Am Erker 86

 
Texte
Am Erker 86, Münster, April 2024
 

Derk Frerichs
Ein nächt­liches Aben­teuer

"Ah, wie gut, dass da immer jemand ist, der uns zuhört!", sprach es neben mir. Schon eine Weile saß ich im Hallengewölbe des Irish Pub am Frankfurter Hauptbahnhof auf weinrotem Plastikpolster bei Tee und knusprigen Fish & Chips und hing meinen Gedanken nach, während ich auf den Zug in den Norden wartete. Die Stimmen überschlugen sich hier – einander kreuzende Wellen in kabbeliger See. Intrikat ineinander verschlungene akustische Muster entstanden so, die Kommunikation und Verstehen nicht zuließen. Auch wurde nur Englisch gesprochen – fast ein wenig exotisch, beinahe wie Ausland, und ich fühlte mich meinem Alltag weit genug entrückt, um noch vor Besteigen des Zuges innere Klarheit zu erreichen. In letzter Zeit hatte es mich zunehmend verwirrt, dass neben den Dingen und Umständen, die nach allgemeinem Dafürhalten wirklich sind, bei mir auch anderes auftauchte und der Fall wurde. Mit Unbedingtheit durchbrach es die zarte Eierschale der Wirklichkeit, drang in meine Hautkapsel ein, machte sich zur Herrin, zum Herren meines Hirns und ließ mich Dinge denken und wahrnehmen, die es nicht gab. Manchmal war es, als ob mir jemand Geschichten aus einer anderen Welt erzählte, mit der dankbaren Stimme eines Verlorenen, dem endlich jemand zuhört. Und so sprach nun auch eine Reibeisenstimme, die klang wie aus dem Radio, zu mir:
"Manchmal, das weiß man, wenn man älter wird, die sechzig überschritten hat, Seh- und Muskelkraft nachlassen, Erinnerungsvermögen und Hoffnung schwinden, manchmal befinden wir uns am helllichten Tag in tiefster Nacht."
Die Worte waren bedeutungsschwanger und mit Nachdruck gesprochen von einem Mann, der auf der anderen Seite des Gangs saß – auf weinroter Sitzbank wie ich, ein Zwilling beinahe. Er musterte mich mit starrem Katzenblick. "Sie wundern sich über meine Augen, mein Freund? Künstlich, keine Sorge, dressed up, you know, not to kill but to party!" Er lächelte schwarz aus weißem Gesicht.
Ich nickte, um ihn zu beruhigen. Meine Ruhe aber war dahin. Die zugige Bahnhofs­halle erschien mir nun als ein besserer Aufenthaltsort. Ich wollte gehen und schob mich seitwärts aus der Sitzbank heraus, als der Schwarze mich sanft, aber unwiderstehlich zurückschob, anstrengungslos bis ans Fenster, und sich zu mir setzte. Er war gekommen, um zu bleiben, und platzierte zum Zeichen sein Guinness entschlossen neben meinem Tee. Sein schwarzer Dufflecoat roch feucht nach Tier und Rauch, mehr nach Lagerfeuer als nach Zigaretten. Ich drehte mich zu ihm, um zu protestieren. Da war er mir bereits so nah, dass meine Nase seine raue, blauschwarze Wange streifte. Er fixierte mich mit seinem Katzenblick und schüttelte den Kopf. "Eile mit Weile, mein Freund!" Zur Beruhigung legte er seinen linken Arm um mich. "Keine Sorge, ich tu dir nichts, und du bekommst deinen Zug. Ich bitte dich nur zuzuhören." Ich schwieg. "Haben Sie", fragte er nun beinahe formell mit ernster Stimme, "schon einmal eine Klinge am Hals gespürt und gewusst, dass Ihr Leben an einem seidenen Faden hängt? Nein", setzte er hinzu, "Sie sind kein Mann, der sich in solche Situationen begibt. Ich dagegen gerate, vielleicht durch mein Äußeres, immer wieder in Gefahr." Er rückte ein Stück ab und nahm mich fest in den Blick: "Es war Nacht, echte Nacht, und ich stand im Regen auf einem dieser von allen Göttern – den alten wie den neuen – verlassenen Bahnsteige in Norddeutschland. Augustfehn, Marienhafe, you name it, aber es war weder der eine noch der andere, ich muss Stillschweigen bewahren, Sie verstehen, muss schweigen. Jedenfalls war ich auf dem Weg zur Küste. Es gab einen Auftrag, der zunächst zu akquirieren und dann zu erledigen war. Import, Export, Wind, Gas, Moor, mit einem Haufen Schreibkram am Ende, wie es heute eben ist.
Der Zug kam zu spät, aber er kam, und ich stieg in die quietschende, von einer Diesellok gezogene Metallschlange. Im schwankenden oberen Stockwerk schien der Wagen leer. Es roch unangenehm scharf nach nassem Tier, hier reiste wohl ein Hund. Ich überlegte, wieder hinunterzugehen, als mir eine Dame auffiel. Natürlich hätte ich mich woanders hinsetzen können, aber so bin ich nun einmal. Manche sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben auf der Zugfahrt und für sich sein können. Ich setze mich lieber dazu. Und wenn es nur eine Person außer mir im ganzen Wagen gibt, dann setze ich mich dennoch dazu. Aufdringlich, könnte man denken, beängstigend für manche, aber tatsächlich will ich nur reden, nur reden und nicht alleine sein. Sie trug auf dem Kopf ein Pelzhütchen aus Maus oder Katze mit einer Feder obendrauf und lehnte mit der Wange am regennassen Fenster. Ich setzte mich der Dame gegenüber. Im Sitz hinter mir befand sich eine zusammengesackte Mädchengestalt mit Kopfhörern und schlaffer Körperhaltung. Die Dame ihrerseits saß, wie ich erstaunt feststellte, offenbar auf einem Kätzchen, denn seitlich neben ihr ringelte sich ein bepelztes Schwänzchen auf dem Polster. Gut, dachte ich, unwahrscheinlich, dass sie auf einem Kätzchen sitzt, vermutlich verbirgt sie es nur hinter ihrem Rücken vor dem Schaffner, oder das kleine Tier hat sich in diese Höhle zurückgezogen, die ihm Geborgenheit verheißt in einer fremden, bedrohlichen Welt. Zumindest erklärte sich nun der Geruch. Ich war gerührt und konnte nicht umhin, zunächst mit der Fingerspitze den Schwanz zu berühren und ihn dann vorsichtig zu streicheln. Er war durchpulst von Wärme und Weichheit. Ich nahm ihn in die Hand und ließ ihn vorsichtig hindurchlaufen, er wand sich zart und schlangenhaft träge. Das Kätzchen aber zeigte sich nicht und gab auch keinen Ton von sich, so ließ ich es genug sein und lehnte mich in meinen Sitz zurück. Draußen zog die nasse norddeutsche Dunkelheit vorbei. Allmählich rutschte die Dame tiefer in die Polster und mit ihrer Wange weiter die Scheibe hinunter. Schließlich geriet sie endgültig in Schieflage. Ihr Mantel rutschte nach oben und enthüllte, dass das Schwänzchen keineswegs zu einer Katze gehörte. Es ringelte sich aus einem zart mit Rosen umstickten Loch, das sich auf Steißhöhe hinten in ihrer Hose befand.
Ich räusperte mich, zunächst leise, dann vernehmlicher. Schließlich schreckte sie auf. Ihr Blick fiel auf den Schwanz, sie errötete und streifte rasch den Mantel darüber. Ich lächelte und sagte: 'Erstaunlich, so etwas habe ich noch nie gesehen!' Sie lächelte ebenfalls mit niedergeschlagenen Augen, richtete ihr Hütchen und blickte wortlos aus dem Fenster." Der Schwarze schwieg und sah mir bedeutungsvoll in die Augen. "Jetzt kommt's!", sagte er. "Mit einem Mal höre ich eine Stimme in meinem Rücken, das Mädchen, und sie sagt laut: 'Ich habe auch so einen!' Und schon spüre ich die Klinge an meinem Hals. Eine kleine, aber entschlossene Faust packt mich am Schopf und reißt meinen Kopf zurück. 'Vorsicht, das ist ein Löwenmesser, Solinger Qualität! Und wenn Sie sich fragen, was das soll: Wir sind Tierwesen, Chimären. Jacqueline, schaust du mal?' Die Dame war, als sie sich über mich beugte, gar nicht mehr damenhaft. Ihr Lächeln war wölfisch, wie eigentlich auch ihr Schwanz. Die Hände, mit denen sie mich inspizierte, waren kräftig, die Nägel flach und unter den Rändern schmutzig. Wahrscheinlich vom Wühlen in der Erde. Als sie fertig war, nickte sie. Die Klinge verschwand von meiner Kehle. Aber noch bevor ich aufatmen konnte, ohrfeigte Jacqueline mich: 'Dafür, dass du an mir rumgefummelt hast!' Ich blieb ruhig, um sie nicht weiter zu provozieren. 'Gut so', sprach die muntere Mädchenstimme in meinem Rücken, 'geht doch!' Dann schwiegen wir. Die Wölfin blickte aus dem Fenster. Hinter mir spürte ich den Bass in den Kopfhörern des Mädchens vibrieren. Meine Gedanken rasten. Chimären? Das war doch Wahnsinn! Jeden Augenblick, so fürchtete ich, konnte sich eine Klinge von hinten in mein Herz bohren oder ein rascher Schnitt durch den Hals mein Leben beenden. Im dunklen Fenster spiegelte sich der noch dunklere Blick der Dame Jacqueline, die mich beobachtete. Schließlich fragte sie: 'Was machen wir denn jetzt mit dem?' Der Bass im Sitz hinter mir rumpelte kurz und verstummte dann."
Die Stimme des Schwarzen flüsterte nun wieder dicht an meinem Ohr. Er erlebte, verloren in seiner Erzählung, noch einmal sein Zugabenteuer. Atem und Rauchgeruch krochen aus Mund und Mantel und drangen zugleich mit den Worten in mich ein. Auch schien sich der Schwarze im Austausch Teile meines Inneren zu rauben. Ich musste dem ein Ende machen.
"Könnte ich", begann ich und versuchte, ihn zur Seite zu drängen, "könnten wir, Sie ... Mein Zug, sehr interessant, was Sie berichten, aber jetzt ist es wirklich, ich meine, ich muss jetzt los ..." Er erwachte aus seiner Trance und blickte mich hochmütig und zugleich bittend an. "Einen Augenblick noch", sagte er. "Denn ich habe einen Auftrag für Sie, so wie Jacqueline und ihre kleine Freundin einen Auftrag für mich hatten. Sie waren Chimären, wie Sie nun wissen, uralte Wesen, in unglücklichem Clinch mit den griechischen Eroberern, die sie verfolgen seit je. Sie sind auf der Flucht, fristen ihr Leben in Verstecken, im Dunkeln, suchen sich ihren Platz. Ich habe das Netzwerk ihrer Feinde in unserer Stadt kartografiert. Im Zentrum stecken, so viel kann ich sagen, die Hausmeister, wie ein Krake durchwuchert ihr Netzwerk die Stadt, dazu Wachdienste, Fensterputzer, Reinigungsfirmen. Ich sage nur: Hausmeisterdienst Olimpos. Das Haupt­quartier ist hier ganz in der Nähe – Hotel Minerva. Aber was rede ich." Er schob mir eine schwarze Ledermappe zu. "Da ist ein Briefumschlag drin. Sie fahren ja in den Norden. Man wird auf Sie zukommen." Er zog den Reißverschluss der Mappe auf. Eine Welle von Gestank nach Tier und Verwesung traf mich, als er ein Pelzkäppchen mit Feder halb aus der Mappe zog und mir präsentierte. "Hieran wird man Sie erkennen. Katz und Maus, Jacquelines Hut, Sie wissen."
Und das war es eigentlich. Die Mappe mit dem Hütchen und dem unangenehmen Geruch ist mir auf der Fahrt abhanden gekommen. Als ich verspätet, aber innerlich klar und ausgeschlafen am Ziel ankam, war sie verschwunden. Von Hausmeisterdiensten halte ich mich fern. Und was zu erzählen ist, muss mitgeteilt werden, ungeachtet aller Dunkelheit und daraus entstehender Unannehmlichkeiten, das habe ich verstanden. Immer hochzuhalten und wertzuschätzen ist auch die Gelegenheit, wegzugehen, abzureisen oder einfach einzuschlafen. Die Klarheit kommt dann zuweilen von selbst oder sie bleibt weg, ganz wie sie will.