Andreas Heckmann
Mag die Katze auch neun Leben haben: Menschen haben nur eins, doch manche vermögen es so zu füllen, dass man staunt, woher sie die womöglich neunfache Kraft, Intensität, Gegenwärtigkeit dazu nehmen. Zu diesen Menschen gehörte Doris Weininger. Unsere Zeitschrift hat sie seit Nr. 54 (2007) mit fünfzehn wunderbaren Prosabeiträgen unter eigenem Namen und einem Surplus als Miss Harmlos bereichert. Am 1. Mai ist sie mit nur 53 Jahren in München gestorben. Als Archivpflegerin firmierte sie in der Mitarbeiterliste von Am Erker - ein Brotberuf, in dem sie für den Bayerischen Rundfunk tätig war, für das Erzbistum München und Freising, für eine Tierschutzorganisation. Darüber hinaus aber war sie eine begeisterte Theater- und Operngängerin, die über Johan Simons' Kammerspielintendanz (2010-15) schwärmen konnte, eine leidenschaftliche Konzertbesucherin (wobei ihr Bruckner-Messen so lieb waren wie Metal-Konzerte), eine große Reisende, die herrliche Ansichtskarten aus Wien, Lissabon, Sizilien schrieb, eine Kalligrafin, die etwa im Café Käthe Ausstellungen hatte. Und sie pflegte enge Kontakte in die verschiedensten Szenen, hatte donnerstags jour fixe mit Staatsanwälten, arbeitete ehrenamtlich in der telefonischen Betreuung von Menschen in psychischen Krisen (wofür sie eine komplexe Ausbildung absolvieren musste), war bekennende Katholikin, die den Aschermittwoch der Künstler in der Frauenkirche praktisch jedes Jahr besuchte, hatte gute Kontakte zu den Punkern von Soylent Gelb und hat immer wieder ihre Punk-Sozialisation betont. Auch als Schöffin hat sie zehn Jahre bei Gericht amtiert. Um die Jahrtausendwende hatte Doris eine intensive Poetry-Slam-Phase, die sie ganz Deutschland bereisen und in Chemnitz mal den zweiten Platz hinter Jochen Schmidt belegen ließ. Und fast bis zuletzt hat sie sprudelnde, arabeskenhafte, detailverliebte, stets zu Abschweifungen neigende Kurzprosa verfasst, die voller Witz und Bosheit, Scharfzüngigkeit und Sarkasmus ist, neben bösen Breitseiten auf saturierte Pfahlbürger aber auch immer wieder von größter Empathie getragene Porträts von randständigen, marginalisierten, kranken, wunderlichen Menschen enthält, von schrulligen Herzgewinnlern und passioniert Scheiternden. Und oft hat sie ihren kritischen Blick auf das allzu wohlig prosperierende München gerichtet, das fast besinnungslos in eine (Innen)Stadt der Reichen und Schönen verwandelt wird, während Krankenpfleger, Busfahrerinnen, Müllwerker, Erzieherinnen an die auch kaum mehr bezahlbare Peripherie verbannt werden, genau wie Künstler und Kulturarbeiter, denen immer öfter gekündigt wird, ohne dass ihnen noch Ausweichplätze zur Verfügung stehen. "Die MS und ich, wir hatten uns arrangiert, aber der Krebs nimmt mir alles, was die MS mir gelassen hat", hat sie ein Jahr vor ihrem Tod zu mir gesagt. Tatsächlich ist zu der sehr kämpferisch ertragenen MS vor zwei Jahren ein Krebs hinzugekommen, der sich schnell ausbreitete und dem nur mehr palliativ zu begegnen Doris Weininger sich früh entschieden hat, um sich den schmalen Lebensrest nicht mit den Nebenwirkungen von Chemotherapie oder Bestrahlung, deren Erfolgsaussichten ohnehin verschwindend waren, zu vergällen. Mit Doris Weininger ist ein Mensch gestorben, der jedenfalls in München schon zu Lebzeiten eine - sehr nahbare - Legende war. Die Stadt ist ärmer ohne sie, das fühlen alle, die sie kannten.
Texte von Doris sind auf unserer Seite zu lesen: "Stroboskopblitze im Nahverkehr" und "Vier goldene Regeln auf einer Schiffsreise" und "Lammfromm der ärgste Feind – oder: Jeden Tag kann das Blatt sich wenden". Ihre Stimme ist hier zu hören.
Die Aufzeichnung einer ihrer Lesungen ist auf YouTube zu sehen.
Darüber hinaus sind in Matthias Hofmanns Internetzeitschrift Friktionen zweiundzwanzig Prosatexte von Miss Harmlos, also von Doris, zu unterschiedlichsten Themen erschienen, darunter ihr Vortrag über die Einstürzenden Neubauten, gehalten im "iRRland", einem linken Freiraum für Kultur, dem gekündigt wurde und der seit Januar 2019 eine neue Bleibe sucht.
Am Montag, 15. Juli 2019, erinnerten Musiker*innen und Autor*innen mit einer Feier in der Münchner Favoritbar an sie. Es lasen aus Doris' Texten u.a. Thomas Lang, Thomas Glatz, Matthias Hirth; es musizierten u.a. Erol Dizdar (Dizzy Errol), Benedikt Feiten und OhwWhouWhou; es legten auf: Claudia Kaiser und Martin Lickleder. Siehe die eigene Seite dazu. |