Seit längerem veröffentlicht der Erker mit Freude Prosaminiaturen von Rupprecht Mayer, *1946 bei Berchtesgaden, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre Student der Sinologie in München und Taipeh und dann viele Jahre als Übersetzer für das Auswärtige Amt in Peking tätig, ehe er mit Umweg über Berlin in seine Heimat zurückgekehrt ist, nach Burghausen an der Salzach. Noch immer ist Mayer ein Autor fast ohne Buch (Aus der Welt des Dreisprungs, 2004 in einem Kleinverlag erschienen, ist vergriffen und nur als E-Book zu haben), der zwar in vielen Literaturzeitschriften veröffentlicht wurde, für dessen Texte sich jedoch kein größerer Verlag erwärmen wollte. Umso schöner, dass er nun in Ausgabe 4/2016 der von Jo Lendle und Mirko Bonné herausgegebenen Akzente zum Thema "Das Tier" mit sieben Miniaturen vertreten ist, deren erste, "Ich fuhr an einem Kalb vorbei", so geht: "Ich fuhr an einem Kalb vorbei, das spreizte die vorderen Beine und sah sich nach der Mutter um. Ich dachte gerade an farbige Kristalle, das Kalb an den Tod. Oder war es umgekehrt?"
Vor allem Vögel scheinen die Beiträger*innen der "Akzente" inspiriert zu haben (oder zeigt sich da nur ein Faible der Herausgeber für unsere gefiederten Freunde?). Jedenfalls widmet Norbert Hummelt den Mauerseglern eine stillvergnügte, melancholisch tingierte Betrachtung, bei der man spürt, wie gern er sich mit ihnen in die Lüfte schwänge. Und ein kurzer Text von Johannes Bobrowski, der im April vor hundert Jahren in Tilsit zur Welt gekommen ist, erzählt vom Käuzchen und beginnt so: "Im Sommer, abends, fliegt das Käuzchen die Straße entlang. Dann stehn wir auf und gehn ans Fenster. Wir sind hier doch in der Stadt, eine Fabrik ist in der Nähe, nicht weit die S-Bahn, aber drüben der Friedhof und dann der Schulhof, der abends still ist, und die Häuser haben kleine Gärten, in dieser Straße." Nicht wahr, Bobrowski schreibt gut - und gehört dringend (wieder) gelesen. Am Ende heißt es in diesem Text: "Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit er ist, kann man das sagen? Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zuende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben."
Auch Tristan Marquardt ist im Heft vertreten, mit dem Essay "300 Jahre Weitersingen. Die Minnesänger und der Singvogel". Das arme Tier indessen darbt im mittelalterlichen Liebeslied, darf es doch nur Inventar eines stereotyp gezeichneten locus amoenus sein, topische Staffage des vergeblichen Werbens um die Gunst der kühlen Angebeteten. Der Vogel am Katzentisch, kein schönes Schicksal. Und auch der Minnesang erscheint nicht im besten Licht. Er muss aber doch Reize haben, da Marquardt jüngst über Minnelyrik promoviert hat und im Herbst mit Jan Wagner (im Heft mit einem "Krähenhymnus" vertreten) Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen herausgeben wird, eine Anthologie, für die über sechzig deutschsprachige Gegenwartslyriker*innen übersetzend zur Feder gegriffen haben.
Die Krachkultur 18 ist ebenfalls auf die Natur gekommen. Eva Schmidt lässt in "Christina" die Erzählerin nach einer Liebesnacht mit ihrem Kerl durch einen teils verregneten Alpenvormittag ziehen, und nach einem Bad im See scheint es, als wüchsen ihm Zweige aus Armen und Händen. O selige Verwilderung! Zumal sie zu surrealem Kaffeetrinken im Kurhotel von Sils Maria führt. Es ist aber nur ein Traum, ein Transgressionstraum, der im Alltäglichen endet: "Später saßen wir in einem Dorf an der Bushaltestelle auf einer Bank. Es ging ein scharfer Wind. Ich rauchte. D. schrieb eine Karte an einen Freund."
Ganz anders geht Joseph Felix Ernst zu Werk, 2011 Preisträger des open mike und - obwohl noch Student - schon mit vielen literarischen Wassern gewaschen. Er ist ein Radikaler insofern, als seine Prosa aufs Absolute zielt, nicht von dieser Welt ist, sich an das Exosphärische in uns wendet, an unser inneres Nordlicht und an die tiefe Schwärze, die uns bisweilen erfüllt. Darum hat, was er schreibt, keine Entsprechung in der Realität, lebt nur in der Sprachwirklichkeit, ist nur in ihr präsent. Denn worum geht es im Romanauszug "Ungewiss die Stunde"? "Den Steinwetz kann man nicht auslöffeln, sagte der Brun, weil der Herrgott immer nachschenkt. Der alte Brun war der Bader und Wundarzt zwischen Riller und Moosbachl bis kurz vor Niedergottsau, die wiederum den Meinhardt zum Bader hatten." Alles klar? Das hat Atem. Setzende Kraft. Wahnsinn. Das klingt wie: "Und Gott sprach, es werde Licht."
Tatsächlich schreckt Ernst weder vor pseudogeologischen Exerzitien im Stifter-Ton zurück, noch scheut er sich, die hochkatholischen Traditionen seiner Heimat (er wuchs im Landkreis Altötting auf, beschützt vom Gnadenwirken der Schwarzen Madonna) zu plündern wie ein forscher Landsknecht: "Der Urianstreich, von dem wir hier schließlich berichten wollen, nahm seinen Anfang am Fronleichnamsfest, während das ganze Tal zur hohen Kapelle zu Niedergottsau auszog" - so rückt er sich zurecht, was er auf dem Amboss seiner Fantasie glühend schmieden will. Dann greift er in die Schatztruhe weit überjähriger Sakralbegriffe, dass kein Halten mehr ist, weder lexikalisch noch syntaktisch. Der Text explodiert gewissermaßen beim Lesen, doch seine Einzelteile steigen wie in Superzeitlupe auf, und aus zweidimensionalem Zeilendienst wird eine Strudelfahrt in vier Dimensionen, denn was explodiert, greift Raum in der Zeit. Ein Sprachbeben, ein Mahlstrom, auch dort, gerade dort, wo Ernst die seit Homer beliebten Kataloge bemüht, etwa um aufzuzählen, welche Reliquien des Erlösers durch Petri segensreiches Aufbewahrungswirken wundersam erhalten blieben, etwa "II Des Christen Heiliger Rock freistellig in Sankt Peter zu Trier unter dem Schutze des Heiligen Veit nach Petri Weisung", aber auch "XII Des Christen heilige Milchzähne freistellig in Mariä Heimsuchung zu Friedberg unter dem Schutze der Heiligen Margret nach Petri Weisung". Aber ach, ach ach - die Monstranz ist Hochwürden aus den Händen geglitten und zersprungen, und die Reliquie, ein "geringes Eisenspänlein, das einst den Herren selbst in größtem Leid und seiner schwersten Stunde am Kreuz hatte festgehalten", ist unrettbar "unter allen Blüten und dem Gras der Kässbauer-Wiesen" verschwunden. Kein Wunder, "denn kaum hatte das Kleinod mehr als eine Wimper gemessen."
Es muss ob solches Zeichens der "Gottverlassenheit des ganzen Tals" ein Sündiger her. Bald meldet sich "der Häuselmann und Hiater Zacharias" und zeigt dem Pfarrer ein "Idiotenkind" an, zwei Jahre alt, ein Kind der Sünde obendrein; man möge es schächten, "das von Gott doch so verachtete Wurm auf jüdische Weise zu Tode bringen". Oha - ein behindertes Kleinkind will Ernst zur Sühne schächten lassen? Und lässt es schächten! Ist er wie ein Paparazzo auf Skandalbilder aus? Und sucht den Tabubruch? Indem er Shoah und Euthanasie auf fatale Art kurzschließt? Es könnten solche Eskapaden - neben verlegerischem Hasenfüßlertum selbstredend - sein, die das Manuskript, dessen sprachlicher Glanz nahezu blendet, schwer vermittelbar machen. Derzeit überarbeitet der Autor den schmalen Roman. Wir dürfen noch hoffen.
Vermutlich sieht Ernst seinen Text nicht zuletzt in einer Tradition bleierner Provinzromane aus Österreich, deren deutsche Pendants Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern (1965, verfilmt 1968 von Peter Fleischmann) oder der beklemmende Experimentalfilm Aumühle (1973) von Alexeij Sagerer sind, in dem dokumentarische Sequenzen über den vom Dorfpfarrer geführten Widerstand gegen ein Behindertenheim im Landkreis Passau 1969 (der in Brandstiftung gipfelte!) gerahmt werden von statuarisch und repetitiv inszenierten Schlachtritualen an Hühnern und Gänsen, dann an Schweinen. Am Land, so könnte man sagen, geht es dumpf zu im kritischen Volksstück, das oft (auch bei Kroetz' Wildwechsel und der Verfilmung durch Fassbinder 1972) auf realen Ereignissen beruht.
Sachen mit Wœrtern ist eine Berliner Literaturzeitschrift, die aus einem Projektseminar an der FU über Kulturmagazine hervorging, in dem die Teilnehmer eigene Zeitschriften entwickeln sollten. Anneke Lubkowitz und Theresa Lienau hatten so viel Spaß daran, ihre Nullnummer auf die Beine zu stellen, dass sie weitermachten, sich drei Mitstreiterinnen an Bord holten und halbjährlich inzwischen 80-seitige Hefte in DIN A5 herausgeben, die jeweils unter einem abstrakten Thema wie Dunst, Strom, Kern, Spur oder demnächst Schnitt stehen. Versponnene mehrfarbige Illustrationen - in der Regel von Petrus Akkordeon - schmücken die in kleiner Auflage (250 Stück) erscheinenden Hefte, die für Prosa und Lyrik offen sind und zu den charmantesten Wundertüten gehören, die mir seit langem begegneten. Das liegt an Beiträgern wie Johannes Witek, Kinga Tóth, Thomas Glatz oder Tobias Roth sowie am gekonnten Nebeneinander von Betriebsgrößen wie Ron Winkler und blutjungen Debütanten, sicher aber auch daran, dass die Redakteurinnen mit großer Leidenschaft bei der Sache und zugleich gestandene Philologinnen sind, die mit Wonne und Hingabe lesen und schreiben. Dass es so etwas in dieser Reinform noch gibt, stiftet mir altgedientem Zeitschriften-Rezensenten süßen Trost, hielt ich mitunter doch die schöne Tradition kleiner, hochgemuter Gründungen in diesem Bereich für fast schon passé.
Wunderbar, dass die Redakteurinnen Menschen zusammenbringen, die sich viel zu sagen haben, so Mikael Vogel, der an einem Gedichtband über ausgestorbene Tiere sitzt (verheißungsvolle Arbeitsproben sind in letzter Zeit in einer Reihe guter Zeitschriften (z.B. in außer.dem) erschienen), und Frank Sievers, der für Judith Schalanskys Naturkunden-Reihe bei Matthes & Seitz einige Landschaftsbücher übersetzt hat, etwa Roger Deakins Logbuch eines Schwimmers. Die Zeitschrift als Salon zu führen, als Ort, an dem sich literarische Nachbarschaften auftun, die zu Austausch, Freundschaften, gemeinsamen Projekten führen, das ist es, was deren Macherinnen auszeichnet. Wer 4,50 Euro für das tolle Projekt übrig hat, bestelle bei sachenmitwoertern@mail.de gleich ein Heft oder werde gar Abonnent! |