Am Erker 62

 
Texte
Am Erker 62, Münster, Dezember 2011
 

Roland Steiner
Guten Morgen, Autonomie   [Anfang]

Meine bedankten Herrn Stationsärzte, die ihr euch einsetzt für meine Umschulung, und danke, verehrte Buchhaltung, dass du mein Krankenpfleger-Gehalt weiterzahlst, und Ihnen, liebe unbekannte Frau Supervisor, die Sie meine psychischen Voraussetzungen für den Lehrgang für Kunsttherapie zu prüfen haben: Das Warten ist mir zu zäh, und außerdem bin ich jetzt reich, arrivederci, ich fahre nach Rom.
Doch das sage ich nicht, sondern nenne Doktor Sayan meine kranke, in Wirklichkeit tote Großmutter als Ausrede für einen mehrtägigen Aufenthalt "im Süden"; ich sei aber erreichbar.
Und dann rufe ich Maria an.
Italienische Verlage kenne sie viele, nur von einem namens Cecche habe sie noch nie etwas gehört; im Wort, zumindest wie ich es ausspreche, stecke vieles drin: Blinde oder Tschechinnen, "wenn du das H wegnimmst, Kichererbsen", mit einiger Phantasie auch der alte Che, "aber eigentlich meint es: junge Aale." Und die von meiner Bank hinter dieser ominösen Geldüberweisung eruierte Postleitzahl 00185? Sie tippt am ehesten auf einen Standort in San Lorenzo, das "Volsci-Viertel"; also in jenem römischen Bezirk, wo sie mir vor die Füße gefallen war, als ich Kakteenbücher sondierte, ehe sie im Demonstrationszug niedergestoßen wurde. (Den Riss der Oberschenkelaorta hatte ich verhindern können, ihren Wegtransport durch vermummte Staatspolizisten nicht.) Seit damals nennt sie mich einen Moralisten, nach meinem heute erwähnten Wunsch, diese Geldspender suchen zu wollen, einen "Hypermoralisten", und freut sich dennoch, diesen wiederzusehen. Leider ist die Große Arbeiterautonome dieser Wochen nur selten in Rom, aber sie würde mir ein Zimmer organisieren, gerade im Sommer seien die Hotels "für einen Arschputzer wie dich zu teuer" - Maria, ich bin -, "ich weiß, Therapeut und Künstler in spe und einem."
Die Summe der Verlagsüberweisung nenne ich ihr nicht, sonst schickt sie gar ein Kommando ausgebeuteter Volksgenossen. Noch am selben Tag nennt Maria eine Psychiaterin als Vermieterin, und ich buche den Flug. Kurze Zeit später erklärt mir jene, die ihr Haus renovierende Subfirma sei abgehauen, sie habe aber für mich "das Studio" einer gewissen Federica aufgetrieben. Nahe den Vatikanischen Museen - "deine Freundin erzählte, du bist ein religiöser Künstler". "Ein Arschviertel", sagt Maria hingegen, "du wohnst in der via Mario Fani."
Wenn ich sehr nervös bin, greife ich auf alte Krautzigaretten zurück und rauche mich in möglichst farblose Zukunftsbilder, was nun nicht gelingen will, da Marias Schilderung des Bezirks nachhallt, wo dieser seltsame Finanzgeber stecken soll. Das dörfliche Viertel San Lorenzo, das Maria mit der Postleitzahl der Verlagsbuchhandlung Cecche assoziiert, erstreckt sich über enge Gassen rund um die Piazza dell'Immacolata, begrenzt von den Ausläufern des römischen Hauptbahnhofs und des Universitätscampus. Wegen seiner Nähe zum Güterbahnhof Tiburtina, den die Faschisten für ihre Judenausweisungen benutzten, wurde das Viertel im Juli 1943 von alliierten Bomben ausradiert. Die Ende des achtzehnten Jahrhunderts für die massenhaft in die neue Kapitale geströmten Eisenbahner und Arbeiter errichteten Wohnstätten wurden zerstört, ein Monat später Rom für befreit erklärt - "unserer Befreiungsorganisation hingegen hat der Innenminister im Oktober 1977 den Sitz geschlossen". Noch heute stehe das seit 30 Jahren autonom sendende Radio Onda Rossa unter Polizeiüberwachung, erzählte Maria im selben Atemzug.

1

Den Koffer vom Band gehievt, rufe ich jenen Anonymus an, der mir Federicas Schlüssel vor ihrem "Studio" übergeben soll. Nach der Taxifahrt im Gewitterdräuen stehe ich vor einem Bärtigen, der mir die Schlüssel der "CASA SUPERBIA" erklärt und gleich fort ist. Der kleinste der drei Schlüssel öffnet das Portal zur Wohnanlage in Schachtelbauweise. Ein innen mit Bleistift beschriftetes Bronzetürschild ("Prof. Micchiò"), die anderen leer, von der Nachbaranlage gräbt sich eine Schildkröte heran zur Betontreppe im Marmorimitat. Blickdichte Holzjalousien. Den Portier hatte man eingespart, sein neben dem Portal befindliches Häuschen dem Psychiater E. verkauft, dessen Freundin es - "das Studio" - mir vermietet.
Das Fenster zum Therapieraum steht offen, ein Insektenschutz ist hinter das Metallgitter gespannt worden, davor die altbekannten roten Ledercouches; die Zimmertemperatur beträgt dreißig Grad. Das in Brokat gerahmte Wandgemälde zeigt Fischerboote ohne Fischer und macht mir Angst. Angst, hier? Also raus, in den Großbürgerbezirk. Die Gehwege säumen violett blühende Bäumchen auf der Straßenseite, Hakenkreuze auf der Häuserseite. "Juden raus" und "Sieg Heil" auf Deutsch. Auf den Bänken der piazza Walter Rossi sitzen philippinische Altenpflegerinnen neben ihren Schützlingen, ein Schnurrbartträger klimpert mit Bierflaschen im Plastiksack über die Kiesfläche.
Ich fahre zur via del Babuino, wo sich die erste Niederlassung der Verlagsbuchhandelskette Feltrinelli befindet und wo der anno 1972 unter einem Strommast im mailändischen Hinterland tot aufgefundene Revolutionsverleger von einer Wand blickt. Ich stelle mich im Laden vor und frage nach der Casa Editrice Cecche. Carlo, einer der damaligen Sargträger, hat noch nie von diesem Verlagshaus gehört. Und wenn es eines ist, das keiner mehr kennt? "Ich bin ein Relikt jener Jahre staatlicher Spannung, Revolution und Repression ... wenn ich deinen Verlag nicht kenne, dann musst du die Kapuziner in der Krypta befragen", echauffiert er sich und durchforstet Verlagsführer, ohne Ergebnis. Vielleicht ist es eine gar nichts publizierende Edition, entgegne ich; das wäre ja anormal, kontert er. Aber apropos Anomalie: "Frag mal Catia von der Buchhandlung Fahrenheit."

2

Mit dem vierten Löskaffee in der Hand schlüpfe ich am späten Morgen in meine Slipper im Freien, mit der anderen fingere ich schon zitternd nach Zigaretten und will - die Tür fällt zu. "Stostupidostronzochesonoio!"
Hitzewallungen, Schweißausbruch, Zittern, Selbstbeschimpfungen. Ein Sonntagmittag im wegen Ferragosto entleerten Rom, keine Stimmen aus den Fenstern, und ich: in Hose und Slippern, ohne Shirt, mit Zigaretten und Feuerzeug im Vorhof der Wohnung. Geld, Pass und Telefon sind eingesperrt.
Ich läute an der Hausanlage, beginne zu rufen, aber nichts. Nach anderthalb Stunden öffnet sich das obere Eingangsportal, ein alter Mann klappert die Stiegen herab. Ich stürze auf ihn zu - meine Schilderung erweicht ihn. Er nimmt mich in seine Wohnung, wo ich im Salon Platz nehmen darf, während er mit Polizei und Feuerwehr telefoniert. Die sich für nicht zuständig erklären, nur in Anwesenheit des Wohnungseigentümers würden sie öffnen, dessen Namen ich aber nicht kenne. Ich bitte ihn, im Telefonbuch nach Schlossern zu suchen; keiner arbeite am Sonntag, sagt Professor Micchiò, "und außerdem" - so versucht er das Wort ILLEGAL zu umschreiben. Er sitzt in seinem Lehnstuhl vor einer riesigen Korkwand mit aufgenagelten Briefseiten voller Namen, einer Telefonanlage mit zwei Hörern und kramt in seiner Tischlade, während ich in diesem Bürosalon die Fotos des achtzigjährigen Herrn Seite an Seite mit Amintore Fanfani, Giulio Andreotti und Aldo Moro überfliege. Sichtlich bezweifelt er die Wahrheit meiner dümmlichen Lage und hüstelt in sein mit Namen besticktes Stofftaschentuch:
"Was sind Sie eigentlich von Beruf" - Krankenpädagoge mit einem Forschungsauftrag für Altendidaktik seitens des österreichischen Gesundheitsministeriums, eruptiert mein Lügenhirnzentrum. "Aber die werden doch eine Botschaft haben", flüstert er, als ob in einem der anderen Räume jemand schläft. Eine Botschaft? Unter der Notfallnummer erreiche ich einen Kärntner, der nach einigem Hinundhertelefonieren mitteilt, dass die Feuerwehr nur bei Bestehen eines Mietvertrags die Tür öffnen würde. Telepathisch spürt auch er die ansteigende Unsicherheit des Professors. Er werde nun etwas in die Wege leiten, was nicht billig ist, und zusehen dürfe ich nicht. Micchiò kramt derweilen in einer braunledernen Aktentasche, zieht sich sein rotes Poloshirt aus und gibt es mir, denn "nackt sind nur die Barbaren". Dann schlurft er nach nebenan. Ich sitze da und versuche meine Tränen mit Blick auf die durchgekreuzten Micchiò-Andreotti-Fotografien zum Versiegen zu bringen. Nach zwei ungerauchten Zigaretten läutet es an der Tür. Ich warte, ob der Professor öffnet, und gehe dann zur Tür, da ich keine Bewegung in der Wohnung vernehme.
"Bist du Österreicher?", fragt ein Ziegenbart, und ich bejahe. Er reicht mir meine Geldbörse, die zuvor in der nun anscheinend offenen Wohnung lag, und nennt eine hohe Summe, die ich ihm aushändige. Das war's, mein unbesehenes Rom ist versiegelt. Eine der Dutzend Wanduhren zwischen den Moro-Micchiò-Fotografien mahnt mich zur Eile, der Abendzug nach Wien fährt in zwei Stunden. Zur Vorsicht lasse ich die Tür angelehnt, renne in meine bloß einmal beschlafene Bleibe und schnappe mir meinen ungeöffneten Schalenkoffer. Anstelle der Tränen kocht Wut, während ich zurück in der professoralen Wohnung nach Micchiò suche, der verschwunden ist. Bloß sein Stofftaschentuch auf der braunen Aktentasche erinnert an unsere Begegnung. Darunter kommt inmitten aberdutzender Dokumente ein aus der Tasche ragender Brief zum Vorschein: "Mein lieber Sekretär", steht am Beginn eines geschwärzten Dossiers, am Ende ein einfaches "Aldo". - Ich werde nicht abreisen.

(...)