Am Erker 61

 
Texte
Am Erker 61, Münster, Juni 2011
 

Andreas Heckmann
Eikes Auferstehung

Der Mond war eben untergegangen und das Lagerfeuer noch nicht verglommen, da zog über die Welt eine kaum spürbare molekulare Erregung, da fühlten sich auf allen Erdteilen und in den Tiefen aller Meere Atome und kleinere Teilchen sogar, sofern sie nur vor gut 775 Jahren dem Körper Eikes angehört hatten, angezogen und zur Reise an den Ort aufgefordert, an dem ihn 1234 ein böses Schicksal ereilt hatte. Ein Jahr zuvor war Konrad von Marburg, der barsche Beichtvater der Heiligen Elisabeth, an einem Kreuzweg niedergestreckt worden, und Ähnliches war Eike geschehen, als er auf einem Rechtserkundungsgang für den Nachtrag zum Sachsenspiegel in einem tiefen Wald bei Zwickau totgeschlagen wurde. Wildschweine, Würmer und streunende Hunde labten sich an seinem Fleisch. Die Wildschweine wurden gejagt und erlegt, sie prangten geröstet auf adligen Tischen und gingen in die Leiber der Blaublüter ein. Das Hunderudel zog weiter, und der eine starb da, der andere dort. Die Würmer wurden von Vögeln gefressen, und die Vögel flogen ein Weilchen und fielen vom Himmel und wurden von Würmern gefressen - so verteilten sich Eikes Moleküle über die Erde. Und seine Knochen, in langen Jahren ausgebleicht, wurden zu Humus und gingen in die herrlichen Eichen des Waldes ein und von dort in die Häuser und Schiffe Sachsens. Verteilt in aller Welt, nur unendlich verdünnt, lebte Eikes Körper fort. Und nun war der Ruf nach Wiedervereinigung an seine Bestandteile ergangen.
In jener Nacht und in den folgenden Tagen und Nächten hätte ein sensibler Beobachter die Teilchen zu kleinsten Konvois sich vereinen und – wie Zugvögel – in rätselhaft genauer und von den Winden ganz unbeeinflusster Weise von allen Enden der Welt gen Zwickau steuern sehen können. Je näher sie Sachsen, je näher sie der Stadt, je näher sie dem inzwischen ausgelichteten, lange schon in Kulturwald gelegenen, ehemaligen Urwaldquadratmeter kamen, den einst Eikes Leichnam bedeckte, desto dichter wurde der Strom, und ein Wispern erfüllte die Luft: Bist du auch aus der Leber? - Neocortex, mein Gutster. Schließmuskelmoleküle fanden einander unter Gejubel, die Beinmuskulatur gab sich sportlich und stimmte ein Lied an, und auch die Retina-Atome probierten dies, waren aber zu unmusikalisch. Kurz: Es war ein herrliches Wiedersehen, ein Überschwang der Gefühle, und über Tage erstand Eikes Leib ganz unbemerkt in einer Bodenwelle. Nur einige Moleküle, die im All unterwegs waren, schafften es nicht rechtzeitig zurück und gleiten immer noch traurig durch den Äther.
Da lag er unversehrt im Glanz und in den Falten seiner 54 Jahre, der Rechtskundige Heico von Repechowe, und als selbst die Nasenmoleküle sich geeinigt hatten, wer vorwitzig ganz vorne sitzen darf und wer in die Höhlen zu den Schleimhäuten muss, da schlug Eike die Augen auf, räusperte sich und sprach: Mir ist, als hätt ich einen großen Schlaf getan. Wie licht ist nun der Wald, wie ordentlich, als wäre er von Menschenhand gepflanzt. Eike erhob sich und spürte ein Kribbeln und Schauern, ein Reißen und Stoßen im ganzen Körper. Der Tanz seiner Moleküle verebbte nur langsam auf das alltägliche Maß. Und da sie alle 775 Jahre verschiedenster Erfahrung hinter sich hatten, erschien es Eike, als sei er nicht er selbst, sondern ein diffus um vielerlei Erlebnisse Bereicherter, identisch zwar mit sich und doch auch ähnlich und eigentlich ein völlig anderer auch. Er stützte das Kinn in die Hand. Wie wunderlich sind doch die Wege Gottes.
Auch sein Gewand, sein Beutel und sein Messer waren auferstanden, nur seinen Stock konnte Eike nicht finden und suchte sich darum einen passenden Stecken, den er mit dem Messer zum Wanderstab veredelte. Du musst nach Cölln, Eike, dort wirst du gebraucht, sagte er und wunderte sich darüber. Was sollte er in der erst 1237 urkundlich erwähnten Fernhandelssiedlung an der Spree? Schau auch in Copenic und Spandau nach dem Rechten, fuhr er fort und wusste wieder nicht, wie er auf diesen Gedanken gekommen war. Er ging einen Forstweg hinunter und gelangte auf die Bundesstraße nach Zwickau. Hier nun, blankgeputzt vorbeizischende Rollwagen zuhauf vor Augen, wirbelten die Moleküle seines Hirns herum, bis es Eike schwindlig wurde und er sich auf einen Baumstumpf setzen musste. Nur langsam legte sich seine Verwirrung. Jetzt wusste er, dass er ein auferstandener Rechtsgelehrter und auf dem Weg nach Berlin war, in die Hauptstadt der Schmerzen. Dort wartet eine Aufgabe auf mich, aber welche? Das da sind Autos, glaube ich, und wenn man mitfahren will, hebt man den Daumen. Das hatten ihm seine klügsten Moleküle, synaptisch neu vernetzt, eingegeben. Zwar hielt kein Auto, aber gehupt wurde viel und auf den Sandalenträger gezeigt in seinem merkwürdigen, togaähnlichen Gewand. Vermutlich von den Ritterspielen ausgebüxt. Oder ein gefährlicher Landfahrer, ein Streuner in Mittelaltertarnung.
So gelangte Eike zu Fuß nach Zwickau und staunte über das, was er zu sehen bekam. Seine klügsten Moleküle indessen ließen ihn alles schon im nächsten Moment verstehen und einordnen, und selten wohl haben zwei Menschen die Chance, sich zu wundern, so gründlich und schnell vertan wie Eike und sein Erzähler. Aber hier werden keine Persischen Briefe geschrieben, hier wird nicht vom Papalagi erzählt, und auch die Weisheiten der Cree sind uns heute nicht wichtig. Wir befassen uns stattdessen wieder mit Sobirski, Plechotka, Mollwinkel und den Kerner-Brüdern und blenden besorgt zurück in die dunkelsten Winkel der düsteren Hauptstadt Berlin.