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Dylan Thomas
S. Fischer
Erich Fried
 
Essays
Der Zufall der Magie
Dylan Thomas - seit fünfzig Jahren tot
Olaf Velte
 

Vor fünfzig Jahren war Dylan Thomas ein Star, der berühmteste Poet der Alten Welt. Noch heute hat sein Name in den Ländern englischer Zunge einen guten Klang. Bei uns sind seine Dichtungen jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten - eine Erinnerung nur, weit weg.

Als Leiche kehrt er von seiner vierten Lesereise durch die Vereinigten Staaten nach Wales zurück. Sein früher Tod macht ihn endgültig zur Legende. Der tote Dichter wird am 24. November 1953 in Laugharne beerdigt. Das Städtchen platzt aus den Nähten. Verwandte, Freunde, Nachbarn, Bekannte und Neugierige ziehen durch die Straßen und hinauf zur Kirche St. Martin, wo Pfarrer Williams aus dem ersten Korintherbrief zitiert. Nach einem letzten Gebet wird der Sarg in die Erde gesenkt. Die Aussicht ist herrlich: Vom Grab blickt man weit über Laugharne ins Land hinein. Ganz im Sinne des Verstorbenen haben die Gaststätten des Ortes durchgehend geöffnet. Während des Trauertages werden, so geht ein Gerücht, Manuskripte und Bücher aus dem Wohnhaus des Toten gestohlen.
Sein Name ist in aller Munde. Erich Fried, der Übersetzer seiner Werke, schreibt dazu: "Auch Dylan Thomas selbst ist für das englische Volk heute so sehr Bild und Legende des Dichters an sich wie vielleicht ein Jahrhundert vor seiner Zeit Byron und Shelley, seither aber kein englischer Dichter". Noch heute wirbt Wales mit dem berühmten Sohn, dem "giant in the 20th century". Das 'Boathouse' von Laugharne, wo er zwischen 1949 und 1953 wohnt, ist für Touristen 'now a heritage centre - the house contains audio visual presentations, original furnishings and memorabilia, a themed bookshop, tea room, viewing platform and terrace'.
Nachdem 1933 die ersten Gedichte in Zeitschriften erschienen sind, ist dem neunzehnjährigen Thomas die Aufmerksamkeit des Literaturzirkels gewiss. Schnell gewinnt er zwei Preise des Sunday Referee. Mit finanzieller Hilfe dieser Zeitschrift kann er ein Jahr später sein Debüt veröffentlichen. Weitere Anerkennung folgt mit dem zweiten Band 25 Poems, der in einer Auflage von 1500 Stück herauskommt und mit einem Honorar von 58 Pfund belohnt wird. Er teilt nicht die kritische Weltsicht seiner schreibenden Zeitgenossen. Wie ein Sonderling steht er den Kollegen Lewis, Auden, Spender und deren politischen Stellungnahmen gegenüber. In London präsentiert er sich dagegen lieber als Raubein und Saufaus. Gerade diese Pose als 'öffentliche Person' wird später seine Popularität zementieren. Dylan Thomas profitiert von vier fruchtbaren Jahren: Zwischen 1930 und 1934 entstehen fast alle Gedichte, die in die ersten Sammlungen eingehen. Schon als Sechzehnjähriger schafft er Verse von Tragweite. The Map of Love erscheint 1939 und beinhaltet sechzehn Gedichte und sieben Kurzgeschichten. Wie auch die nachfolgende Prosa-Arbeit Portrait of the Artist as a Young Dog bringt das Buch nicht den gewünschten Durchbruch. Er ist anerkannt, aber beileibe kein namhafter Künstler. Sein Weg führt im Sommer 1940 zur BBC, wo er als Sprecher von Gedichten überrascht. Dieses Talent ist sein Faustpfand für die weitere Laufbahn. Er liest nicht nur eigene Lyrik, sondern hat die ganze Palette der britischen Meister parat. Seine Vorträge sind geprägt von Konzentration und Leidenschaft. Dylan Thomas verleiht jedem seiner Lieblingsverse die innewohnende Gewichtung - Zartheit und Härte, Helligkeit und Dunkel, die Rhythmen des Sprechens und des Atmens. Solcherart ist auch seine eigene Literatur, und er beseelt damit die Werke der anderen. Kein Neid, kein Hochmut, nur die Demut vor ergreifenden Schöpfungen und der poetischen Sprache. "Er war vielleicht der beste englische Gedichtrezitator seiner Zeit", schreibt Erich Fried, der seine "dröhnende, aber bis ins kleinste modulationsfähige Stimme" noch erlebt hat. Zu diesem Können gesellt sich eine Entertainer-Qualität, die nach einigen Gläsern noch an Wagemut gewinnt.
1946 erscheinen in London Deaths and Entrances und in New York Selected Writings, die beiden Gedichtbände sind die Torpfosten seines Ruhms. Vier Jahre später startet er zu seiner ersten amerikanischen Lese-Tournee, die mit einem Auftritt in New Yorks 'Poetry Center' vor tausend Zuhörern beginnt. In den folgenden Wochen durchquert er die Staaten von Ost nach West und liefert über dreißig Vorstellungen ab. Der Ruf des Dichters gründet auch auf den desaströsen Darbietungen in der Öffentlichkeit. Nur wenige Stunden nach der Lesung seiner kraftvollen Texte präsentiert sich Dylan Thomas als Jammerbild menschlicher Verwirrung.
Auf elf Schallplatten sind seine Lesungen festgehalten. Die Veranstalter zahlen ihm für jeden Auftritt zwischen 150 und 500 Dollar. Er verdient Tausende, kann das Geld jedoch nicht zusammenhalten. Wie immer ist er ständig abgebrannt und kaum in der Lage, seine Schulden zu bezahlen. Die Collected Poems erscheinen im November 1952 in England und wenige Monate später in Übersee: ein Lebenswerk.
Thomas ist kein moderner Dichter, nur seine Formgebung ist es. In der kurzen Selbst-Auskunft Über Dichtung spricht jemand, der ein unzeitgemäßes Bewusstsein offenbart und den man kaum im 20. Jahrhundert vermuten würde: "Kein Dichter würde intensiv der komplizierten Kunst des Dichtens nachgehen, hoffte er nicht, daß sich plötzlich der Zufall der Magie ereignen werde. Und das beste Gedicht ist jenes, dessen erarbeitete unmagische Teile an Struktur und Intensität an diese Augenblicke des magischen Zufalls am nächsten herankommen. Ein gutes Gedicht ist ein Beitrag zur Wirklichkeit. Die Welt ist nie mehr, was sie war, wenn man sie einmal um ein gutes Gedicht vermehrt hat. Ein gutes Gedicht hilft Form und Sinn des Weltalls verändern und hilft jedermanns Wissen um das eigene Ich und die Welt rundum erweitern."
Der "Zufall der Magie" - wer hätte heute noch die Geduld, darauf zu warten? Wer könnte die Ankunft des Magischen erkennen? Und wer hätte den Mumm zur Weltveränderung? Da äußert sich jemand, der um die verschütteten keltischen Wurzeln des mythischen Sprechens weiß - jenem "wilden, pfingstlichen Zungenreden", wie Robert von Ranke-Graves es nennt.
Die Gedichte von Dylan Thomas sind schwer zu enträtseln, auf engstem Raum verschmelzen die Bedeutungsebenen. Zeiten, Orte, Begebenheiten, Erfahrungen, Süchte, Traum, Wahn, Gebet tauchen herauf, berühren sich, verschwinden, um endlich wieder zu erscheinen, unterzugehen.

Und wenn das Salztuch brach
            in einem Sturm aus Gesang
Schwammen die Stimmen
            aller Ertrunkenen auf dem Wind


In seinen Versen sind alle und alles immer gegenwärtig, nichts ist vergeblich und vergangen. Immer singen die Ertrunkenen mit, tauchen auf und versinken wieder, sind unter dem großen Tuch aus Salz gegenwärtig. Nichts und niemand stirbt endgültig - bei Dylan Thomas herrscht ewige Gegenwart. Er feiert das Dasein als einzige Möglichkeit der Kreatur. Ein Sein, das mit seinen unüberbrückbaren Gegensätzen und Widersprüchen ausgehalten werden muss.

Daß alles gelöst ist
Unter den gleichgültigen Himmeln
An Unschuld und Schuld


Nur der Leib ist die Wahrheit und die Liebe der Glaube - das Evangelium des Dylan Thomas ist eine Absage an das christliche Heilsversprechen. Auf ein Jenseits sollen wir nicht hoffen. Im Hier und Heute ist die Seligkeit zu suchen, und der Dichter muss Fährtensucher und Kundschafter sein:

Wir sind da, zu
Finden die
Orte
Weg
Gänge
Labyrinth
Felder und Grab
Des endlosen Falls


Auch wenn der Geheimnisse in seinem Werk viele sind, so ist seine Melodie doch betörend und mitreißend. Gerade diese Eigenwilligkeit und Verdichtung "macht die genaue Wiedergabe in einer anderen Sprache ohne Verarmung des dichterischen Textes fast unmöglich", so Erich Fried, der jahrelang an einer gültigen Übersetzung ins Deutsche gearbeitet hat. Auch Dylan Thomas ringt lange mit seinen Schöpfungen und erstellt manchmal zwei Dutzend Fassungen einzelner Gedichte.
"Ich schreibe in einer Geschwindigkeit von zwei Zeilen pro Stunde. Ich habe Hunderte von Gedichten geschrieben, und jedes davon hat schmerzliche, hirnquälende und schweißtreibende Stunden gekostet."
In all seinem Tun ruht er fest auf dem Boden der Herkunft. Die Fundamente seiner Dichtungen könnten nicht greifbarer sein - was er in dem Essay Walisische Dichter über den 1944 verstorbenen Edward Thomas schreibt, trifft auf ihn ebenso zu:
".....er kannte tausend ländliche Dinge: die Regendiamanten auf den Grashalmen, die geisterhaft weiße Blüte der Petersilie, Maus und Zaunkönig und Rotkehlchen, die ersten Veilchen in jedem Jahr, die Misteldrossel, die Holunderbeeren, liebte die Hagebutten, die Haselnußstauden, frischgemähtes Heu, den Ruf des Kuckucks, den unberührten Tau, Kirchen, Friedhöfe, Farmen, Kuhställe, Kinder, Wildgänse, Pferde in der Sonne. Edward Thomas war, wie Walter de la Mare gesagt hat, ein treuer und einsamer Liebhaber jenes Liebenswerten, das die meisten von uns nicht lieben, und das hat ihn viel gekostet."
Lebensstationen werden ihm zu lyrischen Orten: Da ist Swansea im Süden von Wales, wo er am 27. Oktober 1914 zur Welt kommt und "wo Schulschwänzer und Strandläufer und alte Männer nach Strandgut suchten, umhertrödelten, wateten und den Schiffen nachsahen, wie sie hafenwärts zogen oder fortdampften ins Abenteuer und nach Indien, ins Wunder und nach China - in Länder, die von Apfelsinen leuchten und widerhallen von Löwengebrüll".
Das Meer ist immer in seiner Nähe, durchströmt seine Texte und spendet Klang, Bewegung, Gleichmut. Schon als Jugendlicher wandert Dylan Thomas zu der abgelegenen Landspitze der Halbinsel Gower, um dort Gedichte zu schreiben. Auch der Bauernhof 'Fern Hill' in Llangain/Carmarthenshire wird zu einem magischen Platz. Mit ihren Milchkühen und Hühnern leben dort Onkel Jim und Tante Annie, bei denen er seine Schulferien verbringt. Mehrfach bezieht er sich in seinem Werk auf diese frühen Erlebnisse - eindrucksvoll in den Versen von Fern Hill:

Als ich noch jung war und leicht
        unter den Apfelzweigen
Rund um das trällernde Haus, und so
         glücklich war wie das Gras grün
Und die Nacht überm Talgrund voll Sternen,
Ließ Schwager Zeit mich Holla
         rufen und klettern
Golden in seiner Augen Erntezeit,
Und geehrt bei den Heuwagen war ich
         der Prinz der Apfelstädte
Und einmal vor tiefer Zeit gebot ich
         den Bäumen und Blättern
Mit Maßliebchen und Gerste
Die Flüsse des unreif
         fallenden Lichtes hinunterzuziehn


Wie selbstverständlich speist sich seine poetische Sprache aus der Natur - ganz im Sinne der alten Mythendichter und Fahrensmänner. Die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert sind zwar präsent, haben aber für das menschliche Geschick nur wenig Bedeutung.

Symbole werden gewählt aus des Jahres
Langsamer Rundfahrt um seiner
        vier Zeiten Ufer;
Im Herbst lehr dreier Jahreszeiten Feuer
Und vier Vogelrufe


1938 wohnt Dylan Thomas in Laugharne, wo sich drei Flüsse in die Camarthen-Bay ergießen. Im Hause 'Sea View' geht es spartanisch zu, seine Familie lebt von der Hand in den Mund. Seit langem verfolgt er die Idee eines Kleinstadt-Porträts und findet hier den geeigneten Schauplatz. Überliefert als Vorarbeiten sind neben der Erzählung Ganz früh eines Morgens und dem Gedicht im Oktober auch die Skizze Laugharne, die schon eindrucksvoll auf das Kommende vorausweist:
"Was für ein Sinn, wenn überhaupt einen, unser Dasein in diesem zeitlosen, milden, beschwichtigenden Eiland von Stadt hat, mit seinen sieben Wirtshäusern, seinem einzigen tatsächlich besuchten Bethaus, einer Kirche, einer Fabrik, zwei Billardtischen, einem Bernhardiner (ohne Kognak), einem Polizisten, drei Flüssen, einer See, die zu Besuch kommt, einem Rolls-Royce, der Bratkartoffeln mit Fisch verkauft, einer Kanone (aus Gußeisen), einem Kanzler (aus Fleisch und Blut), einem Hafenbüttel, einem Danny Ray und einem bunten Durcheinander verschiedenster Vögel; da ist es nun einmal, und ein zweites Mal gibt es so etwas sonst nirgends."
In dieser Kulisse bewegen sich nicht nur die Einheimischen, die "wie walisische Opiumesser" in staunender Betäubung durch die Straßen wandern, der Dichter stellt auch seine Tanten und Onkels dazu, die wichtige Figuren in dem Spätwerk Unter dem Milchwald werden.
Dylan Thomas zieht 1949 ins 'Boathouse', von dem der Blick zur Mündung des Taf und übers Meer streicht. Dort gibt er dem Milchwald die entscheidende Wendung. Statt des herkömmlichen Erzählens wählt er die theatralische Form. Das Spiel für Stimmen konzentriert zum letzten Mal seine beispiellose Kunst.

"Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See."

Die Bewohner eines Seestädtchens steigen aus der Frühlingsnacht in den wachsenden Tag, aus ihren tiefen Träumen in den Alltag ihres Handwerks und Müßigganges. Rührende Zartheit verliert sich in Zoten und Possen, tiefer Ernst wechselt zu Unfug und Beschränktheit, Liebe wohnt neben Trauer und Lust. Wachen und Träumen mischen sich unablässig. Das Spiel ist ein langes Gedicht, wohl abgemessen, doch grundlos wie die See. Dylan Thomas blickt hinunter, seiner Sprache vertrauend und seiner Leutseligkeit (ein Begriff, dem man hier 'Seele' und 'Seligkeit' einlesen darf).
Im Mai 1953 ist er wieder in den USA und bereitet die Uraufführung von Under Milk Wood vor. Das Stück ist umbraust vom Jubel und wird binnen kurzem berühmt. Zurück in Laugharne, kümmert er sich um die Druck- und Hörfunk-Fassung. Seine Gesundheit ist mittlerweile völlig marode, und mit letzten Kräften reist er im Herbst erneut nach New York. Wieder sind die Milchwald-Aufführungen große Erfolge. Er bricht zusammen und stirbt am 9. November 1953.
Dylan Thomas: Solche Dichter sind außerhalb jeder Zeit, für sie gilt kein herrschender Geschmack, keine Vereinbarung, sie kennen weder Pflicht noch Belohnung, sie sind sich selbst Gesetz und genug, ihre Sprache schafft eine Welt, Wirklichkeit ist Stil und Form. Dylan Thomas: Poet.

 

Dylan Thomas auf Deutsch:

Windabgeworfenes Licht. Gedichte. Deutsch von Erich Fried u.a. 415 Seiten. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main 1985. € 12,90.

Unter dem Milchwald. Texte für Stimmen. Ausgewählte Briefe. Deutsch von Erich Fried. 578 Seiten. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main 1995. € 13,45.