Das im Herbst erschienene Doppelheft 43/44 der
Leipziger EDIT enthält das letzte
Gedicht des Anfang Juni 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig: "als
sie noch jung waren die winde / war ich verworren / und blind
und taub / für ihren gesang / jetzt wenn ich das land durchstreife
/ und nicht mehr weiß / wo ich bin / und nichts mehr wissen
will / in meinem herzen / denk ich an die winde / die alt geworden
sind". Jürgen Hosemann, Hilbigs Lektor beim S. Fischer
Verlag, erinnert sich in der atmosphärischen, sehr anrührenden
Beschreibung "Ort der Gewitter" an seinen letzten Besuch
bei dem Todkranken im südlich von Ahrenshoop an der Ostsee
gelegenen Wustrow.
Daneben enthält das Heft einige beglückend gelungene
Gedichte von Martina Hefter, zum Beispiel "nachtschicht,
araltankstelle": "man sieht zuerst die weißen
turnschuh- / kappen wenn sie auf den mopeds kommen // vom schlachthaus,
der disko mit hellgrünen kacheln / - das gebaren der rinder
die große // klarheit erlangt haben mögen / bevor der
bolzen schnappt - // wir schauen tankenden zu / ihrer bewegung
direkt aus der hüfte. // blaues licht über den tannen
/ die landstraße ist ein schmales gebiet // wir leben nebenan
in dem land / wo tankstellen über wälder wachen."
Darüber hinaus präsentiert die Ausgabe einige handgeschriebene
Manuskriptseiten von Uwe Tellkamps neuem Roman Der Turm und
die entsprechenden, vom Autor korrigierten Fahnen mit dem Anfang
des "Die Karbidinsel" überschriebenen 59. Kapitels,
die fast wie eine Hommage an Hilbigs Heizer-Texte anmuten.
In Heft 45 hat EDIT einmal mehr seine oft glückliche Hand
bei der Wahl von Illustratoren bewiesen. Während die Texte
mitunter wie eher maue Institutsprosa zu einem inoffiziellen Oberthema
namens "Väter" wirken, ist es Jan Kuhlbrodt und
Almut Sandig, die die Redaktion von Patrick Hutsch übernommen
haben, gelungen, mit dem neuseeländischen Fotografen Bruce
Connew (*1949) einen Meister der dokumentarischen Schwarzweiß-Fotografie
als Beiträger zu gewinnen. Seine Fotos, die auf den Fidschi-Inseln
entstanden sind und den Alltag indischer Immigranten zeigen, die
dort seit 1879 im Zuckerrohranbau arbeiten, sind voller Poesie
und Tiefenschärfe und lohnen schon allein die Anschaffung
des neuen Hefts, lassen ihr literarisches Umfeld freilich oft
beunruhigend verblassen, was die Schriftsteller als Ansporn und
Herausforderung begreifen sollten.
Der im A3-Format erscheinende Sterz
aus Graz feiert seine hundertste Ausgabe mit einem Heft zum Thema
"Höhepunkte" und greift dazu auf Highlights aus
dreißig Jahren Sterz zurück. Meist ein oder zwei Beiträge
pro Ausgabe werden - teils gekürzt - wieder vorgestellt,
und man begegnet Prosa, Lyrik und Essays von so illustren Autoren
wie Peter Turrini, Norbert Elias, Hans Mommsen, Alois Hotschnig,
Vilèm Flusser, Robert Menasse, Jürgen Becker und vielen,
vielen anderen. Frappierend die Spannweite der Beiträger
und Beiträge - und hinreißend die Gestaltung des Heftes,
die jedem Bibliophilen das Herz aufgehen lassen muss: Die obere
Hälfte jeder Seite ist einer im besten Sinne typo-grafischen
Schwarzweiß-Gestaltung überlassen, die mal dramatische,
mal kühle Akzente setzt und der textlichen Vielfalt mit sparsamen,
überaus formbewusst gehandhabten Mitteln einen Resonanzraum
aufsetzt, dessen kraftvolle Wirkung mich an ein gläubigen
Auges angeschautes Firmament denken lässt, also vom Zauber,
ja der Magie der Buchstaben kündet. Wo andere Magazine mit
sündteurem Vierfarbdruck auf Hochglanzpapier prunken, setzt
der Sterz auf Gestaltungsmittel der klassischen Moderne.
Die Kölner Zeitschrift sprachgebunden
hat ihre dritte Ausgabe dem Übersetzen, pardon: dem "über
| setzen" gewidmet, während Ausgabe vier ein "dossier:
hitze" enthält. Dass Übersetzer an sich und erst
recht Lyrikübersetzer es bitter schwer haben und in tragisch-vergrübeltem
Ringen nur unvollkommene Annäherungen ans Original zuwege
bringen, ist ein Gemeinplatz unter literarisch Gebildeten. Dass
Lyrikübersetzungen gegenwärtig hochgejazzt werden, kann
den daher kaum glücklich stimmen, der darin Ansätze
zu einem literarischen Bühnenweihfestspiel zu sehen meint
und aller elitären Einfühlsamkeit zum Trotz den Eindruck
nicht verliert, so manchen frisch gebackenen Absolventen eines
Literaturinstituts oder einer höheren Schreibwerkstatt treibe
bei der apart skrupulösen Ausstellung seines Übersetzerleids
vor allem der Ehrgeiz, mit der ersten Liga der Publikumsverlage
ins zwar nicht lukrative, aber mittelfristig vielleicht auskömmliche
Übersetzergeschäft zu kommen. Insofern liegt ein leichter
Hautgout über der ersten, "dichter | übersetzen
| dichter" betitelten Hälfte des Übersetzungshefts.
Vielleicht bringt es doch mehr, den Ball - wie seit Jahren bei
EDIT wohltuend praktiziert - etwas flacher zu halten.
Eher altbacken kommt dagegen die Kritische
Ausgabe, eine in Bonn erscheinende Zeitschrift für
Germanistik und Literatur, daher, doch einige der sechs Schriftsteller-Interviews,
die die Sommerausgabe 2007 versammelt, lohnen die Lektüre
allemal. Neben Gesprächen mit John von Düffel, Helmut
Krausser und Christoph Hein ist vor allem das Gespräch mit
der glänzend aufgelegten Kathrin Röggla zu nennen, die
ihre Beschäftigung mit Dokumentarliteratur am Beispiel ihres
2006 erschienenen Buchs "wir schlafen nicht" erläutert,
bei dem es um das Selbstverständnis von Unternehmens-Beratern
geht, einer Berufsgruppe, die Röggla interviewt und deren
Antworten sie zu sechs Charakteren montiert hat - eine Montage,
die als Buch, aber auch als Hörspiel und Theaterstück
herausgekommen ist.
Jedes Schriftstellergespräch ist von eher germanistisch geprägten
Essays, aber auch von Arbeiten der Autoren begleitet, und gerade
bei Kathrin Röggla hat die Kritische Ausgabe erneut
bestens gewählt, indem sie sich für den Wiederabdruck
ihres poetologisch wichtigen Essays "der akustische fichte"
(erstmals in der Neuen Rundschau 4/2001) entschieden hat, einem
Text, der sich mit Tondokumenten von Hubert Fichte - von der Palette-Lesung
im "Star Club" 1966 über die "St. Pauli Interviews"
(1969) bis zu Gesprächs-Mitschnitten Ende der siebziger Jahre
- beschäftigt und aus dem deutlich wird, wie viele Anregungen
Röggla dem von ihr so geschätzten Fichte verdankt, dessen
teils brillante "Hörwerke 1966-86: Features, Lesungen,
Reiseberichte, Hörspiele" 2006 bei Zweitausendeins erschienen
sind.
Die Bochumer Zeitschrift Macondo erfüllt
mit ihren Themenheften Babel (Dez. 2006) und Haare
(Juni 2007) die im Untertitel annoncierte Verheißung "Die
Lust am Lesen" vollauf. So findet sich in der Rubrik "Herzensbuch"
ein kluges Bekenntnis zu Jasper Fforde und seinen Romanen um die
Literaturdetektivin Thursday Next, und Ingo Schulze erzählt
dort, welche Signalwirkung Peter Weiss' "Ästhetik des
Widerstands" Anfang der achtziger Jahre auf ihn und befreundete
DDR-Intellektuelle gehabt hat, beschreibt angenehm knapp, wie
er sich in den Wendejahren mit der Herausgabe einer Zeitung verzettelte,
und berichtet, wie die Wiederbegegnung mit Weiss' essayistischem
Roman ihm vermittelt hat, was dem Westen seit der Wende abhanden
gekommen ist: "Mein Problem war und ist nicht das Verschwinden
des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens, eines Westens
mit menschlichem Antlitz."
Die Prosa-Miniaturen "Auf Reisen" der sächsischen
Autorin Waltraud Bondiek versammeln eine Reihe kurzer, lesbisch
tingierter Begegnungen, die sich in Paris, Kyoto, Braunschweig
und anderenorts zugetragen haben sollen. "In den Pyrenäen
hüte ich Schafe und Ziegen mit der rothaarigen Pilar",
lautet der viel versprechende Anfang eines dieser Texte. Weniger
verspielt und durchaus explizit, dabei aber in einer zärtlichen,
sensiblen, nie ins Nassforsche gleitenden Sprache beschreibt Christian
Baier, Chefdramaturg des Theaters Dortmund, in seiner Erzählung
"Urknallfröschin" die Begegnung des Ich-Erzählers
mit einer Sex-Chat-Bekanntschaft dieses Decknamens, wobei der
so flüchtige wie liebevolle Kontakt im Stundenhotel im Nachhinein
eine tragische Wendung bekommt.
Macondo besticht freilich auch durch ein abwechslungsreiches,
nie überambitioniertes Layout und exzellente Schwarzweiß-Fotografien.
Genannt seien hier nur die Arbeiten der Engländerin Imelda
Culleton, die inszenierte Straßenmarkierungen abbilden,
also Street Art eigener Art darstellen; die "Judges"
des Südafrikaners Pieter Hugo, die schwarzafrikanische Richter
und Richterinnen in ihren schwarzen Roben vor schwarzem Hintergrund
präsentieren, sodass der blütenweiße Kragen und
die graue britische Perücke grell hervorstechen; schließlich
die ausgesprochen starken, mal explizit, mal eher romantisch gewendeten
erotischen Fotografien des Frankfurter Fotografen Norbert Guthier.
Die Hefte 18 und 19 der in Hildesheim erscheinenden Bella
triste haben eine sehr viel klassischere Anmutung, und
dort werden ja auch gern ernsthafte literarische, zumal lyrische
Debatten geführt. Sehr lesenswert ist "Hof, alternativ",
eine Reihe von Prosa-Miniaturen von Jan Böttcher, dem Verfasser
der schönen Erzählung "Lina oder: Das kalte Moor"
und Texter und Sänger der charmanten Berliner Band "Herr
Nilsson". "Hof, alternativ" ist eine Abfolge von
Beobachtungs- und Erinnerungssplittern eines Mannes, der nach
Renovierungsarbeiten als Letzter auf einem Bauernhof zurückgeblieben
ist, mit melancholischem Blick den Stand der Dinge protokolliert
und dabei implizit seine Ratlosigkeit dem Leben gegenüber
zur Sprache bringt. Eine der achtunddreißig Miniaturen etwa
lautet: "Vieles hast du gegessen, was man dir hinterlassen
hat. Jetzt sitzt du da und hast Mettwurst zwischen den Zähnen,
und du erinnerst dich an den Tag, an dem der Abfluss im Bad verstopft
war, der Waschbeckenabfluss. Du hast den Werkzeugkoffer hervorgeholt
und das kleine runde Sieb herausgeschraubt, du hast das Rohr ausgebaut
und es draußen mit einem Ast [statt: Holzast] gereinigt,
der unter der Linde lag." Auch der Text "Ausgang"
von Katrin Zimmermann überzeugt sprachlich wie inhaltlich
durch seine Evokation einer unbestimmt schwebenden ländlichen
Sommerschwermut.
In Heft 19 findet sich als Nachtrag zum siebzehnten, der deutschsprachigen
Gegenwartslyrik gewidmeten Sonderheft eine Reihe von Essays zur
Situation der Dichtung, von denen zwei Beiträge Erwähnung
verdienen: der sozialkritische Text "Risikogesellschaften"
von Enno Stahl, der gegen die artifizielle Beliebigkeit eines
Großteils der neuen deutschen Lyrikwelle polemisiert und
eine kluge Lanze für die kritischen Gedichte von Tom Schulz,
Björn Kuhligk, Gerald Fiebig, HEL und anderen bricht, sowie
Gerhard Falkners mitunter größenwahnsinnig anmutender
Rundschlag "Das Gedicht und sein Double", der so viele
herrliche, ja tödliche Bosheiten enthält, dass die Lektüre
eine Wonne ist - und das, obwohl der Verfasser immerfort betont,
er wolle an sich halten, um sich keine weiteren Feinde zu machen.
Mehr derart geschliffene Polemiken bitte!
Das im Dezember erschienene Heft 184 von Sprache
im technischen Zeitalter dokumentiert die Vorträge,
die bei der Feier zum zehnjährigen Jubiläum des Deutschen
Übersetzerfonds und beim anschließenden Symposion "Übersetzungskultur
- was sie prägt, was ihr fehlt" im September 2007 von
Umberto Eco, Sibylle Lewitscharoff, Denis Scheck und anderen gehalten
wurden. Auch stellt Helmut Frielinghaus einen Ausschnitt seiner
mit Susanne Höbel erstellten Neuübersetzung von William
Faulkners "Licht im August" vor.
Die der Literatur der alemannischsprachigen Gebiete verschriebene
Karlsruher allmende hat in Ausgabe 79
vom Juli 2007 eine Rede von Peter Härtling auf den Lyriker,
Übersetzer, Herausgeber und Verleger Rainer Maria Gerhardt
(1927-54) veröffentlicht, der in seiner 1949-52 herausgegebenen
Schriftenreihe "fragmente" Übersetzungen von Ezra
Pound, Charles Olson und Robert Creeley und moderne deutsche Lyrik
veröffentlichte und sich mit siebenundzwanzig Jahren umgebracht
hat. Anlass der Rede war die Präsentation des Bandes "Rainer
Maria Gerhardt: Umkreisung. Das Gesamtwerk" in der Akademie
der Künste Berlin im Februar 2007.
Im LP-Cover-Format und typografisch fast so schön wie das
Jubiläumsheft des Sterz kommt die achte Ausgabe der Leipziger
Zeitschrift plumbum (Sommer 2007) daher,
die im Untertitel "texte in blei auf papier" ankündigt.
Auch diese Zeitschrift würde die Sammlung jedes Bibliophilen
schmücken, doch die Lektüre des 24-seitigen Heftes ist
nicht immer anregend. Zwar können einzelne Beiträge
- wie die Gedichte von Hans Georg Bulla oder Anja Kampmanns Prosaminiaturen
"Fehlfarben" - überzeugen, doch gerade bei so ambitioniert
gemachten Zeitschriften wirkt der gelegentliche Mangel an literarischer
Substanz nur umso befremdlicher, scheint doch die Form allzu klar
über den Inhalt zu triumphieren.
Martin Brinkmann und Fabian Reimann haben in der Bremer Krachkultur
einmal mehr welthaltige und ungeschminkte Texte versammelt. Ein
wahrer Coup ist ihnen dabei mit der Erstveröffentlichung
eines Fragments von Heimito von Doderer gelungen, der "Chronique
Scandaleuse oder René und die dicken Damen", einem
achtzehnseitigen Text, der genau von dem handelt, was die Überschrift
ankündigt, und als schwüler Nukleus des zweibändigen,
1.345 eng bedruckte Seiten langen Spätwerks "Die Dämonen"
gelten darf, bei dem der Drang zum Vollweib freilich weitgehend
sublimiert und nur einer von vielen Fäden ist. Zu lesen,
wie der Schwerenöter René - noch annähernd jugendfrisch
und im Schutz einer nicht zur Veröffentlichung gedachten
Skizze - den Damen der Wiener Gesellschaft auf den drallen Leib
rücken und was er sich dabei für Gedanken machen darf,
ist die Anschaffung der 2007 erschienenen Ausgabe 11 allemal wert.
Doch auch die Erzählung "Blue Mussels" von Wolfgang
Schömel, in der es auf einer Urlaubsreise nach Kanada zu
Eifersuchtsszenen und Streitereien kommt, und ein Ausschnitt aus
dem Roman "Weiter" von Xaver Bayer - eine sehr österreichisch
gefärbte Etüde des Sehens - lohnen die Lektüre.
Und der in Wuppertal geborene taz-Autor Martin Krumbholz hat mit
"Februar" eine entspannte WG-Geschichte mit dezentem
Liebesleid beigesteuert, der die Ausweitung auf alle Monate des
Jahreskreises, die Ummodelung zum Roman und ein Erfolg wie Detlef
Kuhlbrodts "Morgens leicht, später laut" nur zu
wünschen ist. Ein Satz wie: "Da Mark regelmäßig
für Charlotte einkaufte und kochte, schien er ihr das Abwaschen
überlassen zu wollen, aber sie ging auf diesen Deal nicht
ein", reißt wie nebenher einen Abgrund auf, und dieses
Understatement hat - gerade weil es ins Herz trifft - etwas sehr
Beglückendes oder vielleicht auch Tröstendes.
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