Am Erker 74

Richard Lorenz: Frost, Erna Piaf und der Heilige

Stefan Heuer: Katzen im Sack

Lukas Holliger: Glas im Bauch

Thomas Strauch: Die Halbgaren

J. J. Voskuil: Der Tod des Maarten Koning. Das Büro 7

 
Fritz Müller-Zech 74
Die Kolumne
 

Wochenlang war ich krank, unfähig, auch nur eine einzige sinnvolle Zeile zu Papier bzw. auf den Bildschirm zu bringen. Bewegungslos lag ich auf einer alten Couch in meiner Werkstatt und verstaubte. Natürlich ist dieser Satz gelogen: Ab und zu verließ ich mein Lager, um Nahrung zu mir zu nehmen oder meine Notdurft zu verrichten. Bei solchen Gelegenheiten wurde der auf meiner Wolldecke befindliche Staub aufgewirbelt. Glücklicherweise senkte er sich immer wieder, kaum war ich von meinen Erledigungen zurückgekehrt, an gewohnter Stelle ab, ja, er schien sogar an Volumen zugenommen zu haben. So vergingen Tage, Wochen, Monate. Irgendwann steckte ein Umschlag mit der neuen Ausgabe dieser Zeitschrift im Briefkasten. Fragen Sie mich nicht, warum ich ausgerechnet an diesem Vormittag auf dem Weg vom Klo einen Umweg zur Wohnungstür machte. Es muss eine bittere Vorahnung gewesen sein, die sich, kaum hatte ich das Heft von seiner Zellophanhülle befreit, bewahrheitete. Anstatt meinen Kolumnenplatz mit dem schlichten Hinweis "Fritz Müller-Zech ist krank" zu versehen, so wie es die britische Zeitschrift "The Spectator" handhabte, wenn sich ihr Kolumnist Jeffrey Bernard unpässlich fühlte, hatte man eine so genannte künstliche Intelligenz beauftragt, meine Spalten mit Text zu füllen. Den berühmten drei narzisstischen Kränkungen, von denen sich die Menschheit bis heute nicht erholt hat, war eine vierte hinzugefügt worden. Computerprogramme zeigten sich nicht nur als grandiose Schach- oder GO-Spieler, sondern vermochten es offenbar ohne große Mühe, einen mittelmäßigen Literaturkritiker zu ersetzen. Zunächst war ich traurig, dann wurde ich wütend. Und nur Minuten später stand ich unter der Dusche.
Aber was nun? Mir war meine Kritikerexistenz abhandengekommen wie ein alter Hut. "Alles beurteilen zu wollen, ist eine große Verirrung oder eine kleine Sünde", hatte einst Friedrich Schlegel bemerkt, und der wusste, wovon er sprach. Doch die sägemehlbedeckten Bücherstapel auf meiner Werkbank jagten mir keine Angst mehr ein. Ich brachte einen Turm zum Einsturz, ignorierte den folgenden Niesreiz und griff blind zu. In Richard Lorenz' berührendem Roman Frost, Erna Piaf und ein Heiliger las ich von einem Jungen, der die erlösende Wirkung seiner Gedichte entdeckt. Seine "Worte gegen Schmerzen" machen es Sterbenden leicht, vom Leben zu lassen. Und schon wusste ich, wonach ich suchte. Ich brauchte Sätze, die mir den Glauben an die Sprache zurückgeben würden. Metaphernstark und bilderreich. Sätze, an denen eine künstliche Intelligenz scheitern würde. Doch schon beim flüchtigen Durchblättern mehrerer Bücher wurde mir bewusst, dass mein Unternehmen zum Scheitern verurteilt war. "Am Sonntagabend ging das Steinhuder Schützenfest zu Ende", hieß es beispielsweise in Stefan Heuers zweitem Roman Katzen im Sack. Solche Sätze musste es geben, ohne sie würde sich eine Geschichte aus dem Schaustellermilieu, die in Norddeutschland spielt, nur schwer erzählen lassen. Auch der fiktive Alltag in einem Wohnmobil will beschrieben sein. Figurative Sprache wäre nur im Wege, wenn es gilt, die laufenden Kosten eines Wandergewerbes zu erläutern: "Neben Benzin, der Steuer, Versicherungen, TÜV, GEZ und kleineren Reparaturen waren das vor allem Reifen und Chemieklo." Verstehen Sie mich nicht falsch, Ironie liegt mir fern. Tatsächlich fiel mir erst jetzt wieder ein, wie gerne ich Erzählprosa las, die sich der Faszination des Gewöhnlichen nicht verschloss. Doch was empfand eine Kritik-Software bei solchen Sätzen? Wäre sie überhaupt in der Lage, sie als Literatur zu identifizieren? Und was würde sie mit der Behauptung, der Mensch wachse "wie eine Kartoffel in der Erde" und werde "nach einem Leichenschmaus von der Verwandtschaft ausgegraben, geerntet und getauft", anfangen, die der Schweizer Schriftsteller Lukas Holliger in einem seiner Texte aufstellt? Handelte es sich da um dieselbe Gattung, deren einzelnem Exemplar in Thomas Strauchs Erzählung "Der Nöck" bescheinigt wird, er falle wie "ein herausgeschnittenes Fleisch"? Vielleicht würde unsere künstliche Intelligenz nur die Ingredienzen zu einem traditionellen Sonntagsmahl erkennen?
Zu viele Gedanken! Ich war erschöpft und verwirrt. Klarheit versprach jetzt nur noch ein in schwarzes Leinen gebundenes Buch, dessen Erscheinen ich, so sagte mir die langsam zurückkehrende Erinnerung, mit banger Vorfreude erwartet hatte. Der siebte und letzte Band von J. J. Voskuils Großroman Das Büro lag vor mir, und ich wagte es noch nicht, die erste Seite aufzuschlagen. Zu schnell, das wusste ich aus Erfahrung, wäre das, diesmal endgültige, Ende erreicht, und mir bliebe nichts anderes übrig, als erneut mit der Lektüre des ersten Bandes zu beginnen. Also öffnete ich das Buch an einer zufälligen Stelle, es war die Seite 96, und stieß auf folgende Sätze, die mich meine Furcht vor der künstlichen Intelligenz im Nu vergessen ließen: "Es war noch hell, doch die Laternen waren bereits an, eine regelmäßige Reihe orangefarbener Lichter beiderseits des Wassers bis zum Turm der Westerkerk. Es rührte ihn. Wenn dies nun einmal der Sinn des Lebens wäre: die Beobachtung kleiner Variationen in immer demselben kleinen Teil der Welt, in dem man zufällig lebte."

 

Richard Lorenz: Frost, Erna Piaf und der Heilige. Roman. 208 Seiten. kuk. Bellheim 2016. € 22,00.

Stefan Heuer: Katzen im Sack. Roman. 260 Seiten. Elif. Nettetal 2017. € 14,00.

Lukas Holliger: Glas im Bauch. Betrachtungen durch verschluckte Brillen. 157 Seiten. Edition Meerauge. Klagenfurt 2015. € 21,90.

Thomas Strauch: Die Halbgaren. Erzählungen. 250 Seiten. Longinus. Coesfeld 2017. € 17,00.

J. J. Voskuil: Der Tod des Maarten Koning. Das Büro 7. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. 252 Seiten. Verbrecher. Berlin 2017. € 24,00.