Am Erker 40

Georg Klein: 'Barbar Rosa'

Georg Klein: 'Libidissi'

Am Erker 29

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Georg Klein
Alexander Fest
Rowohlt

 
Georg Klein

Im Gespräch mit Lucie und Joachim Feldmann

Am Erker Nr. 40, Münster, Herbst 2000

"Ich bin kein bescheidener Autor"

Am Erker: Im Sommer 1995 wurde das erste Kapitel Ihres Romans Libidissi in dieser Zeitschrift abgedruckt. In den biografi­schen Angaben zum Autor heißt es: Georg Klein, 1953, lebt in Berlin und sucht einen Verleger für einen aberwitzigen Berlin-Thriller. Haben Sie diesen Verleger mittlerweile gefunden?

Georg Klein: Ja, ich habe inzwischen einen Verlag gefunden, und das Verhältnis zum Verleger und nicht zuletzt zu seinem famosen Team ist so, dass ich neue wie ältere Arbeiten dort erscheinen lassen kann. Dazu gehört auch jener Text, den ich damals so verzweifelt-reißerisch in Am Erker anzupreisen versuchte.

Am Erker: Hat sich eigentlich jemand auf den Aufruf gemeldet?

Georg Klein: Natürlich nicht. Auf meine Veröffent­lichungen in Literatur­zeitschriften, das waren allerdings auch nur wenige, habe ich keine Resonanz bekommen. Ich vermute, dass damals in der Verlagswelt niemand Literaturzeitschriften gelesen hat. Das hat sich in den letzten Jahren, in dieser seltsamen Hysterie, die durch die Suche nach neuen deutschen Autoren entstanden ist, wohl wieder ein bisschen geändert. Zumindest höre ich jetzt ab und zu, dass Kolleginnen und Kollegen von Verlagsseite auf solche Veröffent­lichungen angesprochen werden.

Am Erker: Wie sind Sie dann zu Ihrem jetzigen Verlag gekommen? Haben Sie einfach weiter Manuskripte an Lektorate geschickt?

Georg Klein: Ich wehre mich, so gut es geht, gegen die gängigen Karriere­legenden. Es gibt keine Laufbahn für Schriftsteller, und ich glaube auch nicht, dass es jemals eine gegeben hat. Ich selbst bin, ohne nennenswerte Fortschritte, über zehn Jahre lang mit dem Kopf gegen alle möglichen Wände des Literatur­betriebs gerannt. Dass ich dann doch einen Verlag gefunden habe, ist einer Kette glücklicher Zufälle zu verdanken. Wenn in dieser Zufallskette nur ein Glied gefehlt hätte, stünde ich heute auch noch ohne Buchver­öffentlichung da.

Am Erker: Was waren das für Zufälle?

Georg Klein: Der entscheidende Zufall war wohl, dass meine Frau, die Schrift­stellerin Katrin de Vries, mit der Zeichnerin Anke Feuchten­berger zusammenarbeitet. Die beiden haben zwei sehr schöne Bücher, Comics nach Erzählungen meiner Frau, gemacht. Und über Anke Feuchten­berger hat sich der Kontakt zu meinem Verleger Alexander Fest ergeben.

Am Erker: Ihre Stellung im Literatur­betrieb hat sich seitdem ja entschieden verändert. Wie wirken sich zum Beispiel Ereignisse wie die Verleihung des Klagenfurter Bachmann-Preises aus?

Georg Klein: Meine veränderte Position im Literatur­betrieb wird mir dann besonders deutlich, wenn ich auf signifikante Fehlurteile treffe. So schrieb zum Beispiel die taz, die Verleihung des Bachmann-Preises an mich sei von "erfrischender Langwei­ligkeit", denn ich sei "einer der von der Kritik meistgelobten Schrift­steller der letzten Jahre". Das stand dort knapp zwanzig Monate, nachdem ich auf dem Markt erschienen bin, und es zeigt, dass der Betrieb mich in gewisser Weise als sein Geschöpf angenommen hat. Er hat mich entdeckt, genährt und auf seinen Schild gehoben. Um es ins Positive zu wenden: Mir stehen jetzt viele Türen offen, und ich kann dort, wo die Spiele gespielt werden, ein bisschen mitspielen.

Am Erker: Sie haben eben schon erwähnt, dass seit einigen Jahren ein verstärktes Verlags­interesse an neuer deutscher Erzähl­literatur zu verspüren ist. Da werden zum Teil exorbitante Zuschüsse für Erstlings­werke gezahlt, und junge Autoren erreichen blitzschnell den Status von Stars. Kann es sein, dass der deutschen Literatur mit dieser Hysterie eigentlich ein Bären­dienst erwiesen wird?

Georg Klein: Dieser 'Boom' ist in mehrfacher Hinsicht mit Vorsicht zu genießen. Dass deutsche Autoren medial etwas mehr Aufmerk­samkeit bekommen, dass laufend neue Bücher deutscher Autoren erscheinen, heißt noch lange nicht, dass diese Bücher auch verkauft werden und ihre Verfasser gemachte Autoren wären. Im Gespräch unter vier Augen habe ich oft genug gehört, dass junge Kollegen, die im Feuilleton und im Betriebs­klatsch relativ hoch gehandelt werden, durchaus keine finan­ziellen Erfolge sind, sondern dass ihre Bücher so wenig Käufer finden, dass das Verhältnis der Verlage zu diesen Schriftstellern nur kurz ein heißblütiges gewesen sein wird. Die Höhe der Vorschuss­summe ist übrigens inzwischen Teil der Werbung, die für Autor und Buch gemacht wird. Diese berühmten hohen Zahlen werden als gezielte Indiskretion in Umlauf gebracht. Da können Sie manchmal getrost eine Null streichen.

Am Erker: Es gibt also offenbar eine Diskrepanz zwischen der kritischen Resonanz auf die neue Literatur und dem tatsächlichen Zuspruch des Lesepublikums. Ein junger Autor erzählte mir neulich, er habe zu Hause einen ganzen Ordner mit überwiegend positiven Rezensionen seines Romans, alle in renom­mierten Feuilletons erschienen, aber der Verkauf des Buches halte sich durchaus in Grenzen.

Georg Klein: Das glaube ich dem Kollegen aufs Wort. Der Literatur­betrieb ist in vieler Hinsicht ein autarkes, selbstreferen­zielles System, das das Außen der Leser nur gelegentlich braucht. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn bei der öffentlichen Lesung eines mehrfach ausgezeich­neten Autors der Betrieb unter sich bleibt: Bei den zehn, zwölf Zuhörern handelt es sich um Kritiker, Buchhändler und Verlags­mitarbeiter. Das ist dann ein Anblick der Wahrheit. Sogar in ökonomischer Hinsicht ist der Betrieb oft nicht auf eine reaktive Außenwelt angewiesen, denn es gibt ja Ressourcen, die auch unabhängig davon, ob Bücher verkauft und gelesen werden, zur Verfügung stehen. Es gibt Autoren, die zehn, fünfzehn Jahre eine Art von Gespenster­existenz führen. Sie haben keine Leser und nicht selten auch keine Freude mehr am Schreiben, aber der Betrieb nährt sie über Stipendien, Preise oder andere Gnadengaben. Das sind die traurigen Lemuren des Betriebs.

Am Erker: Ein Kritiker bemerkte neulich, dass es für einen halbwegs talentierten Autor heutzutage unmöglich sei, keinen Literatur­preis oder kein Stipendium abzubekommen.

Georg Klein: Michael Braun hat das in einem Freitag-Artikel sehr schön überspitzt dargestellt. Aber dieser Halbauto­matismus greift erst, wenn die Autorin oder der Autor über eine gewisse Startposition verfügt, das heißt, das erste Buch erscheint in einem anerkannten Verlag und erreicht eine Mindest­aufmerksamkeit bei der Kritik. So etwas zieht zur Zeit fast zwangsläufig eine kleine Serie von Stipendien und einen Förderpreis nach sich. Dass man diese Startposition erreicht, hat allerdings nicht unbedingt etwas mit der Qualität der Texte zu tun. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, dass es wirklich originelle Schreiber und wider­borstige Charaktere weiterhin schwer haben. Der Betrieb liebt das Mittel­gewichts­talent, das scheue dankbare Mädel bei den Autorinnen, den trinkfesten Literatur­kumpel bei den Autoren. Das ist nicht so böse gemeint, wie es sich anhört, warum sollte es im Literatur­betrieb anders zugehen als in einer Firma, in einer großen Behörde oder im Volleyball-Club.

Am Erker: Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Generation der heute Dreißigjährigen in dieser Hinsicht über bessere Startchancen verfügen, als sie die in den fünfziger Jahren geborenen Autoren hatten.

Georg Klein: Das glaube ich eigentlich nicht. Grund­sätzlich würde ich sagen, dass es so etwas wie Generationen seit der Generation der Kriegsteil­nehmer in Deutschland nicht mehr gibt. Die Männer, die den Krieg als Soldaten erlebt haben und deshalb über eine kollektive Erfahrung verfügen, die alles Trennende überformt, das ist für mich die letzte wirkliche Generation. Alle Altersgruppen, die danach kommen, sind für mich allenfalls Aftergenerationen, die sich ja oft auch nur in Konfrontation zu dieser letzten Generation definieren konnten. Was meine Altersgruppe angeht, so habe ich durchaus das Gefühl, dass wir vertreten sind. In den Verlags­sesseln, in den Literatur­redaktionen, auf den Schriftsteller­treffen, in Zeitschriften wie Am Erker.

Am Erker: Aber als Sie im Alter mancher erfolgreicher Autoren von heute waren, wurde die junge Literatur doch weitgehend von heute Sechzigjährigen repräsentiert.

Georg Klein: Das ist sicherlich richtig. Aber was wird aus den Fünfund­zwanzig­jährigen, die man momentan hochjubelt? Das kann schon in fünf Jahren ihr Pech gewesen sein. Wir Älteren sollten da nicht allzu sehr jammern. Wenn es eine Distinktion gibt, wo Ihre Klage zu Recht erklingt, dann ist es die geschlecht­liche. Es ist für Männer meines Alters leichter, sich im gegenwärtigen  Betrieb und seinem Jugendrummel zu behaupten, als für Frauen, die zwischen vierzig und fünfzig sind. Denn bei den Autorinnen geht der Geschmack blindlings zum jungen Mädel. Am schwersten hat es zur Zeit im Betrieb eine wirklich gute, durch ihr Werk ausgewiesene Autorin, die auf die Fünfzig zugeht. Wenn sie dann auch noch selbstbewusst und schön ist, dann gnade ihr Gott.

Am Erker: Gerade im Geschäft mit der jungen Literatur werden Literaturagenten immer wichtiger. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Georg Klein: 1998, als ich mit Libidissi herauskam, schossen mit einem Mal die Agenturen wie Pilze aus dem Boden. In Deutschland hat Karin Graf mit der ihr eigenen robusten Art eine Bresche geschlagen, und dann sind viele nachgezogen. Nun bin ich ja erst mit Agenten in Kontakt gekommen, als ich schon einen Verlag hatte. Trotzdem pflege ich diese Kontakte, unter anderem weil Literatur­agenten für mich wichtige Informationsquellen sind. In Zukunft kann es für mich durchaus interessant sein, für ein Buch, Hörspiel oder Drehbuch mit einem Agenten zu kooperieren. Ich verfolge die Entwicklung der Literaturagenturen mit Sympathie, weil durch sie einiges in Bewegung geraten ist. Das Verhältnis der Schrift­steller zu ihren Verlegern und Lektoren ist in Deutschland oft immer noch merkwürdig patriar­chalisch. Die emotionale und die finanzielle Abhängigkeit mischen sich auf eine dumpf undurch­schaubare Weise. Im Agenten lässt sich leichter der geschäftliche Partner sehen, während der Verleger und manchmal auch der Lektor immer noch zum Patron tendiert.

Am Erker: Wozu dann noch Lektorate?

Georg Klein: Ich weiß nicht, wann die Verän­derungen im deutschen Verlagswesen, die beiläufig auch das Lektorat zugrunde gerichtet haben, genau begonnen haben. Ich kenne Legenden aus den sechziger Jahren, in denen Lektoren noch wie heroische Sagengestalten auftreten, die unglaublich viel Zeit und Lust haben, sich mit unbekannten Manuskripten zu beschäftigen. Diesen hehren Gestalten bin ich nicht mehr leibhaftig begegnet. Ich bin bereits in den frühen Achtzigern auf völlig überarbeitete, gestresste und in ihrer Verantwortung überforderte Menschen gestoßen.
Ich habe den Eindruck, dass sich diese Entwicklung noch beschleunigt hat. Die sogenannten Lektoren der deutschen Verlage haben für die eigentliche Lektorats­arbeit, das heißt für das Prüfen und Redigieren nicht veröffent­lichter Texte, sehr wenig Zeit. Wer heute als Lektor tätig ist, macht allen möglichen anderen Verlagskram und sitzt nicht früh morgens mit klarem Kopf, Phantasie und gutem Mut über einem Manuskript, das ihm zugeschickt worden ist.

Am Erker: Unter den vielen Neuerschei­nungen der letzten Jahre zeichnet sich Ihre Erzählprosa durch einen ganz eigenen, wie ich finde, unverwech­selbaren Stil aus. Wie haben Sie zu Ihrer Sprache gefunden?

Georg Klein: Ich habe vor nicht allzu langer Zeit meiner Frau einen ganz alten Text vorgelesen, den ich um 1980 geschrieben habe. Sie meinte, der Stil sei ja schon da gewesen, nur an meinen Stoff hätte ich mich noch nicht herangetraut. Ich war selbst verblüfft, wie sehr ich mich in dieser zwanzig Jahre alten Prosa bereits erkenne. Meistens vertrete ich die Position, dass der Stil die Frucht der Zeit ist, doch er ist es offenbar weit weniger, als ich dachte. Der Stil bleibt für mich in jedem Fall mein moralischer Ausweis gegenüber den Lesenden. Er ist die Sphäre, wo ich unmittelbar haftbar bin, wo man an jedem Absatz zu mir sagen kann: Das ist schlecht oder gut. Da hast du vor deinen Zeitge­nossen und der Sprache, die du mit ihnen teilst, den nötigen Mut und die nötige Ehrlich­keit bewiesen und dich nicht ins Gängige, zum Beispiel in jenen lakonischen Kitsch, den man hierzulande für amerikanisch hält, geflüchtet.

Am Erker: In Rezensionen wird Ihnen gerne eine "präzise Sprache" bescheinigt. Dabei habe ich eher das Gefühl, dass in Ihren Texten diese Präzision der Beschreibung nur suggeriert wird. Wenn man sich nämlich tatsächlich vorzustellen versucht, was hier beschrieben wird, stößt man doch auf Probleme.

Georg Klein: Die sogenannte 'minutiöse Beschreibung' ist ein schrecklicher Allgemeinplatz. Jedes Mal, wenn ich in einer Rezension zu dem Punkt komme, wo der Kritiker meint, er müsse dem Autor lobend unterstellen, in seinem Buch werde 'minutiös beschrieben', könnte ich vor Verzweiflung in die Zeitung beißen. Leider wurde das auch schon von meinen Texten behauptet. Ich habe überhaupt kein Interesse daran, irgend etwas minutiös oder präzis zu beschreiben: Das ist die Aufgabe außerliterarischer Texte, zum Beispiel von Bedienungsanleitungen, Unfall­berichten oder Sitzungs­protokollen ... Dabei ist Beschreibung für mich sehr wichtig. Beschreibung kommt für mich vor Handlung und vor Reflexion. Beschreibung ist für mich das Schlupfloch in die Phantasie der Lesenden. Und mit raffinierten Unschärfen und den richtigen Beschreibungslücken, manchmal sogar mit widersprüch­lichen oder den Common Sense vor den Kopf stoßenden Details ist die Imagination besser zu stacheln als mit biederer Genauigkeit.

Am Erker: Sehen Sie sich hier in einer literarischen Tradition? Soweit ich weiß, ist Kafka, der ja auch die Phantasie seiner Leser immens angeregt hat, ein wichtiger Autor für Sie.

Georg Klein: Ich war ein wilder Leser, mir ist Literatur in den wichtigsten Lesejahren, in Kindheit und Jugend, nicht in Form einer gesicherten Tradition entgegengetreten. Ich stamme nicht aus einem gutbürgerlichen Haushalt, wo Literatur als ein überkommenes Wissens- und Wertungssystem, als eine Art Kanon, verstanden und gepflegt worden wäre. Fast alle Bücher, die mir wichtig sind und die mich auch beeinflusst haben, habe ich damals ohne jeden Werkkontext gelesen. Meist konnte ich nicht einmal die Namen der Autoren irgendwie zuordnen. Mit elf oder zwölf Jahren habe ich über Edgar Wallace genauso wenig gewusst wie über Edgar Allan Poe. Beide 'Edgars' sind mir gleich traditionslos im Bücherbus der Stadtbibliothek Augsburg in die Hände gefallen. Was Kafka angeht: Kafka ist groß, das beweist mir allein schon der Umstand, dass er meine Schulzeit und mein Germanistik­studium ohne den geringsten Kratzer überstanden hat.

Am Erker: Die Früchte Ihres "wilden Lesens" schlagen sich ja heute in Ihrer "Schund-Kolumne" in der Frankfurter Rundschau nieder, wo Sie Texte von lan Fleming und Hildegard Knef, aber auch von Arno Schmidt vorstellen. Wie stehen Sie zu dem, was man gemeinhin als 'Trivialliteratur' abqualifiziert?

Georg Klein: Die trivialen Genres haben zwei Dinge für sich. Zum einen werden sie wirklich gelesen, und zum anderen tun ihre Autoren auch wirklich etwas dafür. Stephen King hat seine leidenschaftlichen Leser, und das ist kein Zufall. Etwas ist an ihm bemerkenswert, etwas ist an ihm so gut, dass heutige Vierzehnjährige sechshundert Seiten bei der Sache bleiben. Allerdings verbindet sich für mich mit den trivialen Schmökern meiner Kindheit auch der Schmerz, dass sie oft nicht so gut sind, wie sie sein könnten. Man liest eine Gespenster­geschichte, und sie ist nicht schlecht, aber man weiß, dass es doch schon bessere gab. Und wenn man mit elf, zwölf Jahren merkt, dass es spannender und origineller zugehen könnte, dann ist der Gedanke nicht so weit, dass man eine bessere Geschichte erfinden könnte. Ich habe als Kind anderen Kindern Geschichten erzählt, die ich mir naiv in Anlehnung an die mir bekannten Genres erfunden hatte, und bald gemerkt, dass man damit Wirkung erzielt, aber auch, dass man beim Erzählen Fehler machen kann.

Am Erker: Worin besteht so ein Fehler?

Georg Klein: Zum Beispiel in einer zu großen Selbstver­liebtheit des Autors, dass er das, was ihm im Alltag das Nächste ist, auch für das Wichtigste hält. Dass eine Nacherzählung dessen, was mir beiläufig passiert ist, für einen anderen Menschen automatisch interessant sein sollte, glaube ich einfach nicht. Wieso sollte jemand die besten Stunden seines Tages opfern, um zu erfahren, was mir gestern, vorgestern oder vor zwanzig Jahren zugestoßen ist?

Am Erker: Das wäre also eine Absage an einen beträcht­lichen Teil der momentan verfassten jungen Erzähl­literatur, die sich ja oft darauf beschränkt, beim Leser einen, wie auch immer gearteten Wieder­erkennungseffekt zu erzielen. Sie scheinen dagegen die Macht der Fiktion, der Erfindung hochzuhalten.

Georg Klein: Ich habe mich entschieden der Fiktion verschrieben. Es ist der unkontrol­lierte Einfall, der mein Schreiben in hohem Maße strukturiert, in dem Sinne, dass ich das, was mir einfällt, niederschreibe, ohne es in jedem Augenblick einem Interpretations- oder Bedeutungs­kontext zuordnen zu können. Die Schreib­erfahrung hat mir gezeigt, dass die dunkelsten und isoliertesten Einfälle die fruchtbarsten sind, wohingegen die 'schlauen' Einfälle, die sich sofort mit gängiger Bedeutung vollsaugen, eher unfruchtbar bleiben. Klug und raffiniert und gebildet kann ich beim Kürzen und Überarbeiten dann noch genug sein.

Am Erker: Dennoch haben Ihre Geschichten eigentlich immer einen Ausgangspunkt, der in bestimmtem Maße unserer Realitätserfahrung entspricht.

Georg Klein: Ein Erzähltext muss dem Lesenden ein Realitäts­versprechen machen. Er muss antreten mit der Behauptung, er könne in der Vorstellung des Lesers Realität suggerieren. Das muss aber eine im Leseakt autarke und stabile Realität sein. Das Kreuz mancher aktueller Literatur ist, dass sie glaubt, es gebe eine Realität erster Ordnung, auf die sie sich beziehen könne. Das ist einmal die persönliche Erinnerung und zweitens so eine Art geistiges Spiegel-Archiv. Was man in den letzten zehn, zwanzig Jahren über die Medien erfahren hat, wird platterdings für Wirklichkeit gehalten. Manche zeitgenös­sischen Romane wirken, als ob der Autor über eine Spiegel- oder Stern-Sammlung der letzten Jahrzehnte verfügte und dort die entsprechenden Bezüge herausgesucht hätte.

Am Erker: Aber offenbar gibt es, wie zum Beispiel die Reaktionen auf einen Roman wie Michael Kumpfmüllers Hampels Fluchten zeigen, sowohl bei der Literatur­kritik wie beim Lesepublikum ein Bedürfnis nach dieser Art von Erzählliteratur.

Georg Klein: Ich verstehe das Bedürfnis. Dahinter steckt der Glaube, dass Geschichte Sinn stiften und Besinnung auf Geschichte einem ganzen Leben Halt geben könne. Das war das große historische Versprechen. Von dieser prächtigen bürgerlichen Zivil­religion ist allerdings nur noch so eine Art von zeitgeschicht­licher Sektiererei übrig geblieben. Man schließt zehn Jahre Lebens­erinnerungen mit zehn Jahren bundesrepublikanischem Geschichtsbild à la Focus, Spiegel, Stern kurz und meint, man hätte so etwas wie Erdung in der Wirklichkeit geschafft. Dass die Literatur nur dazu dienen soll, dieses arme Bedürfnis nach Sicherheit zu nähren, ist wirklich zu wenig für eine Kunst.

Am Erker: Das kann ein Tatort-Krimi besser?

Georg Klein: Das kann ein Tatort längst viel besser. Auch die Presse mit ihren zeitgeschicht­lichen Serien leistet hier mehr. Wir brauchen doch nicht den Roman zur Spiegel-Serie. Aber geschrieben wird er doch, und die großen informations­verarbeitenden Medien freuen sich, dass Ihnen eine fußlahme Literatur die Hacken leckt.

Am Erker: Und welchen Zweck erfüllen die Realitätspartikel, die sich in der Prosa Georg Kleins doch immer wieder finden?

Georg Klein: Die gehören zu dem Realitäts­versprechen, das ich eben beschrieben habe. Ich will nichts abbilden. Es gibt nichts, das gegenüber meinem Schreiben die Position eines Vorbildes oder einer ersten Wirklichkeit innehat. Der wirklich starke Text bildet keine 'Realität zweiter Ordnung' zu etwas außerhalb des Schreib- oder Leseakts. Das ist auch eine ganz klare Absage an die Recherche. Früher war ich aus Unsicherheit heraus der Meinung, ich müsse recherchieren. Das Gegenteil ist der Fall, Recherche wäre für mich eine Flucht. Wenn ich mich an den Schreib­tisch setze, habe ich alles bei mir. Wenn es überhaupt eine mimetische Vorstellung gibt, die für mich begrenzt Sinn macht, dann die, dass sich das kreative System selbst abbildet. Und diese Abbildung muss so reizvoll sein, dass andere kreative Systeme von hoher Potenz damit in ein fruchtbares Spiel eintreten können.
Das ist übrigens keine beliebige Sache, denn ich biete ja ein Spiel von hoher Qualität an, das erstklassige Spieler benötigt. Der Text ist in seiner Materialität als Buch so tot wie ein Virus ohne Wirtskörper. Nur ein Leser von entsprechender Potenz kann aus dem Text das machen, was er sein kann.
Deshalb bin ich übrigens nicht großzügig oder tolerant, wenn es um Gegenwarts­literatur geht. Es gibt zwei Ressourcen, die arg begrenzt sind: erstens die Aufmerksamkeit der Menschen und zweitens der mediale Raum, den Literatur beanspruchen kann. Es ist natürlich nicht so, dass Leser ein Buch in die Hand nehmen, nur weil es in einem bekannten Verlag erschienen ist. Es gibt unter Umständen gute Gründe, ins Kino zu gehen oder fernzusehen und eben nicht zu lesen. Deswegen schaue ich verdrossen und grimmig auf Bücher, die den meinen und anderen guten Aufmerksamkeit und Raum wegnehmen, obwohl sie meines Erachtens nur die Makulierung verdient haben.

Am Erker: Aber genießt Literatur momentan nicht ein ganz beachtliches öffentliches Interesse? Es gibt ja sogar Schriftsteller, die wie Popstars auftreten.

Georg Klein: Ich halte das für eine Täuschung, zumal die meisten Autoren, die kurz als Popstars gehandelt werden, bei ihren Auftritten diesem Ruf in keiner Weise gerecht werden. Da ist jede mittelmäßige Cover-Band aus der Provinz präsenter. Es hat ja auch überhaupt keinen Sinn, sich an mächtige Medien oder dominante Kultur­formen anzubiedern, im Gegenteil. Es ist die kritische Distanz zu anderen Kunst- und Darstellungs­formen, die für Literatur enorm wichtig ist. Fast jeder Versuch, sich mit fremden Federn aufzuputzen, gibt der Literatur den Rest. Es ist noch nicht einmal ein Schwanengesang, sondern eher eine Art Kasperltheater auf Kosten der Literatur, wenn Autoren meinen, sie könnten der Dürftigkeit ihrer Texte dadurch abhelfen, dass sie Platten dazu auflegen. Das sind Momente verzweifelter Peinlichkeit.

Am Erker: In Ihrer Prosa kommen, wenn ich mich recht erinnere, keine Lieder vor. Aber, was ich für interessanter halte, auch keine Dialoge.

Georg Klein: Lieder gibt es schon in meinen Texten. Nur nehme ich mir seit etwa fünfzehn Jahren die Freiheit, diese Lieder zu erfinden, und auch den Popstar dazu.
Was die Dialoge angeht: In früheren Jahren gab es in meinen Erzählungen durchaus Dialoge, ich habe sogar Theaterstücke geschrieben. Inzwischen schreibe ich auch wieder Prosa, die Dialoge enthält. Dass ich eine Zeitlang auf die wörtliche Rede verzichtet habe, kommt daher, dass mir eine bestimmte Art von Schreibe besonders kläglich erschien. Es ist eigentlich der amerikanische Mainstream, der in Deutschland auf eine besonders traurige Art kopiert wird. Das sind jene Texte, in denen die direkte Rede und kurze Handlungs­elemente so zwanghaft locker aufeinander­folgen, dass sich auch ein bestimmtes Seitenbild ergibt. Von dieser in wahrsten Sinne des Wortes armen und doch dominanten Literatur, die sich auf jeder Seite anbiedert, habe ich mich distan­zieren müssen und in meinen Erzähl­texten keine direkte Rede benutzt.

Am Erker: Ist das die Absage an eine Literatur, wie sie zum Beispiel in der Nachfolge eines Raymond Carver geschrieben wird?

Georg Klein: Ich glaube, dass ich Raymond Carver in meine Schundreihe in der Frankfurter Rundschau aufnehmen muss, vielleicht als letzte Folge und mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Denn einerseits hat er es durchaus verdient, aber andererseits ist es auch eine Ungerech­tigkeit. Diese Ungerech­tigkeit ist seinen deutschen Epigonen geschuldet. Die Art und Weise, wie hierzulande die amerikanische Short Story verschlimm­bessert worden ist, hat natürlich deutsche Gründe, für die Carver nichts kann.

Am Erker: Wie sollen deutsche Autoren denn erzählen?

Georg Klein: In der Regel ist es immer noch so, dass den in Deutschland Schreibenden nur die deutsche Sprache als ein Geschenk in die Wiege gelegt ist, das ihnen zu Fluch oder Segen werden kann. Wirklich zweisprachige Autoren sind weiterhin sehr selten. Bei Migranten­kindern ist die Sprache der Eltern vor allem als etwas Halb- oder Ganzver­lorenes wirksam als eine Verlusterfahrung, die das Verhältnis zur eigenen Sprache, zum Deutschen, auf eine fruchtbare Weise schärfen kann.

Am Erker: Was bedeutet es für Sie, in deutscher Sprache zu schreiben?

Georg Klein: Ganz grob gesagt: Das Deutsche, das mir so nah ist wie mein Körper, ist dennoch größer und älter als ich, und es wird mich überleben. So steht mein kreatives System, wenn ich schreibe, in einem Spannungs­verhältnis aus Stolz und Demut. Wenn mir ein Text gelingt, erfüllt mich das mit so großem Stolz, dass ich froh bin, mit diesem Stolz alleine zu sein, jeder mitfühlende Beobachter müsste mich für schrecklich eingebildet halten. Dem gegenüber steht aber eine beharrliche Demut. Ich weiß immer, dass dieser Text nicht das Produkt meiner Willenskraft ist, sondern sich in einem Prozess entwickelt hat, in dem mein Wille wie ein Einhand­segler auf dem unerschöpflichen Meer meiner sprachlichen Möglich­keiten und Unmög­lichkeiten von heftigen Winden hin und her geworfen wurde.
Nach zwanzig Jahren praktischer Demut habe ich allerdings auch keine Lust, meinen Stolz zu verbergen. Das wäre angesichts der Texte Koketterie. Ich bin kein bescheidener Autor, aber ich weiß, dass ich immer demütig ans Werk gegangen bin und ans Werk gehen werde.

Am Erker: Würden Sie sich denn mehr Autoren wünschen, die wie Sie schreiben?

Georg Klein: Noch in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts plagte mich regelmäßig eine Albtraum­vorstellung: Ich nehme in einer Buchhandlung oder Bibliothek das Buch eines lebenden deutschen Autors in die Hand und muss entdecken: Der schreibt eigentlich genau so wie ich, nur besser. Das war für mich eine Art Selbstmordphantasie. Inzwischen quält mich diese Vorstellung nicht mehr, und ich habe auch keine Angst, dass mich ein ganz junger Autor imitieren würde. Stil lässt sich immer nur unzulänglich imitieren.
Ich bin aber davon überzeugt, dass es unter unseren Zeitgenossen sehr gute Autorinnen und Autoren gibt, die nicht ans Licht kommen. Nicht viele, aber in allen Altersgruppen die eine oder den anderen. Das ist schrecklich. Zumindest auf den Buchmessen müsste es einen Altar des unentdeckten großen Autors geben, an dem wir, die glücklich ins Licht Durchge­drungenen, eine Kerze anzünden können.

Am Erker: Gibt es für Sie einen Autor, den Sie für maßlos unterbewertet halten?

Georg Klein: Ich wünsche mir, dass ich einmal in eine Position komme, wo ich schlagartig viel Licht auf eine solche Person und ihr Werk lenken könnte. Es wäre natürlich auch schön, wenn man parallel dazu schwarzes Licht auf bestimmte Felder werfen könnte, um falsche Blendungen auszugleichen. Aber ich kann weder das eine noch das andere.

Am Erker: Nun sind Sie sogar mit einer Schrift­stellerin verheiratet.

Georg Klein: Das wäre natürlich die Autorin, die ich für maßlos unterschätzt halte und auf die ich gerne das Licht der Aufmerk­samkeit lenken würde. Unser Schreiben ist stark aufeinander bezogen, wir leben von der Andersartigkeit unserer Arbeit, und die sichere wechselseitige Wertschätzung macht es möglich, dass wir auch unsere genauesten Kritiker sein können. Allerdings kommt es im Literatur­betrieb nicht gut an, wenn ich bei Fragen nach meiner Arbeitsweise erwähne, wie wichtig meine Frau und ihre Arbeit für mich sind. Das hat mir doch zu denken gegeben. Offenbar gibt es ein dezidiert männliches Modell vom Schriftsteller. Das ist der einsame, trunksüchtige Großstadtwolf, der Nacht für Nacht mit Blick auf Wodkaflasche und Weltweh geniale Prosa schreibt. Ich bin kein einsamer Autor, weil ich mit meiner Frau zusammen­arbeite. Wir schreiben in Sichtweite, und es vergeht kein Tag, an dem wir nicht Texte austauschen oder über Literatur sprechen würden. Das ist ein so selbstverständlicher Nährboden meiner Kreativität, dass es mir närrisch schiene, es nicht zu erwähnen, wenn man mich nach den Umständen meiner Produktion fragt.

Am Erker: Haben Sie irgendwann einmal für sich eine Alternative dazu gesehen, Schriftsteller zu werden?

Georg Klein: Ich vermute, dass die Vorstellung, Schriftsteller zu sein, bei mir gegen Ende meiner Grundschul­zeit aus meinen Leseerfah­rungen entstanden ist. Ich weiß noch, wie meine Mutter, die eine große Leserin war, spätnachts zu mir ins Kinderzimmer schaute und sagte: "Mein Gott, du liest auch noch! Jeder noch eine Seite, Georg!" Natürlich haben wir uns beide nicht daran gehalten. Wen die Literatur um den süßesten Schlaf gebracht hat, der wünscht sich irgendwann einmal, andere mit Literatur um den Schlaf zu bringen. Und da in meiner Kindheit nur die Literatur auf diese Weise gefährlich präsent war, hatten andere Möglichkeiten, ein glücklicher Mensch zu werden, schlechte Karten. Der Pfad des Lesens und des Schreibens war in meiner Welt der Königsweg, und es stellte sich eigentlich nur die Frage, ob ich den Mut haben würde, diesen Weg so lange entlangzu­stolpern, bis mir das Glück vor die Füße fiel.