Thomas Glatz
(Auszüge)
(...)
Gestern sind wir spät nachts hier in Bhuj - einer Stadt zwischen
Bhujidungar und Hmisarsee im äußersten Zipfel Gujarats
- angekommen. Bhuj, die ehemalige Hauptstadt des Prinzentums Kutch,
liegt ungefähr 369 km von Ahmedabad entfernt. In Gandhidam
mussten wir nach fünfzehnstündiger Fahrt umsteigen und
in einen schmutziggrünen, rüttelnden, staubigen Kleinbus
einsteigen. Kaum waren wir aus dem Ort abgefahren, begann es zu
regnen und hörte nicht mehr auf. Nachts um zwei standen wir
knöcheltief im Regenwasser einer engen Gasse, und es gelang
uns erst nach einer geschlagenen halben Stunde und nur mit Hilfe
eines Taxifahrers und einiger Anwohner, den auf einer Matte am
Boden schlafenden Hotelboy durch lautes Zurufen aus seinem Tiefschlaf
zu reißen und ihn dazu zu bringen, das Sperrgitter des Hoteleingangs
hochzuziehen und uns Obdach zu gewähren. Den ganzen Vormittag
ist es nun schon trüb und regnicht. Der Himmel wie gemalt.
Wie ein von Arnulf Rainer expressiv übermaltes schwarzes
Malewitsch-Quadrat. Es regnet Bindfäden. Was für ein
Tag.
Von einem Kunstkartendruck an der Wand starrt mich eine mit einem
Wollknäuel spielende Katze an. Sie schaut mich mit ihrem
unergründlich durchdringenden Katzenblick so an, wie einen
eine echte Katze im normalen Leben ansieht. Die Kunstdruckkartenkatze
hat ein weißes Fell und schwarze Ohren. Ich will heute nicht
vor die Hoteltüre gehen. Meine festen Schuhe sind noch nass
und klamm, und meine Sandalen sind mir in "M. früher
B." geklaut worden. Eine. Oder ich habe sie verloren. Gleich
am ersten Tag unserer Reise. Die andere Sandale habe ich dann
weggeworfen.
Als Oliver vor ein paar Jahren in Indien war, hat er sich eine
Geheimsprache ausgedacht, um sich mit seiner Reisegefährtin
Bettina zu verständigen. Er behauptet, sobald man ein deutsches
Wort - z. B. "Taxi" oder "Kamelsafari" - sagt,
kämen ein halbes Dutzend indischer Schlepper, die einen zu
einem Taxi bringen oder jemanden kennen würden, der jemanden
kennen würde, der im Kameltouristenausflugsgeschäft
tätig sei. Das Deutsche sei dem Englischen zu ähnlich,
und viele Inder seien sprachbegabt und geschäftstüchtig.
Man könne sich nicht in Ruhe auf Deutsch unterhalten, ohne
dass ein Inder mithöre und einem gleich etwas aufschwatzen
wolle. "M. früher B." ist eine Vokabel aus dieser
selbsterfundenen Geheimsprache und meint "das vor kurzem
von den Indern in Mumbay umbenannte Bombay". Die Vokabeln
"Höckertierausflug" für "Kamelsafari",
"dreirädrige Kraftdroschke" für "Riksha-Taxi",
"Rechnernetzgaststube" für "Internetcafé"
und "der Einsame" bzw. "der einsame Planet"
für den Reiseführer "Lonely Planet" kamen
bisher nicht über meine Lippen. Aber "M. früher
B." (sprich: "Emm Punkt früher Beh Punkt")
sage ich häufig.
(...)
Die deutschen Touristen erkennt man an den vieltaschigen Reisewesten
und den Schuhen. Das hat mir einmal ein neuseeländischer
Traveller im Vertrauen erzählt. Deutsche Touristen tragen
immer Birkenstocksandalen mit weißen Tennissocken! Ich bin
schon fast ein Inder mit meinen mausgrauen Flipflops. Während
die ganze arabische Welt über die Saudis witzelt, weil dort
alle Männer nur Ledersandalen tragen, läuft ganz Südostasien
in Flipflops herum. Selbst die Bergvölker in Nordthailand,
die Meo, die Karen, die Akha laufen in Flipfops durch den Dschungel
und steigen in Flipflops auf ihren Bergen herum. Auch die Bauarbeiter
tragen Flipflops. In buddhistischen Tempeln muss man grundsätzlich
die Schuhe ausziehen, weil man sich mit Leder Buddha nicht nähern
darf. "Buddha mag keine Lederwaren. Für die Lederwarenerzeugung
mussten Tiere sterben", klären einen die Einheimischen
auf. Selbst wer Plastikschuhe trägt, muss die Schuhe ausziehen.
Man pilgert dann barfuß zu verwilderten, halbverfallenen
historischen Stupas, durchs Gestrüpp, über verwitterte
Steinwege, wo Schlangen, Skorpione, Brennnesseln, Disteln, Glasscherben,
Fußpilz und alles Mögliche lauern. Aber so ist das.
Andere Länder, andere Sitten. Da fotograferen die barfüßigen
Touristen dann die barfüßigen Einheimischen, die um
einen Brunnen stehen und den acht Marmorbuddhas im Brunnenbecken
Wasser auf den Kopf gießen und Fürbitten beten. Sehr
andachtsvoll ist das. Dem Montagsbuddha eine Kelle über den
Kopp, dem Dienstagsbuddha, den zwei Mittwochsbuddhas, dem Donnerstags-,
dem Freitags-, dem Sonnabend- und dem Sonntagsbuddha. Bei einer
Achttagewoche gibt es logischerweise zwei Mittwoche, den Mittwochvormittag
und den Mittwochnachmittag. Die Mittwoche werden von Elefanten
symbolisiert, einem Elefanten mit und einem ohne Stoßzähne.
Arbeitselefanten haben Mittwochnachmittag frei. An jedem Tempeleingang
steht jemand, der die Flipflops der Gläubigen und die Birkenstocksandalen
der Deutschen in Verwahrung nimmt, in kleine Schuhschränkchen
am Tempeleingang stellt und "shoe money" verlangt.
Genug von Schuhen! Genug von Mittwochselefanten! Der Leser mag
mich verfluchen, weil ich ungebührlich ins Blaue hineinschwatze.
Wir tauschen also in der Bank unsere Reiseschecks und bekommen
ein großes, mit einer Klammer zusammengeheftetes Bündel
Geld und ein paar kleine Scheine. Die kleinen Rupiennoten haben
vom vielen Zusammenklammern schon ein riesiges Loch in der Mitte.
Es gibt sogar Rupienscheine, deren Loch in der Mitte so groß
ist, dass zwei Fitzelchen der Banknote in einer durchsichtigen
Plastiktüte als Zahlungsmittel dienen.
(...)
Vermutlich ist der ältere bebrillte Herr mit schlohweißem
Haar, der im kleinen Vorraum des Palast-Museums sitzt, Herr Jethi.
Er sieht sich Gujarati-TV an und schaltet, als wir kommen, den
Ton aus. Gegen den Raummuffel hat er Räucherstäbchen
angezündet. "Are you Mr. Jethi?", fragen wir.
"Yes, I am. Herr Jethi begrüßt uns mit einem
kräftigen Händedruck und einem freundlichen Redeschwall.
Er sei Professor für Medizin an der hiesigen Krantiguru Shyamji
Krishna Verma Kachchh Universität gewesen. Mittlerweile sei
er Rentner, arbeite ehrenamtlich im Aina Mahal in der Tourist
Info und setze sich vor allem für das Wohl der Blinden in
Gujarat ein. Ob wir nicht Lust haben, morgen auf eine Benefiz-Gala
des hiesigen Blindenbundes im alten Rathaus zu kommen? Es werde
bestimmt ein toller Abend. Ein großes Fest mit Musik und
Volkstänzen. Der berühmte "Gipsy, the blind magician",
der einzige blinde Zauberer der Welt, werde auftreten und Zaubertricks
aufführen. Auf der Visitenkarte des weißhaarigen Herrn
P. J. Jethi stehen unter seinem Namen Dutzende akademische Titel:
"B.Sc. Sanitary Eng.; M.Sc. Parasitology; Ph.D. Psy; Dip.In
Drugless Therapy; Dr. Of Physical Therapy; Dr. Of Medical Toxicology."
Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob "B.Sc. Sanitary Engineering"
nicht "Klempner" bedeute. Oder heißt "Klempner"
doch "plumber"? Scheint jedenfalls ein schlauer Mann
zu sein, dieser Herr Jethi, der jetzt Ort und Uhrzeit der Blindenbenefizgala
auf die Rückseite seiner Visitenkarte schreibt und sie uns
überreicht. "If there has been no monsoon, the picturesque
Hmisar lake remains dry", sagt Herr Jethi. "You are
very lucky, my friends." Er sieht uns über den Rand
seiner dicken Brille freudig an.
(...)
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