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Zeitschriftenschau 55
Andreas Heckmann
 

Das im Herbst erschienene Doppelheft 43/44 der Leipziger EDIT enthält das letzte Gedicht des Anfang Juni 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig: "als sie noch jung waren die winde / war ich verworren / und blind und taub / für ihren gesang / jetzt wenn ich das land durchstreife / und nicht mehr weiß / wo ich bin / und nichts mehr wissen will / in meinem herzen / denk ich an die winde / die alt geworden sind". Jürgen Hosemann, Hilbigs Lektor beim S. Fischer Verlag, erinnert sich in der atmosphärischen, sehr anrührenden Beschreibung "Ort der Gewitter" an seinen letzten Besuch bei dem Todkranken im südlich von Ahrenshoop an der Ostsee gelegenen Wustrow.
Daneben enthält das Heft einige beglückend gelungene Gedichte von Martina Hefter, zum Beispiel "nachtschicht, araltankstelle": "man sieht zuerst die weißen turnschuh- / kappen wenn sie auf den mopeds kommen // vom schlachthaus, der disko mit hellgrünen kacheln / - das gebaren der rinder die große // klarheit erlangt haben mögen / bevor der bolzen schnappt - // wir schauen tankenden zu / ihrer bewegung direkt aus der hüfte. // blaues licht über den tannen / die landstraße ist ein schmales gebiet // wir leben nebenan in dem land / wo tankstellen über wälder wachen."
Darüber hinaus präsentiert die Ausgabe einige handgeschriebene Manuskriptseiten von Uwe Tellkamps neuem Roman Der Turm und die entsprechenden, vom Autor korrigierten Fahnen mit dem Anfang des "Die Karbidinsel" überschriebenen 59. Kapitels, die fast wie eine Hommage an Hilbigs Heizer-Texte anmuten.
In Heft 45 hat EDIT einmal mehr seine oft glückliche Hand bei der Wahl von Illustratoren bewiesen. Während die Texte mitunter wie eher maue Institutsprosa zu einem inoffiziellen Oberthema namens "Väter" wirken, ist es Jan Kuhlbrodt und Almut Sandig, die die Redaktion von Patrick Hutsch übernommen haben, gelungen, mit dem neuseeländischen Fotografen Bruce Connew (*1949) einen Meister der dokumentarischen Schwarzweiß-Fotografie als Beiträger zu gewinnen. Seine Fotos, die auf den Fidschi-Inseln entstanden sind und den Alltag indischer Immigranten zeigen, die dort seit 1879 im Zuckerrohranbau arbeiten, sind voller Poesie und Tiefenschärfe und lohnen schon allein die Anschaffung des neuen Hefts, lassen ihr literarisches Umfeld freilich oft beunruhigend verblassen, was die Schriftsteller als Ansporn und Herausforderung begreifen sollten.

Der im A3-Format erscheinende Sterz aus Graz feiert seine hundertste Ausgabe mit einem Heft zum Thema "Höhepunkte" und greift dazu auf Highlights aus dreißig Jahren Sterz zurück. Meist ein oder zwei Beiträge pro Ausgabe werden - teils gekürzt - wieder vorgestellt, und man begegnet Prosa, Lyrik und Essays von so illustren Autoren wie Peter Turrini, Norbert Elias, Hans Mommsen, Alois Hotschnig, Vilèm Flusser, Robert Menasse, Jürgen Becker und vielen, vielen anderen. Frappierend die Spannweite der Beiträger und Beiträge - und hinreißend die Gestaltung des Heftes, die jedem Bibliophilen das Herz aufgehen lassen muss: Die obere Hälfte jeder Seite ist einer im besten Sinne typo-grafischen Schwarzweiß-Gestaltung überlassen, die mal dramatische, mal kühle Akzente setzt und der textlichen Vielfalt mit sparsamen, überaus formbewusst gehandhabten Mitteln einen Resonanzraum aufsetzt, dessen kraftvolle Wirkung mich an ein gläubigen Auges angeschautes Firmament denken lässt, also vom Zauber, ja der Magie der Buchstaben kündet. Wo andere Magazine mit sündteurem Vierfarbdruck auf Hochglanzpapier prunken, setzt der Sterz auf Gestaltungsmittel der klassischen Moderne.

Die Kölner Zeitschrift sprachgebunden hat ihre dritte Ausgabe dem Übersetzen, pardon: dem "über | setzen" gewidmet, während Ausgabe vier ein "dossier: hitze" enthält. Dass Übersetzer an sich und erst recht Lyrikübersetzer es bitter schwer haben und in tragisch-vergrübeltem Ringen nur unvollkommene Annäherungen ans Original zuwege bringen, ist ein Gemeinplatz unter literarisch Gebildeten. Dass Lyrikübersetzungen gegenwärtig hochgejazzt werden, kann den daher kaum glücklich stimmen, der darin Ansätze zu einem literarischen Bühnenweihfestspiel zu sehen meint und aller elitären Einfühlsamkeit zum Trotz den Eindruck nicht verliert, so manchen frisch gebackenen Absolventen eines Literaturinstituts oder einer höheren Schreibwerkstatt treibe bei der apart skrupulösen Ausstellung seines Übersetzerleids vor allem der Ehrgeiz, mit der ersten Liga der Publikumsverlage ins zwar nicht lukrative, aber mittelfristig vielleicht auskömmliche Übersetzergeschäft zu kommen. Insofern liegt ein leichter Hautgout über der ersten, "dichter | übersetzen | dichter" betitelten Hälfte des Übersetzungshefts. Vielleicht bringt es doch mehr, den Ball - wie seit Jahren bei EDIT wohltuend praktiziert - etwas flacher zu halten.
Eher altbacken kommt dagegen die Kritische Ausgabe, eine in Bonn erscheinende Zeitschrift für Germanistik und Literatur, daher, doch einige der sechs Schriftsteller-Interviews, die die Sommerausgabe 2007 versammelt, lohnen die Lektüre allemal. Neben Gesprächen mit John von Düffel, Helmut Krausser und Christoph Hein ist vor allem das Gespräch mit der glänzend aufgelegten Kathrin Röggla zu nennen, die ihre Beschäftigung mit Dokumentarliteratur am Beispiel ihres 2006 erschienenen Buchs "wir schlafen nicht" erläutert, bei dem es um das Selbstverständnis von Unternehmens-Beratern geht, einer Berufsgruppe, die Röggla interviewt und deren Antworten sie zu sechs Charakteren montiert hat - eine Montage, die als Buch, aber auch als Hörspiel und Theaterstück herausgekommen ist.
Jedes Schriftstellergespräch ist von eher germanistisch geprägten Essays, aber auch von Arbeiten der Autoren begleitet, und gerade bei Kathrin Röggla hat die Kritische Ausgabe erneut bestens gewählt, indem sie sich für den Wiederabdruck ihres poetologisch wichtigen Essays "der akustische fichte" (erstmals in der Neuen Rundschau 4/2001) entschieden hat, einem Text, der sich mit Tondokumenten von Hubert Fichte - von der Palette-Lesung im "Star Club" 1966 über die "St. Pauli Interviews" (1969) bis zu Gesprächs-Mitschnitten Ende der siebziger Jahre - beschäftigt und aus dem deutlich wird, wie viele Anregungen Röggla dem von ihr so geschätzten Fichte verdankt, dessen teils brillante "Hörwerke 1966-86: Features, Lesungen, Reiseberichte, Hörspiele" 2006 bei Zweitausendeins erschienen sind.

Die Bochumer Zeitschrift Macondo erfüllt mit ihren Themenheften Babel (Dez. 2006) und Haare (Juni 2007) die im Untertitel annoncierte Verheißung "Die Lust am Lesen" vollauf. So findet sich in der Rubrik "Herzensbuch" ein kluges Bekenntnis zu Jasper Fforde und seinen Romanen um die Literaturdetektivin Thursday Next, und Ingo Schulze erzählt dort, welche Signalwirkung Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" Anfang der achtziger Jahre auf ihn und befreundete DDR-Intellektuelle gehabt hat, beschreibt angenehm knapp, wie er sich in den Wendejahren mit der Herausgabe einer Zeitung verzettelte, und berichtet, wie die Wiederbegegnung mit Weiss' essayistischem Roman ihm vermittelt hat, was dem Westen seit der Wende abhanden gekommen ist: "Mein Problem war und ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens, eines Westens mit menschlichem Antlitz."
Die Prosa-Miniaturen "Auf Reisen" der sächsischen Autorin Waltraud Bondiek versammeln eine Reihe kurzer, lesbisch tingierter Begegnungen, die sich in Paris, Kyoto, Braunschweig und anderenorts zugetragen haben sollen. "In den Pyrenäen hüte ich Schafe und Ziegen mit der rothaarigen Pilar", lautet der viel versprechende Anfang eines dieser Texte. Weniger verspielt und durchaus explizit, dabei aber in einer zärtlichen, sensiblen, nie ins Nassforsche gleitenden Sprache beschreibt Christian Baier, Chefdramaturg des Theaters Dortmund, in seiner Erzählung "Urknallfröschin" die Begegnung des Ich-Erzählers mit einer Sex-Chat-Bekanntschaft dieses Decknamens, wobei der so flüchtige wie liebevolle Kontakt im Stundenhotel im Nachhinein eine tragische Wendung bekommt.
Macondo besticht freilich auch durch ein abwechslungsreiches, nie überambitioniertes Layout und exzellente Schwarzweiß-Fotografien. Genannt seien hier nur die Arbeiten der Engländerin Imelda Culleton, die inszenierte Straßenmarkierungen abbilden, also Street Art eigener Art darstellen; die "Judges" des Südafrikaners Pieter Hugo, die schwarzafrikanische Richter und Richterinnen in ihren schwarzen Roben vor schwarzem Hintergrund präsentieren, sodass der blütenweiße Kragen und die graue britische Perücke grell hervorstechen; schließlich die ausgesprochen starken, mal explizit, mal eher romantisch gewendeten erotischen Fotografien des Frankfurter Fotografen Norbert Guthier.

Die Hefte 18 und 19 der in Hildesheim erscheinenden Bella triste haben eine sehr viel klassischere Anmutung, und dort werden ja auch gern ernsthafte literarische, zumal lyrische Debatten geführt. Sehr lesenswert ist "Hof, alternativ", eine Reihe von Prosa-Miniaturen von Jan Böttcher, dem Verfasser der schönen Erzählung "Lina oder: Das kalte Moor" und Texter und Sänger der charmanten Berliner Band "Herr Nilsson". "Hof, alternativ" ist eine Abfolge von Beobachtungs- und Erinnerungssplittern eines Mannes, der nach Renovierungsarbeiten als Letzter auf einem Bauernhof zurückgeblieben ist, mit melancholischem Blick den Stand der Dinge protokolliert und dabei implizit seine Ratlosigkeit dem Leben gegenüber zur Sprache bringt. Eine der achtunddreißig Miniaturen etwa lautet: "Vieles hast du gegessen, was man dir hinterlassen hat. Jetzt sitzt du da und hast Mettwurst zwischen den Zähnen, und du erinnerst dich an den Tag, an dem der Abfluss im Bad verstopft war, der Waschbeckenabfluss. Du hast den Werkzeugkoffer hervorgeholt und das kleine runde Sieb herausgeschraubt, du hast das Rohr ausgebaut und es draußen mit einem Ast [statt: Holzast] gereinigt, der unter der Linde lag." Auch der Text "Ausgang" von Katrin Zimmermann überzeugt sprachlich wie inhaltlich durch seine Evokation einer unbestimmt schwebenden ländlichen Sommerschwermut.
In Heft 19 findet sich als Nachtrag zum siebzehnten, der deutschsprachigen Gegenwartslyrik gewidmeten Sonderheft eine Reihe von Essays zur Situation der Dichtung, von denen zwei Beiträge Erwähnung verdienen: der sozialkritische Text "Risikogesellschaften" von Enno Stahl, der gegen die artifizielle Beliebigkeit eines Großteils der neuen deutschen Lyrikwelle polemisiert und eine kluge Lanze für die kritischen Gedichte von Tom Schulz, Björn Kuhligk, Gerald Fiebig, HEL und anderen bricht, sowie Gerhard Falkners mitunter größenwahnsinnig anmutender Rundschlag "Das Gedicht und sein Double", der so viele herrliche, ja tödliche Bosheiten enthält, dass die Lektüre eine Wonne ist - und das, obwohl der Verfasser immerfort betont, er wolle an sich halten, um sich keine weiteren Feinde zu machen. Mehr derart geschliffene Polemiken bitte!

Das im Dezember erschienene Heft 184 von Sprache im technischen Zeitalter dokumentiert die Vorträge, die bei der Feier zum zehnjährigen Jubiläum des Deutschen Übersetzerfonds und beim anschließenden Symposion "Übersetzungskultur - was sie prägt, was ihr fehlt" im September 2007 von Umberto Eco, Sibylle Lewitscharoff, Denis Scheck und anderen gehalten wurden. Auch stellt Helmut Frielinghaus einen Ausschnitt seiner mit Susanne Höbel erstellten Neuübersetzung von William Faulkners "Licht im August" vor.

Die der Literatur der alemannischsprachigen Gebiete verschriebene Karlsruher allmende hat in Ausgabe 79 vom Juli 2007 eine Rede von Peter Härtling auf den Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Verleger Rainer Maria Gerhardt (1927-54) veröffentlicht, der in seiner 1949-52 herausgegebenen Schriftenreihe "fragmente" Übersetzungen von Ezra Pound, Charles Olson und Robert Creeley und moderne deutsche Lyrik veröffentlichte und sich mit siebenundzwanzig Jahren umgebracht hat. Anlass der Rede war die Präsentation des Bandes "Rainer Maria Gerhardt: Umkreisung. Das Gesamtwerk" in der Akademie der Künste Berlin im Februar 2007.

Im LP-Cover-Format und typografisch fast so schön wie das Jubiläumsheft des Sterz kommt die achte Ausgabe der Leipziger Zeitschrift plumbum (Sommer 2007) daher, die im Untertitel "texte in blei auf papier" ankündigt. Auch diese Zeitschrift würde die Sammlung jedes Bibliophilen schmücken, doch die Lektüre des 24-seitigen Heftes ist nicht immer anregend. Zwar können einzelne Beiträge - wie die Gedichte von Hans Georg Bulla oder Anja Kampmanns Prosaminiaturen "Fehlfarben" - überzeugen, doch gerade bei so ambitioniert gemachten Zeitschriften wirkt der gelegentliche Mangel an literarischer Substanz nur umso befremdlicher, scheint doch die Form allzu klar über den Inhalt zu triumphieren.

Martin Brinkmann und Fabian Reimann haben in der Bremer Krachkultur einmal mehr welthaltige und ungeschminkte Texte versammelt. Ein wahrer Coup ist ihnen dabei mit der Erstveröffentlichung eines Fragments von Heimito von Doderer gelungen, der "Chronique Scandaleuse oder René und die dicken Damen", einem achtzehnseitigen Text, der genau von dem handelt, was die Überschrift ankündigt, und als schwüler Nukleus des zweibändigen, 1.345 eng bedruckte Seiten langen Spätwerks "Die Dämonen" gelten darf, bei dem der Drang zum Vollweib freilich weitgehend sublimiert und nur einer von vielen Fäden ist. Zu lesen, wie der Schwerenöter René - noch annähernd jugendfrisch und im Schutz einer nicht zur Veröffentlichung gedachten Skizze - den Damen der Wiener Gesellschaft auf den drallen Leib rücken und was er sich dabei für Gedanken machen darf, ist die Anschaffung der 2007 erschienenen Ausgabe 11 allemal wert. Doch auch die Erzählung "Blue Mussels" von Wolfgang Schömel, in der es auf einer Urlaubsreise nach Kanada zu Eifersuchtsszenen und Streitereien kommt, und ein Ausschnitt aus dem Roman "Weiter" von Xaver Bayer - eine sehr österreichisch gefärbte Etüde des Sehens - lohnen die Lektüre. Und der in Wuppertal geborene taz-Autor Martin Krumbholz hat mit "Februar" eine entspannte WG-Geschichte mit dezentem Liebesleid beigesteuert, der die Ausweitung auf alle Monate des Jahreskreises, die Ummodelung zum Roman und ein Erfolg wie Detlef Kuhlbrodts "Morgens leicht, später laut" nur zu wünschen ist. Ein Satz wie: "Da Mark regelmäßig für Charlotte einkaufte und kochte, schien er ihr das Abwaschen überlassen zu wollen, aber sie ging auf diesen Deal nicht ein", reißt wie nebenher einen Abgrund auf, und dieses Understatement hat - gerade weil es ins Herz trifft - etwas sehr Beglückendes oder vielleicht auch Tröstendes.

 
  • EDIT Nr. 43/44 (Herbst 2007) / Nr. 45 (Frühjahr 2008). € 5,-
  • Sterz Nr. 100: Höhepunkte. € 8,60
  • sprachgebunden Nr. 3 (2007): über | setzen / Nr. 4 (2007): dossier: hitze. € 9,- / € 7,-
  • Kritische Ausgabe Nr. 11: Schriftstellerinterviews (Sommer 2007). € 4,50
  • Macondo Nr. 16: Babel (Dezember 2006) / Nr. 17: Haare (Juni 2007). € 7,50
  • BELLA triste Nr. 18 (Sommer 2007) / Nr. 19 (Herbst 2007). € 5,- / 8,-
  • Sprache im technischen Zeitalter Nr. 184 (Dez. 2007). € 12,-
  • Allmende Nr. 79 (Juli 2007). € 12,-
  • plumbum Nr. 8 (Sommer 2007). € 8,-
  • Krachkultur Nr. 11 (2007). € 10,-