Am Erker 86

 
Texte
Am Erker 86, Münster, April 2024
 

Eva Sybille Engels
Diese zarte, duf­tende Stelle hinter dem Ohr, wo der Na­cken beginnt

Das Get-together von Madsen Pharmaceutical fand in der Agora statt, hinter Halle 6. Die ganze Münchner Blase trieb sich hier herum, alle Schönheitschirurgen aus Grünwald und deren Partner und Partnerinnen; und Wies‘nwirte und Zahnärzte und Golfplatzarchitekten und Verleger und deren Söhne. Für Luisas Branche, die ästhetische Chirurgie, war die Berliner IBEF – International Beauty Enhancement Fair – jährlicher Pflichttermin, ebenso wie für die Hersteller von Wearables oder Diätspritzen oder von Cup KK mit 9,6 Kilogramm-Silikonbrüsten. Ein Riesenzirkus, zu dem Luisa, wie so viele ihrer Kollegen, jährlich von Madsen Pharmaceutical eingeladen war – Flug, Übernachtungen im Adlon, Restaurant: alles inklusive.
"Schönheit ist die neue Gesundheit", Luisa hörte der Rede des Refe­renten nur mit halbem Ohr zu. Sie nahm ein Stück Honigmelone vom Buffet, klaubte den Schinken herunter und ließ sich ein Sektglas reichen.
Neben ihr stand Jo. Er trug wieder den Slim Fit-Anzug, der seinen Bauchansatz betonte. Das war der Sinn dieses Schnitts, denn nur junge, schlanke Menschen sahen in diesen Anzügen gut aus; alle anderen eben wie Jo.
Jo war ihr Klient. Nichts Großes, nur Hyaluronsäure ab und zu. Vor wichtigen Verkaufsevents kam er, wie so viele aus dem mittleren Management, schnell mal über Mittag zum Lunchtime-Eingriff in Luisas Praxis. Die neun Stiche milderten die unzufriedene Ausstrahlung, die seine tief eingegrabenen Nasenwurzelfalten ihm verliehen. Nach vier Tagen waren die kleine Schwellung, die fleckige Rötung vergangen, und er sah aus, wie ein Mann in seiner Position es sollte: entspannt und voll im Reinen mit seinem gut dotierten Marketing-Job bei Madsen Pharmaceutical.
Jo hatte zu viel getrunken, seine Augen waren leicht glasig. Als eine Gruppe Promoterinnen für Appetitzügler an ihnen vorbeizog – junge Frauen, die ihre langen Haare hin- und herschaufelten, sich in explosiven Ausbrüchen von Zuneigung umarmten und dann weitersegelten –, riss es Jo den willenlosen Schädel herum, er brach mitten im Satz ab und starrte ihnen nach. Luisa erinnerte das an die Kamera mit Motion Tracking, die sie einmal an einem Hauseingang in Grünwald beobachtet hatte; wenn man sich bewegte, ging die Linse mit.
"Hallo-ho, Jo", sagte Luisa, "jemand zu Hause?"
Er wandte sich ihr zu. Er war vollkommen ohne Bewusstsein dessen, was mit ihm passierte, wenn sein Körper sich eingeladen fühlte, sich an die Möglichkeit von Geschlechtsverkehr erinnern zu lassen.
"Wiesso?"
Sie musste über ihn lachen, sie hatte also auch ein paar Sekt zu viel, denn sie fand Jo nur in ganz seltenen Fällen unterhaltsam.
Sein Tracking-Blick glitt an ihren Schultern entlang und blieb auf Brusthöhe an den Wölbungen unter ihrem Jackett kleben. Sie betrachtete ihn. Er war deutlich jünger als sie. Sie betrachtete die Männer um sich herum. Und die Frauen. Und die Frauen auf Plakaten und Produktpackungen. Alle waren jünger und glatter als sie.
Luisa holte sich einen Drink, sog an dem Saugröhrchen und versank in Gedanken.
Sie hatte schon vor vielen Jahren die Theorie entwickelt, dass das, was wir für Schönheit halten und gierig betrachten, eine Verkleidung darstellt, einen Trick der Evolution, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Säuglinge zum Beispiel. Die niedliche Maskerade erhöhte ihre Chancen, überhaupt ein gewisses Alter zu erreichen. In Wahrheit sehen viele von ihnen aus wie Aliens, dachte Luisa. Dicke, vollmondförmige Köpfe, aus denen schwarze Marderaugen funkeln.
Aber die geheimnisvolle Macht der Babykostümierung war überwältigend, auch Luisa war nicht gefeit gegen den Drang, ein Baby auf den Arm zu nehmen, an seiner Kopfhaut zu riechen und seine Laute nachzuahmen. Erst seit einigen Jahren, seitdem sie selbst mit dem Thema abgeschlossen hatte, konnte Luisa vollkommen ungerührt, komplett auf Sachebene sozusagen, auf den rosigen Outcome erfolgreichen Geschlechtsverkehrs blicken.
Das mächtigste Kostüm von allen aber war das des jugendlichen Körpers – eine Hülle aus straffer Haut, die eine brodelnde Hormonmixtur zusammenhielt und von den Geblendeten der Welt als Inbegriff von Schönheit gefeiert wurde. Die Widersprüche dieser Ideologie wurden übersehen, denn noch lange nicht alles, was jung war, war schön. Im Gegenteil. Wenn der verzerrende Wahrnehmungseffekt entfällt, der von Menschen ausgeht, die bis zur Halskrause mit Fortpflanzungshormonen vollgepumpt sind, erkennst du die Wahrheit, dachte Luisa. Sie sah dicke Hintern. Sie roch unfrische Ausdünstungen. Manchmal, wenn sie Fetzen juveniler Floskeln aufschnappte, verschwanden Sinn und Gehalt vollkommen hinter der eigentlichen Botschaft, dem Austausch sexueller Locklaute.
Diese Messe! Luisa tat jede Minute leid, die sie hier herumstand. Jede Minute, die sie vergeudete, indem sie dem besoffenen Jo beim Motion Tracking zusehen musste. Sie war einer zeigefreudigen Haut- und Fleisch­beschau ausgesetzt und empfand ein überraschtes Grausen. Die Promoter an den Ständen, die Messebesucher, die Models auf den Displays: überall Berge von Muskeln. Und überall Brüste. Berge von Silikon, prall in Hautsäcke gestopft.
"Wäre ich ein Mann", sagte sie zu Jo, "ich hätte Angst vor denen."
"Schmarrn."
"Nein wirklich, guck mal, die sehen aus wie bewaffnet. Die haben alle aufgerüstet. Das sind Erotik-Roboter. Die laufen mit geladenen Kanonen rum."
"Guck mal, die da." Er deutete in Richtung einer Frau in einem golde­nen, ausgeschnittenen Kleid. Melonenartige Formen, über die zu wenig Haut zu stark gespannt worden war; wie man einen Blätterteig so lange auswalzen und plattrollen kann, bis er durchscheinend dünn ist. Luisa musste an Weißwürste denken und verspürte Appetit. Nicht alles an Bayern lehnte sie ab.
Jo und sie gingen gemeinsam. Im Taxi, das sie zum Adlon brachte, saß er vorn, sie hinten; Luisa versuchte, eine Reflux-Attacke zu überspielen. Zu viel Sekt. Alkohol, der ihr ein Leben lang als zuverlässige Quelle für gute Gefühle, aufschwappendes Glück, überraschende Momente der Leichtigkeit gedient hatte, funktionierte nicht mehr so gut wie früher.
Im Hotelfahrstuhl ließ Jo sich gegen die Rückwand fallen und den Kopf hängen. Luisa musterte ihn – er war ein Depp, aber ein netter Depp, und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie ihre Nase an seinen Hals schöbe, an diese zarte, duftende Stelle hinter dem Ohr, wo der Nacken beginnt. Er lehnte an der Kabinenwand, versuchte, gleichzeitig auf ihre Brüste und in ihre Augen zu sehen, und machte "Ah Aha".
Ping. Dritte Etage. Die Fahrstuhltür surrte auf, Luisa und Jo schwankten Arm in Arm heraus, um in unabgesprochener Einigkeit und mit großem Schwung nach links zu schwenken. Luisa fand ihre Magnetkarte und drückte sich gegen die Tür. Drinnen ließen sie sich nebeneinander aufs Bett fallen.
"Luis", sagte Jo.
"Hmm?"
"Lusss."
"Hm."
Jo richtete sich halb auf, streifte Luisas Kleid hoch und versuchte sich mit fahrigem Hin und Her seines rechten Zeigefingers an der Stelle, wo er unter dem Stoff des Slips ihre Klitoris vermutete. Das machte sie nervös.
Luisa hielt sich für einfach gestrickt. In erotischer Hinsicht. Wenn sie Bock hatte, zog sie es vor, umgehend ihre Kleidung loszuwerden, ihren und einen Körper ihrer Wahl aufeinanderzulegen – oder auch nebeneinander oder hintereinander, oder auch aufrecht oder was auch immer die Möblierung an Möglichkeiten bot – und sich in einen mühelosen, zügigen, begeisterten Zweikampf zu stürzen.
Aber wenn sie keinen Bock hatte, sei es aus Desinteresse am Körper eines anderen oder auch mal am eigenen, was durchaus vorkam, dann ließ sie es lieber sein. Jazzige Musik, warmes Licht, plänkelndes Gefoppe oder großes manuelles Engagement – das alles war nichts, was Luisa motivieren konnte, denn romantisch war sie nicht. Von tantrischen Lie­beskünsten hatte sie mal gehört, aber Selbstbeherrschung und Disziplin waren keine Angebote, die sie erregten.
Auch jetzt wäre es schön, wenn ein wenig Dampf in die Angelegenheit käme. Es war mühsam, ihm die enge Hose auszuziehen, der Stoff wollte sich nicht von Schenkeln und Hüften zerren lassen, aber die Boxershorts hatte sie schnell unten. Sein Penis lag auf seinem haarigen Bauch und wies mit dem Kopf Richtung Nabel, er sah aus wie eine mittelgroße ungarische Paprika auf einem weichen Teppich aus hellbraunem Fell. Damit gehörte er – nach Luisas Kenntnis – zu der absoluten Minderheit unter den Männern, die sich nicht rasierte. Sie war entzückt.
Jo legte sich halb über sie, beider Bewegungen waren sanft und lahm, zwischendurch nickten sie ein. Sie spürte nicht viel. Sein harmloses Gestocher in der Feuchtigkeit – seit einem halben Jahr nahm sie Östradiol – war immerhin angenehmer als das Brennen, das ihr eine trockene Schleimhaut bereitet hätte.
Nach einer Weile schnarchte Jo. Sein Kopf lag auf ihrer Schulter und wurde von Minute zu Minute schwerer. Luisa schob seinen Schädel zur Seite, zerrte Boxershorts und Slim Fit-Hose hoch und versuchte, ihn hochzuhieven. Er saß auf dem Bettrand und schlief.
"Aufstehen!", sagte Luisa.
Nichts.
"Jo-ho!"
Nichts.
"AUF! GESTANN!", rief sie in militärischem Kommandoton. Beim dritten Mal wirkte es. Er stand auf und schlief, gebückt und mit hängendem Kopf, im Stehen weiter. Sie griff ihn fest um die Hüften, bugsierte ihn aus der Tür, brachte ihn zu seinem Zimmer, fummelte die Magnetkarte aus seiner Hosentasche, schob ihn hinein. Aufs Bett würde er es alleine schaffen.
Luisa legte sich auf das Kingsize-Doppelbett, das ihr ganz allein gehörte, breitete die Arme weit aus und blickte nach oben. Ketten aus leuchtenden Perlen – Reflexionen von Scheinwerfern edler Limousinen, die ihre erwartungsvollen Insassen sanft und sicher zum nächsten sexuellen oder geschäftlichen Triumph transportierten – glitten über die Zimmerdecke.