"Seestück" von Ulrike Almut Sandig handelt zunächst vom Meer in uns, vom Wassergehalt des Körpers. "Wenn ich nachts aufwachte", so die schwangere Erzählerin in Edit 69, "weil meine Tochter versuchte, die Position zu wechseln, kam ich mir wie ein kleines, überhitztes Binnenmeer vor, das von einem Blauwal durchpflügt wurde." Kunstvoll führt Sandig in diese Erzählung vom Wasser biografische Momente ein: die Geburt der Tochter, den Tod der Großmutter, den schulischen Schwimmunterricht. Dann aber weitet sich das Bild, anfangs Richtung Antike: "Homers Mittelmeer hatte die Farbe von dunklem Wein." Und Homer mit seiner dunklen Farbpalette hat von der Irrfahrt des Odysseus übers Mittelmeer erzählt. Grund genug, nach dem Wassergehalt des Körpers von Ursula von der Leyen zu fragen, die gerade eine Fregatte der Bundesmarine in Catania besucht, die "die kleinen hölzernen Flüchtlingsboote aufgreifen, ihre Insassen medizinisch erstversorgen und gleichzeitig Informationen über Routen und Vorgehensweisen der Schleuser sammeln" soll. Dann geht der autobiografisch tingierte Blick der Erzählerin erneut zurück zur Kindheit im Pfarrhaus und zur Meeresinitiation, die für die 1979 im Kreis Meißen Geborene an der Ostsee stattfand: "Manche behaupten, die Ostsee sei gar kein richtiges Meer. Kein richtiges Salzwasser, keine richtige Flut und keine richtige Ebbe, keine Sandwürmer im Schlick, nicht einmal Schlick. Aber es ist das erste Meer, das mein Langzeitgedächtnis gespeichert hat. Mein Prototyp von Meer ist ein Binnenmeer." Und doch: "Die Farbe Blau ist das, was ich sehe, wenn ich nicht genau hinschaue. Sie bestimmt die Oberflächen von Facebook, der Weltkarte auf Google Maps, der Mediathek der ARD, selbst die meines Schreibprogramms. Die Farbe Blau ist das Seestück in mir, das aus Sprache besteht. Es gibt sie nur, solange ich mir keinen genauen Begriff von den Dingen mache, die doch deutlich sichtbar sind. Sie ist das, was mir die Sicht versperrt, während ich die Ertrinkenden suche." Zuletzt landet Sandig in der Leipziger Buchhandlung Wörtersee, deren Eigentümerin ein Seestück ohne Fregatte besitzt: "Am Horizont prescht Regen schräg auf die Wellenkämme. Das Wasser unter dem Spitzenmuster aus Gischt weiter vorn, es ist von unbestimmter Farbe, von dunklem Wein, von Flaschenglas und tiefer Nacht, am wenigsten ist es blau."
Dass die Gegenwartsliteratur sich den Flüchtlingen auf poetische und zugleich engagierte Weise nähern, das Ästhetische mit dem Politischen also überzeugend verknüpfen kann, stellt auch Esther Kinsky in ihrer Antrittsvorlesung zur Thomas-Kling-Poetikdozentur unter Beweis, die in Schreibheft 87 erschien. Die Autorin und Übersetzerin beginnt autobiografisch: "Fremdsprachen sind Teil meines Lebens gewesen, solange ich denken kann. Das leise Nachahmen von Lauten und Lautfolgen, von denen ich nicht wusste, was sie bezeichneten, war die Einschlafübung meiner Kindheit. Die fremden Namen waren wie andere Ebenen, auf denen die Dinge existierten, Ebenen, in deren Licht die Dinge vielleicht einen anderen Zweck hatten, sich anders verhielten. Mein deutscher Teller konnte unter seinem französischen Namen womöglich die Gesetze der Schwerkraft überwinden und wurde unter seinem italienischen Namen vielleicht gar ein Perseus'scher Diskus, den allein das Schicksal lenkte. Ein anderer Name verleiht den Dingen eine andere Wirkung und eine andere Art zu sein. Das, von dem ich andere Namen kenne, wird nie mehr auf nur ein Bild, nur einen Klang, nur ein Netz der Assoziationen festgelegt sein. Als verwandelnde Fremdsprachigkeit ähnlicher Art erfuhr ich auch die Gedichte, die ich als Jugendliche las. Die Gedichtsprache von Trakl und Lasker-Schüler, von Bachmann, Eich oder Celan schuf ihre Gültigkeit in ihrem eigenen Raum. Diese Fremdheit, diese Eigentümlichkeit mit ihrer Abgelegenheit vom Verständigungszweck war eine ähnliche Offenbarung wie die Lautwelten der Fremdsprachen der Kindheit." Und jede Gedichtübertragung führt zwar zur Verkürzung der inneren Bezüge, die das Gedicht in der Ausgangssprache besitzt, kann aber in der Zielsprache ungeahnte neue Bezüge stiften. Auf diese Weise kann sie wie ein "Irrgast" sein, wie ein Tier oder eine Pflanze, die in der Fremde Fuß gefasst hat, wie etwa die Nebelkrähe, die nur östlich der Elbe lebt (während weiter westlich die Rabenkrähe sich tummelt), von der aber - wie der Rezensent hat läuten hören - bei Quedlinburg eine Population gesichtet worden sein soll. Das Gedicht als Irrgast würde demnach "in der Sprache, in die es übersetzt wurde, ein Eigenleben führen und möglicherweise sogar mit den 'Originalen' der Sprache, in die es übersetzt ist, in eine Zwiesprache treten, als Version Teil dieser Sprache der Dichtung und Bezugspunkt für künftige Visionen werden", beispielsweise in Hölderlins Übersetzung von Pindars Oden. Doch Esther Kinsky hat ein ganz anderes Beispiel in petto, einen Text des fast vergessenen Georg Britting, dessen schriftstellerische Tätigkeit in der NS-Zeit wenig ruhmvoll war. Auf sein Gedicht "Der Nussbaum" ist Kinsky im "übersetzten Bericht eines iranischen Flüchtlings" gestoßen, "eines jungen Journalisten, der über seine Erfahrungen im Iran und dann als inhaftierter Flüchtling in der Türkei schrieb. Er zitierte diese [Brittings] Zeilen, weil sie einer bestimmten Formulierung wegen - nämlich der Bitterkeit im Wein - zu einer Art Schibboleth mit politischem Beiklang unter Schriftstellern im Iran wurden. Das Gedicht findet sich in einer Anfang der sechziger Jahre in Teheran erschienenen Anthologie deutscher Lyrik." Und in dieser kanonischen Sammlung deutscher Gedichte auf Farsi sind Brittings Verse zu einem "Irrgast par excellence geworden, eingewandert und aufgenommen in ein kollektives literarisches Bewusstsein, ein Text, der seinen eigenen Kontext geschaffen hat, nach Jahrzehnten vertraut, eingegangen in die poetische Sprache, ohne das Fremdlingshafte verloren zu haben." Mit diesen Ausführungen zum Irrgast positioniert Esther Kinsky sich mit den Mitteln der Ästhetik nicht zuletzt zu der Frage, wie wir uns zu den Fremden verhalten sollen, die in unser Land gekommen sind.
Zu erleben, wie Männer sich historisch werden, ist mitunter rührend, mitunter irritierend. poet 21 bietet dazu doppelt Gelegenheit anhand zweier Beiträge von Michael Buselmeier und Michael Braun: Buselmeier kommentiert ein ihm gewidmetes Gedicht von Uwe Kolbe, das ihn als Stadtführer durch Heidelberg verewigt, und Primär- wie Sekundärtext haben etwas wunderbar Spätsommerliches, das auf den Lidern flimmert und in die Nase steigt. Braun hingegen erstaunt mit der Mitteilung, er habe seinen Kommentar zu dem Gedicht "'Ursprüngliche Akkumulation'" von Elke Erb, das er schon 1997 oder 98 im Freitag besprochen habe, "rekonstruier[t]", weil der damals erschienene Text "verloren gegangen und seither verschollen" sei. Wie mag es um unsere Archive bestellt sein, wenn ein vor zwanzig Jahren in einer renommierten Zeitung veröffentlichter Beitrag als "verschollen" gelten darf? Hat Braun seinen Artikel vielleicht nur verlegt oder versehentlich gelöscht? Die Staatsbibliothek Berlin jedenfalls besitzt den Freitag laut Katalog komplett seit dem 9. November 1990 und dürfte damit nicht alleine stehen. Der Rezensent staunt nicht zuletzt, weil er jüngst Die Taube auf dem Dach gesehen hat, einen tief berührenden, verspielten, liebevollen DEFA-Film von Iris Gusner von 1973, der in der DDR nicht freigegeben und noch im Studio vernichtet wurde und von dem der Kameramann Roland Gräf 1989/90 nur noch eine stark in Mitleidenschaft gezogene Arbeitskopie fand, die lediglich als Schwarzweiß-Fassung gerettet werden konnte: Die Taube auf dem Dach war wirklich "verschollen" und tauchte mit Glück wieder auf, fast so schön wie Jürgen Böttchers Jahrgang 45 und ein weibliches Pendant zur Spur der Steine.
"Ding Ding Ding" ist Thema von Kultur & Gespenster 17. Detlev Matzke, Tierpräparator im Naturkundemuseum Berlin, beschreibt darin im Gespräch die Verwandlung geliebter Tiere in dermoplastische Ausstellungsstücke. Ob Jagdtrophäen oder millionenfach geliebte Zootiere wie Gorilla Bobby oder Eisbär Knut - das Präparieren ist eine im Wortsinn vielschichtige Kunst und Moden unterworfen: Zu Kaisers Zeiten sollte der Löwe fauchen, zu Zeiten Görings sollte der Hirsch eine möglichst breite Brust haben und sich kräftig strecken, und heute geht das Stilideal dahin, Tiere in gespannter Ruhe zu zeigen. Neben bemerkenswerten Dermoplastiken präsentiert das Museum auch große Insektenmodelle von Alfred Keller aus den 30ern, 40ern und 50ern, an denen er zum Teil jahrelang gearbeitet hat. Dazu die eindrucksvolle Nass-Sammlung und der Archaeopteryx, die Nofretete unter den Fossilien: ein tolles Museum, in dem man sich tagelang aufhalten kann. |