitisch geäußert habe. Selbstverständlich 
                ist mein Zorn nicht versiegt. Der Zorn ist jedoch ein schlechter 
                Ratgeber, wenn man den Anspruch hat, gute Geschichten zu schreiben. 
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